FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1993 » No. 480
Peter Rüedi

Die Moderne und das Modernde
oder Musik, die ans Hirn rührt

Zur Diskussion über die Voraussetzungen der Improvisation

Franz Koglmann ist ein nachdenklicher Musiker und ein Musiker, der nachdenkt. Daß er die Reflexion über Musik als für den Musiker selbst unerläßlich erachtet, zumindest für den Typus, dem er sich selbst zuzählt, führt gelegentlich zu grotesken Mißverständissen — auf einem Feld, auf dem ohnehin unzählige Polarisierungen die Vielseitigkeit des Phänomens Musik verstellen: schwarz-weiß, E und U, Cool und Hot, und eben halt auch Kopf und Bauch. In der jüngeren Auseinandersetzung um »Jazz« (zwischen wievielen Anführungszeichen auch immer) ist, zum Beispiel, die Erkenntnis noch nicht zu den »Vitalisten« durchgedrungen, daß der Orgasmus im Kopf stattfindet und somit das Hirn das eigentliche Geschlechtsorgan des Menschen ist. Anderseits verkennen die »Rationalisten«, daß nicht nur die Echtheit des Gefühls von der Klarheit der Idee abhängt, sondern auch umgekehrt die Klarheit der Idee von der Echtheit des Gefühls.

Womit wir bei Franz Koglmanns Saalfeldner Referat wären (FORVM 473-477), das sich ja durch die Antwort von Peter Niklas Wilson (FORVM 478/479) schon zu einer Art Debatte erweitert hat. Zwei Punkte bestimmen eine Richtung, einer hegelianischen Synthese bin ich nicht gewachsen und dem Sprung in die dritte Dimension nur bedingt: Nur in der ließe sich anders über die Sache weiterdenken als in der Verlängerung der vorgegebenen Marschroute. Es sei immerhin versucht, wissend, wo Aufschwünge in die dritte Dimension meist enden: im Absturz.

Koglmann, wollte ich sagen, ist ein reflektierender Musiker. Ihn selbst führt die Nachdenklichkeit gelegentlich zu einer melancholischen Sicht der obwaltenden Verhältnisse, gelegentlich aber auch zu einem etwas angestrengten Bildungsuniversalismus, der alles mit allem zusammenzwingt. Schlaf Schlemmer, schlaf Magritte, ihr ruht im Schutz des Nachgeborenen. So sehr mir die Erlebnis-, die Biographiekomponente in Koglmanns Argumentation einleuchtet (einer mit einer wienerischen Herkunft muß einen anderen Zugang zur improvisierten Musik haben als einer, dessen Großvater die Funerals durch die Straßen von New Orleans geleitete), so sehr irritiert mich sein Kunstanspruch als vorsätzlich und artifiziell: die Ausstattung des Kosmos Koglmann mit den Hausgöttern der zweiten Wiener Schule zum Beispiel. Dieser behauptete Raum der reinen konstruktiven Moderne ist eine Art Klassizismus, gegen den Koglmanns Musik, zum Glück, ohne Unterlaß verstößt, wie etwa auch gegen das Ideal der Distanz zum Rezipienten. Sie mag Intimität nicht beabsichtigen oder sie sogar fliehen, aber sie ist, ihrer Wirkung nach, unter anderem auch intim. Koglmann lesend (nicht ihn hörend!), scheint mir, er halte Intimität grundsätzlich für eine pornographische Vokabel (was sie ja, zumal in den Zusammensetzungen, auch geworden ist). Seine Musik rührt mir an’s Hirn, dagegen kann er machen, was er will.

»Dem Verstand war’s hurenhaft, dem Gefühl gigantisch«, heißt es irgendwo bei Robert Walser über eine Theateraufführung, und wir sind mitten im Thema. Koglmann attackiert die vitalistischen Klischees in der Diskussion über Improvisation und Jazz, Wilson bezichtigt ihn, seinerseits in solche zu verfallen. Mir scheint der ganze Ritt gegen das Klischee an sich etwas donquijotesk — ein moderner Puritanismus im einen, ein postmoderner im andern Fall (welch letzteres ein Widerspruch in sich wäre). In Wahrheit liebt der Jazz (lassen wir die Anführungszeichen, daß das ein Un-Begriff ist, wissen wir nachgerade, allenfalls ein In-Begriff) wie übrigens vieles von Beethoven den mal fahlen, mal fiebrigen Glanz des Trivialen. Es ist gut, daß Koglmann die Frage nach den Voraussetzungen improvisierter Musik mal wieder gestellt hat. Im Grunde ist sie so alt und banal wie der Energiesatz, der auf bayerisch bekanntlich »von nix kommt nix« heißt. Daß Kunst nur aus dem steten Kampf um die Vermeidung von Klischees entsteht, ist eine sehr abendländische Auffassung. Sie bestimmt die ganze ästhetische Diskussion der Moderne (und in adjecto z.T. auch die Postmoderne), aber über das Postulat des Originellen und des Originalen (ein eigenes weites Feld) auch die des Jazz.

Wo dieser als improvisierte Musik Kunst ist, ist er es trotzdem. Die Kunst unterläuft ihm, könnten wir sagen. Er ist die Kunst des Beiläufigen, oder genauer (wenn auch in zweifelhaftem Deutsch): die Kunst der Verbeiläufigung. Er ist Kunst nicht trotz, sondern durch die Klischees, was meint mit dem Mittel der Klischees, aber auch in der Transzendierung der Klischees, durch die Klischees hindurch, indem der Improvisator sich das Klischee (das aus dem Fundus der eigenen und der vorliegenden Empfindungen) anverwandelt. Der Jazz zeichnet sich eben dadurch aus, daß er die Berührungsängste, das Reinheitsstreben, die Waschzwänge der Moderne nicht kennt, daß er sich mit allen angrenzenden Bereichen auf das Hurenhafteste einläßt.

