FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1990 » No. 433-435
Ilse Bindseil

Die Medien und ihr Auftrag*

Zum Jahreswechsel 89/90 haben die „Ereignisse im Osten“ ihren Begriff gefunden: um „gewaltlose Revolutionen“ handelt es sich.

Noch nie haben Massen sich so friedlich und diszipliniert verhalten. Wo noch vor kurzer Zeit totalitäre Regimes Akklamationsaufmärsche befahlen, da versammeln sich heute Millionen — und ohne daß sie jemand hinbestellt hätte. Man sieht es übrigens, bedeutet man uns im Fernsehen, an der entspannten Haltung: Noch nie war der Militarismus so weit!

So als handelte es sich um einen Guy-Fawkes-Day eigener Art, wird in Gestalt des irrlichternden, komödiantischen, bei Charlie Chaplin eher als bei Hitler in die Lehre gegangenen Diktators Rumäniens und seiner nicht weniger komödiantischen Frau die Strohpuppe des Faschismus feierlich entflammt, und mit einem erhabenen Knistern geht die Diktatur zugrunde. Was an diesem Marionettentheater von unbehaglicher Hast und Eile ist und auf eine fortdauernde Bedrohung durch den Faschismus deutet, das wird durch den Hinweis auf die schießwütigen Sondertruppen Ceaușescus oder, für konspirative Geister, auf den sattsam bekannten Terrorismus Lybiens und Palästinas zugleich benannt und gebannt.

Es ist zu schön, um wahr zu sein: Was das Sprichwort an unbehaglichem Doppelsinn enthält, das bringt das Fernsehen mit gnadenloser Schärfe an den Tag. Wie sich die Bilder gleichen: das ist seine Devise. Da sind etwa die Millionen auf dem Wenzelsplatz. Nicht nur erinnert man sich an die internen Feiern des „kommunistischen Apparats“, die das westliche Fernsehen ja wenig dokumentiert hat, viel mehr noch beispielsweise an die Millionen auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Was mit denen vor noch gar nicht so langer Zeit geschah, macht unmißverständlich klar, daß die massenhafte Existenz von Zivilcourage durchaus keine Prognose und also auch keinen Schluß auf die objektiv zivile, gewaltfreie oder Gewaltfreiheit rechtfertigende Natur der allgemeinen politischen Umstände erlaubt.

