FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1990 » No. 439-441
Gerhard Scheit

Die Demokratie läßt sich scheiden

Allerlei Außenseiter in der österreichischen Literatur von Anzengruber bis Karl Kraus

I.

Anzengruber ist in Verruf geraten seit langem. Wie um seine eigene Dramaturgie auf den Punkt zu bringen, formulierte Ödön von Horváth in der „Gebrauchsanweisung“ zu „Kasimir und Karoline“ — „Das Stück darf nicht also anzengruberisch gespielt werden“. [1] Der Autor des „Pfarrers von Kirchfeld“ und des „Vierten Gebots“ galt Horváth vermutlich als Prototyp jenes „alten Volksstücks“, das er „formal und ethisch“ und „mit vollem Bewußtsein zerstören“ wollte. Und er versuchte dabei sogar die Überlebtheit, den Anachronismus des alten Volksstückes soziologisch zu begründen: Deutschland bestehe, „wie alle übrigen europäischen Staaten, zu neunzig Prozent aus vollendeten oder verhinderten Kleinbürgern, auf alle Fälle aus Kleinbürgern“. [2] Nur scheinbar geht es um ein rein sprachliches oder bloß soziolinguistisches Problem, wenn Horváth konstatiert, daß sich „durch das Kleinbürgertum eine Zersetzung der eigentlichen Dialekte gebildet“ habe, „nämlich durch den Bildungsjargon“ — und daraus folgert: „Um einen Menschen zu schildern, muß ich also den Bildungsjargon sprechen lassen.“ [3]

Bildungsjargon bedeutet bei Horváth , daß die Sprache der Personen nicht mehr in dem Sinne authentisch ist, wie es noch der Dialekt der alten Volkstheaterfiguren war. Deren Sprache — oder genauer: deren Rede — empfinden wir noch als ihre eigene, als die Sprache ihrer sozialen Interessen. In Horváths Dramaturgie ist die Sprache von diesen Interessen entfremdet: sie ist eine entliehene Sprache, die den Individuen ihre eigenen Interessen verstellt und sie damit fremden dienstbar macht. In den Dialogen und Konflikten dieser Dramaturgie stoßen ständig die entfremdete Sprache und die soziale Situation der Personen aufeinander; Dialoge und Konflikte betreiben die „Demaskierung des Bewußtseins“ [4] (Wo bei Horváth aber Jargon und Interessen zusammenfallen — bei den Figuren der herrschenden Klassen — geht seine Dramatik in Satire über.) Der Begriff des Kleinbürgertums bezeichnet in Horváths Dramaturgie darum nichts anderes als diese Entfremdung der Sprache von den sozialen Interessen. [5]

Die Helden des Alt-Wiener Volkstheaters waren freilich schon keine urwüchsigen Dialektmenschen mehr. Sie waren Kleinbürger in einem anderen Sinn. Die Figuren Raimunds und Nestroys sprachen authentisch. Eine — im Sinne Hegels — „aristophanische“ Komik streifte alles von ihnen ab, was nicht zu ihren Interessen und Bedürfnissen gehörte — ohne daß darum schon ihre Identität als Kleinbürger in Frage gestellt wurde wie in Horváths Ironie des Kleinbürgertums. Sie wurden durch die Komik gleichsam zurechtgewiesen: so der Bauer Wurzel als Millionär, so der Schneider Zwirn als Kapitalist. Die Komik des Alt-Wiener Volkstheaters beruhte auf dem kleinen Eigentum der Handwerker und Geschäftsleute. Relativ gleichmäßig verteilt, begründete es den relativ demokratischen Charakter und das Selbstbewußtsein dieses alten Kleinbürgertums, denen sich letztlich die Authentizität seiner Sprache, des Dialekts, verdankt. Diesem alten kleinen Bürgertum, das uns noch heute aus Nestroys Stücken entgegenlacht, waren Liberalismus und Demokratie eins: es akzeptierte nicht die Aufteilung des Individuums in citoyen und bourgeois, die Spaltung der Welt in private und öffentliche, „bürgerliche“ und staatliche Sphäre, die der Liberalismus ins Werk setzte, sobald er von allen demokratischen Geistern verlassen war. Es hielt mit allen seinen Möglichkeiten an der Einheit von citoyen und bourgeois, privatem und öffentlichem Leben fest.

Näher als andere kulturelle Medien stand das Volkstheater in seinen Formen und Inhalten dem Alltagsleben der kleinbürgerlichen Massen. Darin lag einerseits seine demokratische Stärke: die Einheit der Menschen als ökonomische und politische Subjekte der Geschichte; andererseits auch seine Schwächen: die relative Borniertheit dieses auf dem kleinen Eigentum begründeten Alltagslebens. Sie kommt am deutlichsten wohl in der Darstellung der Frauen zum Ausdruck. Wie sie in der Wirklichkeit am kleinen Eigentum nur partizipieren können als vom Eigentümer persönlich abhängige Gattinnen, so nehmen sie auch an der Komik des Volkstheaters in der Regel nur teil als Töchter, Frauen oder Bräute der komischen Hauptfiguren.

II.