Der »niegehörte Klang« ist in einem negativen Vorgang zu planen, durch Ausschluß aller gehörten Klänge. Absolut gesetzt, ist er ein komposotorisches Ideal. Dem Improvisator unterläuft er allenfalls, ebenso wie die geronnenen Partikel seiner eigenen Geschichte, die von der Geschichte der Musik nicht zu trennen ist, in der er schwimmt (und die durch ihn hindurchgeflossen ist). Gewiß hat sich der Revolutionsanspruch aus den Sturm-und-Drang-Jahren des Free Jazz erschöpft, ebenso gewiß hatten dessen bedeutendste Exponenten damals schon mehr Kontinuität im Sinn als ihnen das Publikum glauben wollte. Das »Zusammenstoßen unerwarteter Ebenen« zum »essentiellen Geflecht, zum präzisen Schittpunkt persönlicher Erfahrungen«, das war doch immer ein Zentrum des Jazz, und war auch immer der Zusammenprall des Erfinders mit dem kollektiven Bewußten und Unbewußten, geronnen in den Klischees in ihm und um ihn herum.

Ich versage mir hier einen kleinen Versuch über den Schmutz, die vermischten Verhältnisse, die Trübungen, die unreinen Zustände, die dirtyness im Jazz. Natürlich zeigte sich von Anfang an eine Neigung zu »euro-amerikanischer Kunstmusik« — weil die, über die Trivialformen der Marsch- und Salon-Musik der Jahrzehnte vor und um die Jahrhundertwende, eine seiner Quellen war. Und selbstverständlich wurde im Lauf dieser Musik (von der auch ich mich frage, ob sie als lebendiges Phänomen das Jahrhundert überleben wird, das sie geboren hat) ein Innovationskult betrieben, dem auch die größten Improvisatoren nicht gewachsen waren. Der Begriff des Innovativen wird mir überhaupt zusehends verdächtiger, jedenfalls müssen wir uns eingestehen, daß er nicht notwendig etwas aussagt über den Rang einer Musik (im Sinne der musikhistorischen Innovation war Bach kein innovativer Musiker, und Mozart auch nicht). Das heißt nicht, sich einem Historismus einerseits oder dem »Trivialisierungsdruck« anderseits zu ergeben, könnte indes den Kunstanspruch etwas relativieren. Den hat nicht nur, aber auch Koglmann an seine Musik. Sie ist zwar Konstruktion, Artefakt, Komposition, wie auch immer; aber sie ist auch mehr durch Emotion und Expression bestimmt als er selbst das wohl wahrhaben will. (Auch das Pathos des Understatements ist eines, wir brauchen dabei nicht einmal nur an die Prosa von Hemingway zu denken.)

Wie auch nicht. Wenn wir Werte wie Emotion und Expression auf der Suche nach Saties statischem Ideal des »blanc et immobile« in den Puff verweisen (und sei es der von Genets »Balcon«), kapitulieren wir vor der Wirklichkeit. Der mangelt es doch wohl nicht an Künstlichkeit (um nicht zu sagen Kunst), wohl aber an der Zulassung von Gefühlen und der Möglichkeit, sie umzusetzen, also auszudrücken. Wenn Koglmann davon spricht, daß »dem Trivialisierungsdruck« »heute auch anspruchsvollste Musikformen ausgesetzt sind«, könnte eine Konsequenz auch sein: Wenn Anspruch keine Rettung verheißt, suchen wir diese in einem anderen Umgang mit dem Trivialen. Der Begriff der »Doppelkodierung«, den Charles Jenck übernimmt, ist viel neuer als die Sache, die er meint. Alle Kunst, die diesen Namen verdient, ist auf mehreren Ebenen les-, hör-, sicht- und interpretierbar — sonst ist sie Fortsetzung der Didaktik mit anderen Mitteln.

Beschäftigt mit einer sich hinziehenden Arbeit über Friedrich Dürrenmatt, kommen mir die Überlegungen in den Sinn, die der über den Umgang der Kunst mit dem Trivialen schon 1954 angestellt hatte. Seinen Aufsatz »Theaterprobleme« schließt der grundsätzlich gegen den Kunstanspruch der Adenauerzeit wütende Schweizer so: »Die Forderungen, welche die Ästhetik an den Künstler stellt, steigern sich von Tag zu Tag, alles ist nur noch auf das Vollkommene aus, die Perfektion wird von ihm verlangt, die man in die Klassiker hineininterpretiert — ein vermeintlicher Rückschritt, und schon läßt man ihn fallen. So wird ein Klima erzeugt, in welchem sich nur noch Literatur studieren, aber nicht mehr machen läßt. Wie besteht der Künstler in einer Welt der Bildung, der Alphabeten? Eine Frage, die mich bedrückt, auf die ich keine Antwort weiß. Vielleicht am besten, indem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo niemand sie vermutet. Die Literatur muß so leicht werden, daß sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nichts mehr wiegt: Nur so wird sie wieder gewichtig.« Läßt sich das Prinzip der »Doppelkodierung« besser illustrieren?

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1993
, Seite 66
Autor/inn/en:

Peter Rüedi:

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