Vielleicht ist es der bürgerliche, auf qualifizierte Verbesserung der Lebensumstände, nicht auf „alles“ zielende, mit „Handelsfreiheit“ im frühbürgerlichen Sinn zutreffender als mit „Egalität“ im frühkommunistischen Sinn umschriebene Charakter dieses massenhaften Protests, der ihn zugleich unwiderstehlich macht und fundamental gefährdet erscheinen läßt; ist es doch bei aller Massenhaftigkeit ein partieller Wille, der zum Ausdruck kommt. Das äußert sich nicht nur darin, daß er sich notfalls einschüchtern läßt, vielmehr daß diese Einschüchterung — wie im Fall Chinas — immer noch von einer Instanz ausgeht, die sich keineswegs nur auf „Panzer“, sondern auf real vorhandene antibürgerliche Kräfte und auf Egalität und Zentralismus dringende ökonomische und gesellschaftliche Probleme berufen kann. Wo diese Instanz wie jüngst im Fall Rumäniens sich als eine jeder Egalıtät bare — bzw. Egalität nur als die Gleichheit einer zur Geheimarmee avançierten Waisenhaus-SS realisierende — feudale Clique entpuppt, handelt es sich zunächst um nichts anderes als um die bloße Ausführung der Tatsache, daß ihre Legitimation sich offensichtlich erschöpft hat. Wenn Einschüchterungsfähigkeit zugleich das ist, was ihr als Letztes bleibt — so daß Ceaușescu und seine Frau in höllischem Tempo der Prozeß gemacht und zugleich auf konspirative Fremdeinflüsse von seiten der PLO und Lybiens verwiesen werden muß —, so deutet dies bereits auf den nun freilich chronischen Legitimationsnotstand der neuen bürgerlichen Kräfte, die ans Ruder wollen. Die wollen ja längst nicht mehr im geschichtsphilosophisch emphatischen Sinn des Wortes herrschen — schließlich schreiben wir das Ende des 20. Jahrhunderts und nicht das 18. — sondern lediglich eine „vernünftige“ Marktwirtschaft etablieren, und entsprechend können sie auch nicht zu Mitteln einer massiven, wiewohl legitimen Gegeneinschüchterung greifen: Ceaușescu und seine Frau werden sozusagen noch nach altem Rezept liquidiert, nicht nach neuem, und nur konsequent ist es, wenn er sich zur Selbstentzifferung der ihm drohenden Liquidation ebenfalls auf konspirative Fremdeinflüsse beruft. Wenn Rumänien jedoch von der vermeintlich sicheren Warte der gestandenen westlichen Demokratien — vor allem von ihrem ideologischen Aushängeschild amnesty international — ein solches halbwegs klammheimliches und zumindest wenig selbstbewußtes Verfahren zum Vorwurf gemacht wird, so ist das zwar einerseits verständlich; schließlich fällt ein Schatten auch auf das Funktionsprinzip der westlichen Demokratien. Andererseits geht der Vorwurf an der Problematik der ehemaligen sozialistischen Volksdemokratien vorbei, die ja nicht mehr und nicht weniger beinhaltet als ein veritables Paradox: nämlich die revolutionäre Herbeiführung eines alles andere als Egalität verheißenden Ziels! Zwar wird der mit revolutionärem Elan angestrebte Markt — und diesen Elan braucht es immer, wenn eine despotische Clique gestürzt werden soll — die Egalität der Ware-Geld-Relation herstellen, aber zugleich auch die Inegalität unter den Menschen befördern. Unter diesen wenig revolutionären, ja konterrevolutionären Auspizien auf einem umständlichen und geordneten, breitesten gesellschaftlichen Konsens bzw. eine umfängliche gesellschaftliche Resignation und Lähmung voraussetzenden, hochbürokratischen Prozeß gegen die Anführer der alten Clique zu bestehen, unterstellt Rumänien im Grunde die gleichen Verhältnisse wie im Westen, inclusive die Überschätzung der 3. Gewalt, wie sie für pluralistische Demokratien so charakteristisch ist.

Die zugleich faszinierende und ein wenig ängstlich stimmende Friedfertigkeit der neuen Massen im alten Ostblock scheint also nicht zuletzt ein Reflex ihrer mangelnden Legitimation bzw. ein unbewußtes Eingeständnis der immanenten Gewalt der von ihnen mit heroischer Zivilcourage und quasi als ein politisch hehres Ziel verfolgten Marktgesellschaft zu sein. Dazu paßt trotz des gegenteiligen Anscheins ganz gut, daß die friedfertigen Massen, da sie ja über keine Gewalt verfügen bzw. diese nicht gebrauchen, sich anscheinend auf nichts als auf ihre Legitimation berufen können, und diese Legitimation ist es schließlich, was sie zu einem ungeheuren Faszinosum für die westlichen Gesellschaften bzw. für die sie anleitenden und dirigierenden westlichen Medien macht. Im Klartext gesprochen: Die Haltung, die sich an der traditionellen Debatte um legitime Gewalt vorbei auf Legitimation statt auf Gewalt beruft — wissend im übrigen und dies durch Entspanntheit mehr noch als durch Friedfertigkeit dokumentierend, daß ihre Legitimation unwiderstehlicher ist als jedwede Gewalt —, beruft sich auf die Macht der Verhältnisse, und sie beruft sich auf sie wie auf eine durch die schwerkräftigen Verhältnisse nicht zu korrumpierende, reine Idee! Aber es ist nicht die Legitimation der Marktgesellschaft allein — von der wir ja dachten, daß sie längst nur noch hinzunehmen und nicht mehr zu legitimieren sei —, was die Ereignisse im Osten für den Westen faszinierend macht. Es ist auch das lutherische „Hier stehe ich und kann nicht anders“, und das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Reinkarnation des bürgerlichen Subjekts. Dieses wirft sich nicht nur allem Geunke von der Mediengesellschaft, der Televisionsgesellschaft, tatfreudig in die Bresche. Es bekennt sich auch ganz unbefangen zur Massengesellschaft und gibt sich damit als der legitime Nachfolger des ephemer gewordenen Proletariats zu erkennen. Massenhaft geht der Bürger auf die Straße, ohne dabei zur reinen Nummer, Stimme, Zahl, zu Fußvolk oder Stimmvieh zu verkümmern, und beharrt auf seiner bürgerlichen Existenz, als wenn dies das Selbstverständlichste von der Welt wäre; er nimmt die volle Wirklichkeit für sich in Anspruch. Mal ehrlich: Wer hier im Westen hätte dem bürgerlichen Subjekt soviel Funktionsfähigkeit und -lust noch zugetraut?