Die Expansion des großen Kapitals — euphemistisch Industrialisierung geheißen — verdrängte schließlich auch in der Metropole der Habsburger Monarchie das kleine Eigentum als dominierende Wirtschaftseinheit. Die Mehrzahl der Kleineigentümer wurde proletarisiert. Der letzte Schub der ursprünglichen Akkumulation zerstörte die gesellschaftliche Basis des Alt-Wiener Volkstheaters. Damit schien auch die Einheit von Liberalismus und Demokratie dahin, die — brüchig bereits — der Bewegung von 1848 noch zu ihrem revolutionären, d.h. die Gesellschaft als Ganzes erfassenden Charakter verholfen hatte. Von da an — als genaues Datum könnte man wohl schon den März ’48 angeben — trennte sich im Habsburgerreich der Liberalismus von der Demokratie und wurde zur aparten Leidenschaft des Großbürgertums.

Das zwischen Arbeiterbewegung und Großbürgertum in die Enge geratene Kleinbürgertum selbst blieb in seiner Mehrzahl weder demokratisch, noch wurde es liberal. Am Avançement antisemitischer Politiker wie Schönerer und Lueger zu Führern von Massenparteien zeichnet sich seine ideologische Entwicklung ab.

Seine alten demokratischen Traditionen wurden indessen von einzelnen Intellektuellen — Schriftstellern und Philosophen — bewahrt. Zu diesen letzten Mohikanern der kleinbürgerlichen Demokratie wird man neben den sog. Sozialreformern auch Ludwig Anzengruber zählen müssen. Sein forçierter Gestus der Volksaufklärung und die idealisierend-pädagogische Darstellungsweise in den Stücken sind darum nicht einer ewig währenden josephinischen Tradition geschuldet, sie entspringen vielmehr dieser isolierten gesellschaftlichen Position nach 1848. In Gestus und Gestaltung versucht Anzengruber die alte Einheit von Demokratie und Liberalismus, von petit bourgeois und citoyen gleichsam herbeizubeschwören, und jene Massen für sie zurückzugewinnen, die ihr zuvor noch wie selbstverständlich angehörten.

Anzengruber tut gut daran, seine Dramen und Geschichten im dörflichen Milieu anzusiedeln. Überzeugender als in großstädtischen Verhältnissen kann es ihm dort gelingen, citoyen und (petit) bourgeois in handelnden Figuren noch einmal zu vereinigen. Seine Bauern, Bäuerinnen, Pfarrer, Mägde und Knechte sind allesamt verkleidete Kleinbürger. Am Schluß seines späten Romans „Der Sternsteinhof“ hat sich Anzengruber klarer als sonstwo darüber ausgesprochen. Wie in einem Rückblick auf sein gesamtes Schaffen bezeichnet er es als „künstlerischen Behelf“, das Gewand

für die handelnden Personen aus Loden zuzuschneidern; es geschieht dies nicht in dem einfältigen Glauben, daß dadurch Bauern als Leser zu gewinnen wären, noch in der spekulativen Absicht, einer mehr und mehr in Mode kommenden Richtung zu huldigen, sondern lediglich aus dem Grunde, weil der eingeschränkte Wirkungskreis des ländlichen Lebens die Charaktere weniger in ihrer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit beeinflußt, die Leidenschaften, rückhaltlos sich äußernd oder in nur linkischer Verstellung, verständlicher bleiben und der Aufweis: wie Charaktere unter dem Einfluße der Geschicke werden oder verderben oder sich gegen diesen und sich und andern das Fatum setzen — klarer zu erbringen ist an einem Mechanismus, der gleichsam am Tage liegt, als an einem, den ein doppeltes Gehäuse umschließt und Verschnörkelungen und ein krauses Zifferblatt umgeben. [6]

Als doppeltes Gehäuse mit pseudo-parlamentarischen Verschnörkelungen und journalistischem Zifferblatt — so müssen wohl Anzengruber die politischen Verhältnisse erschienen sein, in denen das liberale Großbürgertum um billige Kompromisse mit dem Neoabsolutismus rang. Der Mechanismus der bürgerlichen Gesellschaft und das Gehäuse der staatlich-politischen Sphäre verweigerten jene Transparenz gesellschaftlicher Prozesse und Konflikte, aus denen der Schriftsteller episches Geschehen und dramatische Konflikte zu entwickeln vermag. In den „Kreuzelschreibern“ etwa ist die Handlung, die den Kampf der kleinen Bauern gegen den Großbauern schildert, in zufälliger und sogar paradoxer Weise mit den damaligen politischen Konflikten in der Habsburger Monarchie — der Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Kirche in den sechziger und siebziger Jahren — verknüpft.

So wendet sich der Großbauer als Altkatholik gegen die Beschlüsse des Vatikanischen Konzils und steht damit aber auf der Seite der Liberalen. Er gewinnt die Bauern durch seine Machtstellung im Dorf dazu, mit drei ‚Kreuzel‘ gegen diese Beschlüsse zu unterschreiben. Die Frauen der Bauern werden wiederum von der Kirche gezwungen, ihre Männer dazu zu bringen, die Unterschrift zurückzunehmen.

Von diesen politischen, d.h. gesamtgesellschaftlichen Fragen aus erscheinen die Bauern und Bäuerinnen „als bloße Spielbälle der Mächtigen, als dummes Stimmvieh, als bewußtlose Machtinstrumente in den Händen der Herrschenden — das allein kann keine Komödie ergeben, das wirkt eher traurig.” [7]

Doch diese Fragen sind nur das Gehäuse, das außerhalb des Stücks zu liegen scheint. In seinem Inneren versucht der Steinklopferhanns mit allen Mitteln die Bauern und Bäuerinnen, Knechte und Mägde in selbstbewußte citoyens und citoyennes zu verwandeln. So haftet diesen Figuren manchmal etwas Unrealistisches an, eine Tendenz zur Idealisierung, die schon Friedrich Engels bei aller Bewunderung für Anzengrubers Stücke moniert hatte.