Aber die Frage ist ein wenig scheinheilig; denn die Techniken des Bürgerprotests — und nicht nur die Ziele! — sind von hier, oder sie sind hier mindestens ebensogut bekannt wie drüben. Alte 68er mögen sich gerade im Blick auf das Verhältnis von Zielen und Techniken zu einer Besinnung auf die eingewurzelte Bürgerlichkeit der Studentenbewegung aufgefordert fühlen, die diese Techniken gebündelt und in ein reines bürgerliches Instrument umgewandelt hat. Für weniger Geschichtsbewußte reicht es, nicht zu vergessen, daß das, was im Osten passiert und vom Westen aus zugleich mit offenem Mund verfolgt und mit guten Ratschlägen begleitet wird, nichts anderes ist, als was wir hier vor etwa zehn Jahren als grüne Politik kennengelernt und zunächst entsprechend perhorresziert, sodann ertragen und zuletzt klag- und schadlos integriert, das heißt als das begriffen haben, was sie ist: marktfördernde Krisenbewältigung und damit ebensowohl nämlich in der Neuorganistion von bürgerlich-zivilem und technischem Ingenium — eine Lösung des späten 20. Jahrhunderts wie — was nämlich die Unterwerfung unter das Prinzip der ökonomischen Intensivierung angeht, ein „alter Hut“. Im übrigen haben die Kabarettisten ihre Scherze beispielsweise über die interpretative Behandlung von Demonstrationen, die im Osten stattfinden und solche, die im Westen stattfanden, bereits gemacht, und das Thema ist, wie das bei uns notorisch der Fall ist, bevor es halbwegs in seinem Kern begriffen wurde, ausgereizt.