Andererseits ergibt sich aus der von Anzengruber in Szene gesetzten Umsiedlung des demokratischen Kleinbürgertums ins bäuerlich-ländliche Milieu ein radikaler Gegensatz zu aller Kunst, die sich den Anschein gibt, dort von alters her heimisch zu sein — zur Heimatkunst. Sie hält das idyllisch gezeichnete Dorf und die romantisch verklärte Natur einer großstädtischen Kultur entgegen, die unter der politischen Obhut des Liberalismus und mit der Kraft einer forçierten Kapitalisierung in wüste Ornamente zerschlagen wurde, deren wohl wüstestes den Bart Kaiser Franz Josephs trug. Doch die habsburgische Sonne bestrahlte auch die Heimatliteratur — und schärfer als in ihrem Licht können die Gegensätze der Geschichten Stifters, Saars und Roseggers zu denen Anzengrubers gar nicht hervortreten. Sie ragen auch in die persönlich engen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Anzengruber und Rosegger hinein.

„Ihre Stimmung bei einsamen Waldwanderungen“, schrieb Anzengruber an Rosegger, „ist mir nicht fremd. Wenn ich mir einmal vorspiegeln will, diese Welt wäre vielleicht die beste, dann gehe ich auch in den Wald (...) man wird in dem weiten wohlhauchigen Grün zu einem frohbegnügten Geschöpfe, ohne Wünsche, gleichsam nichts als ein Paar freudige Augen, die in die wundersame Waldwelt auslugen. Aber man muß mit dieser Stimmung haushalten.“ [8]

Ohne Rückhalt im demokratischen Kleinbürgertum fiel es einem Schriftsteller wie Rosegger zunehmend schwerer, mit solcher Stimmung hauszuhalten, wurde sie doch deshalb und zunehmend das einzige Refugium seines ehrlich empfundenen Antikapitalismus. Anzengruber steht darum Gottfried Keller viel näher als aller habsburgischer und sonstiger Heimatliteratur. Mit ihm auch hat er das uneingeschränkte Bekenntnis zur Feuerbachschen Philosophie gemeinsam — wohl der verläßlichste Indikator für die kleinbürgerlich-demokratischen Positionen nach 1848.

Freilich kommt Keller in seinen Novellen weniger in Versuchung, die Figuren des dörflichen Lebens zu idealisieren. Aufgrund einer eigentümlichen Geschichte sind in der Schweiz kleinbürgerlich-demokratische und bäuerliche Lebensformen seit Jahrhunderten schon sehr eng miteinander verwoben. Darum letztlich erinnert Kellers überaus „harte“ Komik, seine eigenartige Mischung von desillusionierender Menschengestaltung und demokratischem Selbstbewußtsein an die Possen Nestroys, von denen Keller sich übrigens eine Erneuerung der deutschen Komödie erwartete.

Die idealisierende Tendenz, die mitunter die Komik aufgeweicht und die Tragik sentimental erscheinen läßt, schwächt bei Anzengruber sich ab und der Realismus gewinnt an Boden, je mehr sich einzelne Figuren absondern und als schrullige Einzelgänger ihr demokratisches Dasein fristen. Sie sind die überzeugendsten Gestalten seiner Welt: in der Brust eines Sonderlings überwintert das radikal demokratische Bewußtsein am glaubhaftesten. Die Demokratie ließ sich scheiden vom Liberalismus und wurde zum Sonderling. Nicht zufällig haften auch den meisten Gelehrten dieser geschiedenen Demokratie, den österreichischen Sozialreformern vom Schlage Friedrich Jodls oder Popper-Lynkeus’ Züge des Sonderlichen und sogar Schrulligen an. [9]

Einer der überzeugendsten Sonderlinge in Anzengrubers Welt ist sicherlich die Figur des Steinklopferhanns, die nicht nur in den „Kreuzelschreibern“ sondern auch in den epischen „Erzählungen des Steinklopferhanns“ den Fluchpunkt der gestalteten Welt bildet. Die Konsequenz, mit welcher diese Figur die Feuerbachsche Philosophie im kleinen Alltag zu leben vermag, verdankt sich einer ganz spezifischen sozialen Situation: Als Steinklopfer ist er von jenem kleinen Eigentum schon losgelöst, das die Handlungsweise der anderen noch ganz bestimmt. Eigentlich ist er bereits Lohnarbeiter — das große Eigentum aber, das ihn in eine neue Form der Abhängigkeit zwingt, taucht sowenig am Horizont des Geschehens auf wie seine Klassengenossen. Der Steinklopferhanns ist gleichsam der Robinson der Arbeiterklasse. So verbindet sich bei ihm das demokratische Selbstbewußtsein des alten Handwerker- Bürgertums mit der neu gewonnenen — wenn auch überzogenen — Unabhängigkeit des Lohnarbeiters. Und nur dank dieser eigenartigen gesellschaftlichen Position vermag er die Interessen der kleinen Leute, Bauern und Bäuerinnen, Knechte und Mägde, erfolgreicher zu vertreten als diese selbst. Mit einer solchen Figur weist Anzengruber schon über die auf kleinem Eigentum beruhende Demokratie hinaus. Es ist letztlich dieses gelockerte Verhältnis zum Eigentum, das die Sonderlinge Anzengrubers zu realistischen Figuren werden läßt, während er jene Figuren idealisieren muß, die mit dem kleinen Eigentum — in Anzengrubers Welt also mit dem Bauernhof — ihr Handeln und Bewußtsein verbinden und ihre gesellschaftlichen Konflikte zu lösen versuchen. Was uns bei Nestroy noch glaubhaft erschien, wird bei Anzengruber schon fragwürdig: die Demokratie des kleinen Eigentums; und sie wird es vor allem im dramatischen Stil — dort also, wo Anzengruber am weitesten von Nestroy entfernt scheint.