Entsprechend der internen Vertrautheit mit dem, was drüben passiert, werden die Geschehnisse von hier aus mit gemischten Gefühlen verfolgt. Zu unheimlich — nämlich die westliche Situation verfremdend — ist die Kontamination marktwirtschaftlichen Wollens mit egalitärem Revolutionspathos, als daß man sich nicht — wovor auch immer — fürchten müßte. Oder genauer gesagt — denn diese Kontamination ist uns, seit bürgerliche Bewegungen zum Erscheinungsbild der pluralistischen Demokratien dazugehören, im Grunde ja nicht fremd —: was hierzulande zuerst ein Stachel war und jetzt bestenfalls ein Wahrzeichen ist, „das Alternative“, und zwar in den Randzonen der etablierten Parteien und in der ‚Randzone‘ des Parteienwesens selbst, den Grünen, das ist unser offizieller Bezugspunkt oder, wie man heute zu sagen pflegt, unser Hoffnungsträger drüben. Kein Wunder, daß das Experiment von hier aus mit Engagement und Aufregung, einer geradezu auffälligen Identifikation und nicht ohne ängstliche Erregung beobachtet und kommentiert wird. Haben wir das wirklich gewollt? Wollen wir wirklich, daß die eingeschliffene bürgerliche Aufspaltung von Regierung und Protest, Verwaltung und spontaner Aktion aufgehoben wird? Und was soll das heißen: aufgehoben? Wird es nicht notwendig einen ungeheuren Wasserkopf von Ideologie, ein ungeheures Anwachsen von Worten, Interpretationen, Diskussionen und Rechtfertigungen geben, eine grandiose Verlagerung der Aktion in die Worte, denn die Verwaltungstaten, die marktwirtschaftlichen Taten sind ja vorgezeichnet, da sind der Spontaneität ja die engsten Grenzen gesetzt! Die notorisch Aufrechten im Westen, allen voran Richard von Weizsäcker, reden sich denn auch den Mund fusselig, um mit Beschwörungen und guten Worten wenigstens den Abgrund zuzudecken, der nicht nur ihrer aller Ansicht nach die Alternativen von der Regierungsfähigkeit trennt, sondern auch ihrer genauen Einsicht nach das gemeinsame Pathos von der Wirklichkeit unterscheidet, und vor allem tun es die Medien.

Der entscheidende Unterschied zu hier ist ja nicht das Avançement sektiererischer bürgerlicher Zielvorstellungen zu regierungsfähigen Programmen — dieser Unterschied minimiert sich bei genauerer Betrachtung eben dieser Zielvorstellungen rasch —, sondern das Bewußtsein, das sich damit verknüpft. Und in der Tat ist das Problem so gravierend, daß alle bundesrepublikanischen Medien gemeinsam — oder sagen wir die Medien mit öffentlicher Verantwortung — an der Formierung des DDR-Bewußtseins und an der Vorbereitung des DDR-Bürgers auf den marktwirtschaftlichen Alltag arbeiten und daß zugleich beschwörende Stimmen wie die Weizsäckers den Charakter eines Rufes in der Wüste annehmen und der Eindruck der Desolatheit entsteht. In der blumigen Sprache unserer Medien ausgedrückt: Wie sollen die DDR-Bürger vom hohen Roß ihres Revolutionspathos heruntergehievt werden, ohne daß es zu einem gefährlichen Sturz kommt? — und gefährlicher Sturz, das meint bei uns immer Faschismus.