Wie sehr unterscheidet sich Anzengrubers proletarischer Robinson von den Arbeiterfiguren der habsburgischen Almosenliteratur Marie Ebner Eschenbachs oder Ferdinand von Saars. Zunächst scheint es den „Steinklopfern“ Ferdinand von Saars freilich um mehr zu gehen als dem Steinklopferhanns — nicht mehr um den Konflikt zwischen kleinem und großem Eigentum sondern um den zwischen Lohnarbeit und Kapital: den Widerstand der Steinklopfer Georg und Tertschka (Therese) gegen den Aufseher und seine brutalen Methoden der Ausbeutung gestaltet Saar mit großer erzählerischer Kraft und Realistik, die einer tief empfundenen Parteilichkeit entspringen müssen. Der Konflikt eskaliert in der Ermordung des Aufsehers aus Notwehr, doch wird er an diesem entscheidenden Punkt, da die Handlung nach Verallgemeinerung drängt, von Saar stillgelegt und zurückgebogen in die kleinbürgerliche Idylle, und zwar durch die Intervention eines mildtätigen habsburgischen Oberst. Georg wird freigelassen und erhält mit seiner Braut Tertschka eine Bahnwärtersstelle und für das Schlußtableau noch wichtiger: ein Bahnwärtershäuschen —

Ein winziges Stückchen Feld, mit Mais und Gemüse bepflanzt liegt dahinter, und vor der Tür, umfriedet von einer dichten Bohnenhecke, blühen rötliche Malven und großhäuptige Sonnenblumen. In diesem kleinen Anwesen, das den Vorüberfahrenden gar still und friedlich anmutet, leben, wie sie es einst kaum zu hoffen gewagt, Georg und Tertschka seit mehr als fünfzehn Jahren als Mann und Frau, und es braucht wohl nicht eigens bemerkt zu werden, daß ihnen der Oberst dazu verholfen hatte. [10]

Auch bei Anzengruber finden sich solche idyllischen Schlußtableaus zuhauf — doch sind sie nicht als Gnadenakt der habsburgischen Obrigkeit herbeigeführt sondern stets durch das Handeln der kleinen Leute selbst. Der Schluß des „Meineidbauern“ — die Niederlage des durch das Eigentum korrumpierten Bauern Ferner — wird durch das tapfere Handeln Vronis möglich. Auch hier wiederum beruht der Tendenzcharakter der Figurenzeichnung und die Harmonisierung der sozialen Widersprüche auf dem Sieg des rechtmäßigen kleinen Eigentums über das unrechtmäßige große. Solche Siege können in einem bestimmten Stadium der Kapitalisierung nicht mehr realistisch erscheinen, auch nicht am Land. Doch auch in diesem Stück gibt es eine Außenseiterfigur, nur steht sie nicht im Mittelpunkt wie der Steinklopferhanns: Vronis Großmutter, die Burgerlies. Einsam betreibt sie ein kaum mehr besuchtes Gasthaus an der Landesgrenze. Auch ihre Beziehung zum Eigentum ist gelockert. Sie hält die Schmuggler, die „Schwarzer“, die bei ihr einkehren, für durchaus ehrenwerte Leute, und nicht nur, weil sie etwas konsumieren. Ihre demokratische Kraft zeigt sich vor allem aber an der Gestalt des Juden Levy in einer kleinen aber sehr wichtigen Zwischenszene. Sie scheint in eine ähnlich isolierte Position geraten, wie sie Levy und seinesgleichen von Haus aus einzunehmen gezwungen waren. Der Humor dieser Szenen entsteht daraus, daß beide Außenseiter fest zueinander halten und doch einer am anderen kritisiert, er sei selbst ein wenig schuld an seiner Isolation. So wirft die Burgerlies Levy vor, er sei, weil er kein Schweinefleisch esse und sich darum seinen Proviant mitnehme — „selber so a Bauchfrummer“ — und hätte gerade ihn „für gescheiter gehalten“. [11] Levy kontert mit gleichen Waffen:

A gescheite Frau war sie immer, aber Sie war nix e soi nachdenklich wie jetzt, hot jeden gelassen bei dem, was er denkt, und hat nix Ihre Meinung andern aufgedrängt. Das taugt nix, Burgerlies, for Ihr Geschäft taugt dos gor nix! Wollt Ihr alle Leute soi denken machen wie Ihr? Gott meiner Väter!