U.S.S.R., Perestrojka erfolgreich beendet

Nicht, als ob das revolutionäre Pathos etwas mit Revolution zu tun hätte, die nun und auf welche Weise auch immer wahrgemacht werden muß. Aber mit Pathos hat es etwas zu tun, und dieses Pathos ist geborgt. Es lebt vom Befreiungsimpuls, natürlich, aber was beinhaltet der? Befreiung vom Zwang der sozialistischen Planwirtschaft in allen ihren desolaten hochbürokratisierten Erscheinungen? Gewiß; ebensosehr wie die abgrundtiefe Illusion, es handele sich bei der westeuropäischen Marktwirtschaft noch um das ökonomische Modell des Frühliberalismus, humanitär gepaart mit schwedischer Sozialstaatlichkeit, und nicht um das getreue Spiegelbild des sozialistischen Modells, um einen kapitalistischen Staatsdirigismus, der die Initiative „arbeitswilliger“ DDR-Bürger gnadenlos in die eigenen ökonomischen Planspiele einbaut. Wie kommt es aber zu dieser Illusion? Durch den transzendentalen Charakter der Warenwelt, über die man nicht hinaussehen kann, es sei denn, man befände sich mitten darin? Sicherlich; und zugleich durch eine eigentümliche Zweideutigkeit, eine eigentümliche Anleihe bei dem geschichtsphilosophischen Charisma des gestürzten Systems. Das ist zwar ein hochbürokratisches, veraltetes, korruptes System, aber doch ein geschichtsphilosophisch legitimiertes System, eine Perversion alles dessen, was Sozialismus jemals bedeutet hat, aber doch ein auf alles, was er jemals bedeutet hat, in all seinen Rechtfertigungen und Lügengebäuden unabdingbar bezogenes System. Wenn dieses System nun, was längst überfällig war, gestürzt wird, und zwar von einem spontan und basisdemokratisch agierenden, durch und durch modernen, und wenn gegen überhaupt etwas, dann gegen Korruption immunen kollektiven bürgerlichen Subjekt, dann entsteht in der Verquickung von traditioneller Geschichtsphilosophie — sprich: Revolutionsideologie — und schnörkellosem, aber überaus vitalem Warenhunger unvermeidlich der Schein, als sei die Legitimation von jenem überständigen korrupten System auf die neue marktwirtschaftliche Bewegung übergegangen. Ob diese Legitimation schon deshalb auf die neue Bewegung übertragen wird, weil die sich auf eine ökologische Reform des angestrebten Kapitalismus als das, was technologisch ohnehin ansteht, kapriziert; oder ob sie nicht zum Beispiel bloß ein illusionistisch verklärtes Licht auf das wirft, was man im Westen unter Legitimation versteht — den Ausweis nämlich, daß man beauftragter Weise und für möglichst viele spricht, während man nach geschichtsphilosophischem Modell von der Geschichte selbst beauftragt sein muß, und nicht bloß von vielen —, danach wird wenig gefragt, solange nämlich tatsächlich die Gattung sich zu Wort zu melden und die Geschichte selbst zu sprechen scheint. Ist der erhabene Moment vorbei — und niemand weiß genauer als die Medien, daß er vorbeigeht —, und hat sich das revolutionäre Pathos dann nicht in der unvermeidlichen bundesrepublikanischen Weise teils beruhigt und teils entmischt, was dann?

Es muß wohl an den Medien selbst bzw. an ihren idealen Repräsentanten, den liberalen Rednern vom Dienst, liegen, daß die den DDR-Reformbürgern abverlangte Leistung zugleich unverzichtbar und unerreichbar scheint. Da sie selbst wesentlich Ideologen sind, das heißt, von der Verdrängung der das pluralistische System bedingenden materiellen Verhältnisse leben bzw. mit der Umarbeitung und Umwandlung dieser Verhältnisse eben in Ideologie beschäftigt sind, scheinen sie von der irrigen Ansicht auszugehen, die Formierung des DDR-Bewußtseins müßte vor allem eine Bewußtseinsleistung sein. Entsprechend schwer drückt sie die Verantwortung, und des Werbens um Maßhalten, Friedfertigkeit und Geduld — unter gleichzeitiger Beschwichtigung rechtsradikaler Entrüstungen in Ost und West — ist kein Ende. Im wesentlichen sitzen die Medien, die liberalen Politiker eingeschlossen, den eigenen Lügen auf, nach dem Motto: Erst haben wir es ihnen eingeredet, wie reden wir es ihnen jetzt wieder aus? Dabei liegt es auf der Hand, daß nicht die Verwalter, sondern die Bildner des kollektiven Bewußtseins, nämlich die materiellen Verhältnisse, die geforderte Leistung erbringen werden, und ohne daß sich jemand ereifern oder die Anstrengung der Beschwörung und permanenten Einstimmung sich auf seine Schultern laden müßte; indem sie nämlich aus einer Menge hochgestimmter Reformer, je nach dem, tüchtige Unternehmer, fleißige Arbeiter, frustrierte Arbeitslose, rechtsradikale Kleinbürger, Streikbrecher oder was auch immer machen, kurz alle die, die heute noch im verheißungsvollen Niemandsland zwischen Sozialismus und Demokratie sich aufhalten, in den ‚real existierenden‘ Pluralismus eingliedern werden. Und entsprechend wird das ‚korrekte‘ Bewußtsein sich herstellen.

Was indes den Medien und ihren würdigen Vertretern, den Liberalen Beine macht — und zu den letzteren rechne man getrost den Großteil der Grünen hinzu —, was ihnen eine kolossale Bürde aufhalst und sie unter einen Leistungsdruck setzt, der nicht nur aus purer Illusion und Selbstüberschätzung zusammengebraut und der Selbstinszenierung geschuldet sein kann, das ist der latente Totalitarismus, der sich hinter der Aufhebung der Blöcke verbirgt bzw. der der unvermeidliche Schatten, der böse Doppelgänger des heraufziehenden weltweiten Liberalismus ist. Ich erinnere mich einer Kinderangst — es war die kämpferische Zeit, die Blütezeit des Kalten Kriegs —, daß keine politische Situation mir so angsterregend und fatal, so ausgeklügelt gefährlich erschien wie die bestehende: daß die Welt in zwei Blöcke aufgeteilt war, die sich bereits wie Kriegsgegner, mit unschwer erkennbaren Frontlinien, gegenüberstanden. Was heute als Erfüllung einer weltweiten Hoffnung eingetreten ist, die Auflösung eben dieser Blöcke und das Verschwinden der erkennbaren Frontlinien nebst allen utopischen Folgeerscheinungen, was eine weltweite Reduktion der Rüstung betrifft, das muß zugleich als eine Verdoppelung der Gefahr — die durch das Blocksystem im nachhinein vergleichsweise vernünftig gebannt schien — erscheinen; als drohende Instabilität zum Beispiel, das Virulentwerden eines Partikularismus, für den der Vielvölkerstaat Sowjetunion die Beispiele liefert, oder, ungleich diffuser, als eine Vernichtung oder ein Absterben vitaler Hoffnungen. Letzteres ist dabei durchaus problematisch und auf den ersten Blick wenig plausibel. Bedenkt man etwa, wie sehr alles Sozialdemokratisch-Sozialistische im Westen sich traditionell gegen den Staatssozialismus à la DDR abgegrenzt und aus dieser Abgrenzung seine Identität und Existenzberechtigung bezogen hat, dann ist eigentlich nicht zu verstehen, wieso jetzt mit dem Konkurs des DDR-Systems erklärter- und vielbekundetermaßen der Sozialismus selbst in Konkurs geraten sein soll. Oder vielmehr wäre es nicht zu verstehen, wenn der Konkurs des Staatssozialismus eben nicht zugleich der Triumph der Marktwirtschaft wäre.

Was das an wirklicher Vernichtung geschichtlicher Hoffnung und geschichtsphilosophischen „Elans“ bedeutet, kann man sich nicht schlicht genug vor Augen führen, ist die Marktwirtschaft doch nicht — wie die Bewegungen im Osten suggerieren — das Neue, das in seinen Dimensionen erst zu erkunden wäre, sondern — und zwar durchaus — nach allgemeinem Verständnis von Rechts bis Links — die Vernichtung jenes Neuen, das im Staatssozialismus bislang bloß eine wie immer erkennbar korrumpierte und so nie verwirklichte und also von ihm auch nie wirksam in Besitz genommene Existenz behauptet hat. Wenn dieses Neue nun vernichtet wird — und zwar in jener korrumpierten Gestalt, die es möglicherweise als überhaupt obsolet erscheinen lassen mag —, dann passiert etwas, an dessen paradoxer Fassung deutsche Philosophie von Kierkegaard bis Heidegger herumformuliert hat und dessen letzte Konsequenz im deutschen Faschismus Wirklichkeit geworden ist: die herrschende Gegenwart wird ihre eigene Transzendenz; das, was ohnehin ist, wird zur Inkarnation utopischer Hoffnung, revolutionären Bemühens. [*]