Laß mich aus mit’n Gott der Väter,

unterbricht ihn die Burgerlies,

den habts ös Schippeln doch nur für d’Weiber aufbracht, damit s’Zucht halten und nit auf d’Jüngern nebn schaun. [12]

Ganz so einträchtig für den Juden scheint es auch früher nicht gewesen, doch die Stimme der Burgerlies hatte noch etwas gegolten:

War a schöne Zeit gewesen damals herobn. Is mer gekümmen hat alles gewimmelt von Gäst, mer is da gesessen unter de Bauern, hat einer ja angefangen zu sticheln und ein geheißen e Mauschel! Püh! Wie seid Ihr ihm da gefahren übers Maul! Alles hat gelacht, mer hat gelangt in die Tasch hat gezahlt a Wein, da war der Fried hergestellt, die Gläser haben geklungen und alles war wieder gut. Nein, aber jetzt —! [13]

Jetzt, anfang der siebziger Jahre, als der „Meineidbauer“ uraufgeführt wurde, begann das ums kleine Eigentum bangende Bürgertum den antisemitischen Politikern Lueger und Schönerer zu folgen. Anzengrubers Sonderlinge gehören zu den letzten Kleinbürgern der deutschen Literatur, bei denen man, wie Levy zur Burgerlies sagt,

kann einkehrn, ohne daß man’s ein’m — wie da herum im Land — nemmt for übel, daß er is a Jud — [14]

Kleinbürger können eben auf ganz verschiedene Art wild werden. Anzengruber hielt an den alten demokratischen Traditionen seiner Klasse fest und und wurde beinahe ein wildgewordener Kleinbürger im Leninschen Sinn:

So bestimmt ein fremder Kapitalist das Geschick von Millionen, das Geschick eines ganzen Landes durch nichtswürdige Einmischung seines Geldsackes. Versteht ihr das Völker? Diese entsetzliche Einmischung in eure Geschicke? Pränumerando nimmt man die Zinsen aus euren Taschen zu dem sehr zweckmäßigen Unternehmen, euch dafür dezimieren und abschlachten zu lassen —. Wer da noch sagt, daß das Kapital kein Fluch sei, der hat keinen Blick auf das menschliche Elend getan. Man möchte aufschreien: lieber die Anarchie als den Geldsack als Herrscher, als daß nach neuer Politik ein Bankier irgendwo eingreift in die Geschicke des weitab liegenden Landes. [15]

Mit solch klarem Bewußtsein der gesellschaftlichen Situation wurde Anzengruber — trotz seiner Ablehnung des Sozialismus und seiner Distanz zur Arbeiterbewegung — zum entschiedenen Gegner des imperialistischen Nationalismus. Ja, er wandte sich überhaupt von der nationalen Frage ab, deren einstmalige demokratische Potenzen ihm im Zeitalter des herannahenden Imperialismus erschöpft schienen.

„Der Sternsteinhof“ — Anzengrubers episches Haupt- und Spätwerk — endet in einer für den Autor durchaus ungewöhnlichen Ratlosigkeit. In diesem Roman, der den rücksichtslosen Aufstieg der Kleinhäuslerstochter Helene zur Herrin eines grossen Bauernhofs schildert, vermissen wir Figuren wie den Steinklopferhanns oder die Burgerlies. Am Ende erweist sich Helene, die über die Leichen der kleinen Leute gegangen war, gar noch als Wohltäterin an den Armen. Anzengruber spürt den Zweifel seiner Leser, der sein eigener ist:

Warum erzählt man solche Geschichten, die nur aufweisen, ‚wie es im Leben zugeht?‘ Allerdings gibt das ein unfruchtbares Wissen, da es nichts an den Vorgängen ändern lehrt und, was es lehrt, doch nie, selbst von den Wissenden nicht, mit dem Handeln in Einklang zu bringen versucht wird; so bleibt es denn voraussichtlich noch lange mit allem menschlichen Treiben und Trachten beim alten, und eine neue Geschichte kann nur dartun: daß, was vorging, noch vorgeht. [16]

Nur scheinbar ist Anzengruber damit zum Naturalisten geworden. Das „noch“ in diesem Bekenntnis zeigt seinen Einspruch und dieser schlägt sich in der ganzen Erzählweise des Romans nieder. So motiviert er etwa noch am Ende Helenes Volksfürsorglichkeit mit „purer Eitelkeit, die sie (...) darnach trachten ließ, auch etwas ‚rechtes‘ zu gelten und nicht zu unterlassen, was ihren Verlust zu einem augenfälligen machen konnte“. [17] — „Wer“, fragt der Erzähler, „hat die wahre Kleebinderin, ihren braven Sohn, den Holzschnitzer, bedauert? Wer wird die rechtschaffene Sepherl beklagen“ — die Opfer von Helenes Aufstieg? Er antwortet „Niemand“ — und tat doch selbst nichts anderes mit seiner ganzen Erzählung. Der Optimismus des Steinklopferhanns ist ihm dabei freilich verlorengegangen. Die Demokratie des kleinen Eigentums bietet keine Alternative mehr zum Fluch des großen.

III.

Im Grunde hat Anzengruber nur einen Nachfolger gefunden: Karl Emil Franzos. Doch dieser aus dem ostjüdischen Sthetl stammende Schriftsteller ist heute wohl unbekannter als Anzengruber selbst. Bis vor kurzem kannten ihn wohl überhaupt nur Germanisten — und zwar als den Herausgeber der ersten, wenig kritischen Gesamtausgabe der Werke Georg Büchners, oder vielleicht noch als den Redakteur der Zeitschrift „Deutsche Dichtung“, für die übrigens noch Anzengruber Beiträge lieferte. Als eigenständiger Erzähler wird er bis heute noch von der Literatur des angestaubten habsburgischen Mythos — von Ebner-Eschenbach, Saar und Rosegger — verdeckt.

Auch bei Franzos überwintert das demokratische Bewußtsein von 1848 in der Gestalt des Außenseiters der Gesellschaft. Doch ist diese Gesellschaft nun nicht wie bei Anzengruber ein ins Bauernmilieu versetztes Kleinbürgertum — sondern die „relative Totalität“ des ostjüdischen Sthetls, die umgrenzt wird von ruthenischen Bauern und polnischen Großgrundbesitzern. Nahezu alle seine Geschichten aus dem Getto handeln von Ausbruchsversuchen einzelner aus diesen geschlossenen Lebensformen. Schwierigkeiten zeigen sich bei Franzos darin, wie er als Erzähler diese Ausbruchsversuche motiviert. Während Anzengruber die Außenseiterposition seiner Figuren noch einigermaßen stringent aus dem in die Dorfgemeinschaft transponierten Konflikt zwischen kleinem und großem Eigentum entwickeln konnte, scheinen Franzos’ spontane Demokraten durch Zufall in das ostjüdische Leben verschlagen worden zu sein. Meist sind es angeborene Eigenschaften, die sie in Widerspruch zu den alten jüdischen Traditionen, in denen sie erzogen wurden, geraten lassen: bei Moschko von Parma etwa der ungewöhnlich kräftige Körperbau, der ihn den für Juden ungebräuchlichen Beruf des Schmiedes anstreben läßt.

Er ward stark, weit über seine verkümmerte Rasse, weit über sein Alter hinaus. Er ward stark und alles, was löblich und tadelnswert an ihm war, wurzelte in dieser Eigenschaft. Darum war er mutig — was konnte ihm auch geschehen? — und hieb gern um sich, nicht trotzig und frech, sondern mit einer Art stillen Behagens. Und mit demselben Behagen half er unermüdlich den Holzhauern und Fleischerknechten des Städtchens bei ihrer schweren Arbeit, weil solche Anstrengung den jungen Sehnen wohltat. Aber es war ihm peinlich, in der kleinen, dumpfigen Winkelschule über den krausen Zeichen zu grübeln, denn da half ihm seine Kraft nichts. Und weil die anderen Judenjungen waren, wozu sie ihr Körper und ihre Erziehung gemacht: fromm, faul, feig, so fiel des Schulklopfers Jüngster früh in der Gasse auf. [18]

Nicht nur in der Begründung des Außenseiters — auch in der seines sozialen Umfeldes, das ihn dazu macht, mischen sich eigenartig die neuen Motive des Biologismus, die am Ende des 19. Jahrhunderts Rassismus, Sozialdarwinismus und Vererbungstheorien untermauerten, und die alten der Aufklärung, die in der Erziehung des Menschen und in der „vernünftigen“ Ableitung des Charakters aus dem gesellschaftlichen Sein ihr Fundament haben.

Wohl gibt es sehr viele Feiglinge unter den Juden des Ostens, und es wäre auch seltsam genug, wenn dem nicht so wäre. Mut ohne Körperkraft ist kaum denkbar. Der Jude aber ist, der frühen Heiraten wegen und weil durch den Glauben jede Rassenkreuzung ausgeschlossen ist, schwächlich, und die Erziehung leistet überdies an Verweichlichung das Schlimmste. Mut ist ferner nicht denkbar ohne Selbstvertrauen. Und wie hätte dies in den Abkömmlingen eines Volkes Wurzel schlagen können, dessen Heldentum durch Jahrhunderte im Dulden bestand, das ruhelos über die Erde gehetzt wurde wie wildes Getier, das noch heute im Osten hier und da nicht jene Stufe der Behandlung erklommen, deren sich nützliche Haustiere erfreuen! Fürwahr, es gehört große Unvernunft dazu, sich darüber zu wundern, daß ungestümer kriegerischer Sinn just nicht ein Hauptzug der jüdischen Volksseele geworden. [19]

Glaubhafter schon gelingt es Franzos seine Helden als Außenseiter zu gestalten, wenn er sie in jene Beziehungen führt, in denen der Zufall gleichsam zu Hause ist: in Liebesbeziehungen. Der Schmied Moschko verliebt sich in die „christliche“ Kasia, die Schwester seines Mitlehrlings; und wie in der klassischen Liebestragödie scheitert diese Beziehung an den gesellschaftlichen Verhältnissen, weil sie einen Grad der allgemeinen Emanzipation fordert, von dem der Osten am weitesten noch entfernt war. Ganz ähnlich ergeht es in der Erzählung „Judith Trachtenberg“ der Liebe der Titelheldin zu einem polnischen Gutsherrn.