Medialer Krisenprospekt
Menetekel

Weniger abstrakt und näher an der allgemeinen, von den Medien verwalteten Furcht formuliert: Wer schützt uns, wenn die Freiheit in die Krise kommt? Das kann sie zwar — da Menschen nie etwas anderes als Freiheit im Auge haben können — ihrer eigenen Definition entsprechend nicht. Trotzdem ist die Furcht da; denn wenn die Freiheit einmal in die Krise kommt, dann tut sie dies nach dem Zusammenbruch des Blocksystems weltweit, und dann ist das, was der Nationalsozialismus als letzte Konsequenz vorgeführt hat, nur ein erster Anfang gewesen. Da sie es einerseits aber wie gesagt ihrer eigenen Definition zufolge nicht kann und zugleich andererseits, wie Liberale und Medien in schönster, wiewohl von Panik untermalter Einhelligkeit dokumentieren, die Furcht davor ungeheuer groß ist, wird es wohl etwas anderes sein, was in die Krise kommen kann: nicht die Freiheit, die so noch nie vorhanden war, sondern der Liberalismus, das marktwirtschaftliche System. Das hat sich gegenüber dem Staatssozialismus zwar als stärker erwiesen — aber was, wenn es sich nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus auf einmal als schwach erweist?

Unter dem veränderten Blickwinkel, eingeordnet nämlich in eine unendliche Tradition von Zuspitzungen, einer krisenförmigen Dynamik seit Bestehen des Kapitalismus überhaupt, bedeutet die Freiheit, der in den sozialistischen Ländern nicht zuletzt mit westlicher Medienhilfe zum Durchbruch verholfen worden ist, vor allem eine Konturierung der Krise, die uns von nun an als ein Menetekel begleiten wird, von den Medien unermüdlich herbeigeredet und gebannt. Der Osten kann sich, wie schon in den ersten Tagen der neuen Zeitrechnung erkennbar wurde, nicht befreien, ohne sich zugleich mit dem Westen zu vereinigen: dieser Prozeß ist in einem radikalen Sinn identisch! Da aber die Befreiung des Ostens unvermeidlich die Totalisierung des westlichen Freiheitssystems bedeutet, ist der universale Charakter der nächsten Krise, die wie gesagt ihre eigene Tradition, ihre eigene unbefangene Zwangsläufigkeit hat, weit mehr als nur ein von Hysterie an die Wand gemaltes Gespenst.

Entsprechend wird sie erahnt und in einer konzertierten Aktion aller ideologischen Kräfte bekämpft. Daß der Kapitalismus der ihm immanenten krisenhaften Dynamik entsprechend niemals siegen kann, daß vielmehr alle geschichtliche Hoffnung auf Sieg welcher Couleur auch immer in eine pragmatische Vermeidung und Minimisierung dieser Krisen investiert werden muß, das weiß heute zwar nicht das Volk — und es wissen auch nicht unbedingt die Politiker —, aber die Medien wissen es, als der eigentliche Staat, das wirkliche Gewissen der Nation, und deshalb sind sie so ängstlich und mahnen so unermüdlich zur Vernunft.

* Die Überschrift variiert den Titel eines Essays von Ulrich Enderwitz, Die Medien und ihre Information. Berlin 1990

[*Diese Definition des Faschismus ausführlicher in den von Enderwitz und mir gemeinsam herausgegebenen Sammelbänden: Notizbuch 4: Faschismus, Literatur und bürgerlicher Staat. Berlin 1981 und „sog“ 3/4, Berlin 1987, sowie in Enderwitz, Die Republik frißt ihre Kinder. Berlin 1986. S.a. meine Alice-Miller-Rezension: Vom harten Faktum zum Medienereignis. In: Fragmente 31, Kassel 1989

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1990
, Seite 48
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Ilse Bindseil:

Geboren 1945. Veröffentlichungen zu Philosophie, Politik, Psychoanalyse. Redakteurin von Ästhetik & Kommunikation.

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