Außenseiter von Geburt ist auch der „Pojaz“, der Bajazzo, Hauptfigur des gleichnamigen epischen Hauptwerks von Franzos. Sein Vater war ein „Schnorrer“, ein fahrender jüdischer Mann, „der rastlos umherzog und nichts, gar nichts sein eigen nennen konnte. [20] Es gab sehr viele solcher Nomaden unter den Juden des Ostens, berichtet Franzos, und sie waren in gewisser Weise integriert in die jüdische Gemeinschaft — als Vorformen gewissermaßen von Zeitung und Theater: sie unterhielten ihre Gastgeber und berichteten Neuigkeiten aus der ganzen ostjüdischen Welt. Von diesem Vater hat der Pojaz — ohne ihn auch nur gekannt zu haben — den Wandertrieb vererbt bekommen, und seine Ziehmutter, die Rosel Kurländer, ist entschlossen, den Kampf mit dem „ererbten Dämon“ [21] aufzunehmen, denn trotz aller Integration hatten die Schnorrer einen niederen sozialen Status. Zum Glück für das Gelingen des Romans kommen doch noch gesellschaftliche Motive hinzu; sie erst verwandeln den Pojaz in einen vollständigen Außenseiter, den auch die jüdische Gemeinschaft nicht mehr zu integrieren vermag. Er erlebt eine Aufführung von Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ — und das Kapitel, in dem dies erzählt wird, zählt zu den schönsten des ganzen Romans: als einziges läßt es Pojaz selbst berichten und dem Leser wird verschwiegen, um welches Stück es sich handelt, sodaß er ganz der unmittelbaren Erfahrung des kleinen Jungen aus dem Getto vertrauen muß. Spontan beschließt der Pojaz Schauspieler zu werden. Die weitere Geschichte handelt davon, wie er diesen Entschluß gegen den Willen der jüdischen Gemeinschaft durchzusetzen versucht. Kann man hier von einem Entwicklungsroman noch sprechen, so nur im Sinne der Entwicklung eines Menschen zum Außenseiter. Mehr als in anderen seiner Werke gelingt es Franzos im „Pojaz“, diese Entwicklung mit gesellschaftlichen und konkret historischen Inhalten zu vermitteln. Der Pojaz lernt — wiederum durch einen „seltsamen Zufall“ [22] — einen anderen Ausgestoßenen kennen. In einer Burgruine trifft er auf einen einsamen Soldaten, der einstmals als Wiener Student an der Revolution von 1848 teilhatte, und nun in aller Heimlichkeit und Stille die Gedichte Moritz Hartmanns rezitiert. Zunächst glaubt der Pojaz gar ein Gespenst vor sich zu haben — so seltsam ist der Eindruck, den ein einsam gewordener Revolutionär macht. Der Erkennungsszene der beiden Aussenseiter folgt ihre Freundschaft. Der Soldat wird zum Lehrer des Pojaz; anhand der Gedichte Hartmanns bringt er ihm die deutsche Sprache bei. Der Soldat muß für seine radikale Außenseiterposition schließlich mit dem Leben bezahlen: als man seine revolutionäre Lektüre entdeckt, wird er zum Tod verurteilt.

Obwohl der Pojaz in seiner ganzen Entwicklung von der jüdischen Gemeinschaft behindert wird, und letztlich stirbt, weil er in diesem Kampf um deutsche Bildung seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt hat, wird die Gemeinschaft der Juden durchwegs einfühlsam, mit allen Details ihres Lebens geradezu liebevoll und nicht selten mit Humor beschrieben. Nicht von ungefähr erinnert die Darstellungsweise des Gettolebens an jene des Dorfes bei Anzengruber. Dies gilt auch für alle anderen Geschichten aus dem Getto, die Franzos geschrieben hat. Er verschweigt dabei keineswegs das soziale Elend und die moralischen Restriktionen dieses Lebens. Doch scheint die Substanz der einzelnen Individuen — mit Ausnahme einiger weniger religiöser Fanatiker — davon unbeschädigt.

Diese „leichte“ Art, das Elend darzustellen, liegt sicherlich in jenem Optimismus begründet, mit dem Franzos die völlige Emanzipation der Juden in Deutschland und Österreich erwartete. Doch denke ich, es verbirgt sich darin auch der leise Einspruch des Demokraten gegen den Liberalismus. Immer wieder nämlich betont Franzos in seinen Geschichten bestimmte positive Eigenschaften des religiösen und sozialen Lebens der ostjüdischen Gemeinschaften. „Der Jude des Ostens“ — heißt es etwa in „Moschko von Parma“ — „hat warmen Sinn für die Ehre der Gesamtheit; verlottert sich ein Jude, sinkt er in Schmach und Schande, so tut dies allen weh. Auch dies hat jene eiserne Klammer von außen bewirkt.“ [23] Das Leben der Menschen, die Franzos schildert, zerfällt nicht in öffentliche und private Sphären; über Arbeit, Religion und Familie wird das Individuum in allen seinen Lebensäußerungen mit der Gesellschaft verbunden. Es fühlt sich in jeder seiner Tätigkeiten als Teil dieser Gesellschaft, es kann sich in ihr nicht vereinzeln. Man könnte diese Lebensformen — wie Marx den Feudalismus — als „Demokratie der Unfreiheit“ begreifen.

Trotz aller vordergründigen Fortschrittsgläubigkeit, die Franzos mit dem Liberalismus verbindet, zeigt seine Zeichnung des Gettolebens — vielleicht gegen seinen eigenen Willen — eine Skepsis der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber, die dem Demokraten am Übergang zum Imperialismus wohl ansteht.

Die meisten seiner Helden und Heldinnen gehen im Moment des geglückten Ausbruchs aus dem Gettoleben zu Grunde — nicht aber, weil die Macht der alten Gesellschaftsform noch so groß wäre; dagegen spricht deren Darstellung. Es scheint vielmehr, als wüßte Franzos nicht, wohin mit seinen Hauptfiguren. Er, der das Leben in den Metropolen der bürgerlichen Gesellschaft kannte, wollte sie vermutlich nicht schwerer enttäuschen müssen als Balzac seinen Lucien. In einer durch den Liberalismus entfesselten Gesellschaft müßten sich die Ideale der deutschen Bildung und Humanität wie Illusionen ausnehmen. Sie hatte — im Gegensatz zur Vorstadtdemokratie Nestroys, zum Dorf Anzengrubers und zum Getto Franzos’ — keinen warmen Sinn mehr für die Ehre der Gesamtheit. „Verlotterte“ und verarmte einer in dieser Gesellschaft, so tat dies niemandem mehr weh.

IV.

Der Antisemitismus trat an die Stelle der demokratischen Traditionen des Kleinbürgertums. Er ersetzte den Sinn für die Ehre der Gesamtheit — durch den Sinn für die Rasse, der man sich zugehörig fühlen konnte. Je weiter sich aber die Liberalen von der Demokratie entfernt hatten, desto ohnmächtiger mußten sie dem Antisemitismus gegenüberstehen.

Selten zeigt sich die Ohnmacht der Liberalen deutlicher als im Werk Schnitzlers. Tatsächlich war Schnitzler kein Demokrat im strengen Sinn — in jenem Sinn, der Nestroy, Anzengruber und Franzos miteinander verbindet. Er akzeptierte die Trennungslinie zwischen citoyen und bourgeois; sie umgrenzt geradezu die Welt seiner Werke, deren Mehrzahl die Konflikte des bourgeoisen Lebens ausloten. Die leichte Ironie, die selten nur zur Satire wird, entsteht ganz spontan aus der Isoliertheit des Lebens gegenüber allen politischen Möglichkeiten des Handelns. [24]

Die großen künstlerischen Erfolge des liberalen Standpunkts liegen allerdings dort, wo das bourgeoise Leben mit vorbürgerlichen Konventionen — wie die der Offiziersehre oder des Katholizismus — zusammenstößt. Ein solcher, für die Habsburgermonarchie typischer Ort ist etwa das Bewußtsein des „Leutnant Gustl“. In unvergleichlicher Weise versteht es Schnitzler hier, aus dem bloßen Gedankenstrom seiner Figur eine Satire auf ihr ganzes soziales Sein zu formen. Kaum jemals hat eine einzelne literarische Figur vollständiger sich selbst entlarvt.

Die Schwäche der liberalen Position zeigt sich, sobald die Konflikte die Sphäre des citoyens berühren. In „Professor Bernhardi“ ist dies der Fall. Der Konflikt mit der kirchlichen Konvention — der Arzt Bernhardi verweigert dem Priester den Zutritt zu einer Sterbenden, um ihr nicht die Illusion des Weiterlebens zu nehmen — lockt zunächst die Humanität des Arztes aus der Hülse bürgerlicher Privatheit heraus, in die sie der Liberalismus verbannt wissen will. In der Öffentlichkeit erwächst ihr rasch der größte Feind im Antisemitismus. Doch die Humanität Bernhardis hält ihm letztlich nicht stand. Das Stück endet mit einem erbärmlichen Rückzug in die Privatheit. „Mein lieber Flint“ — sagte Bernhardi zum Unterrichtsminister, der sich von der antisemitischen Welle mittragen ließ und Bernhardi verriet, „die Politik gedenke ich auch weiterhin dir ganz allein zu überlassen“. [25]

Der bourgeois kommt sich lächerlich vor, wenn er als citoyen zu handeln beginnt — und er beichtet dies zuletzt dem sozialdemokratischen Hofrat, der verständnisvoller nun wirklich nicht sein kann:

Sie können sich gar nicht vorstellen, Herr Hofrat, wie lächerlich ich mir eigentlich vorkomme. Heute früh schon, der Empfang an der Kerkertür! und der Artikel in den Neuesten Nachrichten (...) und allerlei Pläne sind in diesem lauen Gefühl des Lächerlichwerdens verronnen. [26]

Doch nicht einmal im privaten Verhältnis zu Flint vermag Bernhardis Humanität Haltung zu bewahren:

Aber wie ich ihm endlich gegenüberstand, da ist auch der letzte Rest von Groll in mir verlöscht. Sie hätten ihn nur hören sollen —! Ich konnte ihm unmöglich böse sein. Fast glaub ich, ich bin’s ihm nie gewesen. [27]

Der sozialdemokratische Hofrat schließt sich dem Rückzug Bernhardis an und nimmt darin das künftige Programm seiner Partei vorweg:

Und darum ist es das Beste, ja das einzige Anständige, wenn unsereiner sich in solche — G’schichten gar nicht hineinmischt. — [28]

Schlimm ist nicht, daß Schnitzler die Ohnmacht des Liberalismus sich eingesteht, schlimm ist, daß er mit ihr sich versöhnt und nicht widerspricht. Schlimm ist, daß „Professor Bernhardi“ keine Satire ist.

Wenn der Antisemitismus zum Sorrogat der alten kleinbürgerlichen Traditionen wurde, so bildeten Juden wie Franzos oder Karl Kraus schließlich die letzten, schon weit vorgeschobenen Bastionen bürgerlicher Demokratie. Bei Kraus freilich verschärft sich diese Außenseiterposition zur totalen Satire. Der Satiriker gestaltet keine Außenseiter mehr; er selbst ist der einzige Außenseiter und als solcher gestaltet er die Welt in seinen Werken.

Walter Benjamin hat Karl Kraus als „letzten Bürger“ bezeichnet. „Bürgertugenden sind alle Einsatzkräfte dieses Mannes von Haus aus; nur im Handgemenge haben sie ihr streitbares Aussehen erhalten.“ [29] Das streitbare Aussehen macht sie den Tugenden Anzengrubers und Franzos’ so unähnlich — auch für Karl Kraus selbst, der vor allem Anzengruber nicht sehr schätzte.

So hat in der Satire von Kraus der Außenseiter wahrhaft zu sich selber gefunden. Seine Liebe zu Nestroy aber ist damit Verständnis und Mißverständnis in einem; und gerade in dieser Zweideutigkeit liegt die historische Wahrheit über die Entwicklung des österreichischen Kleinbürgertums verborgen.

Die noch vereinzelten Untugenden der Bürger wurden bei Nestroy noch von einer Komik aufgelöst, die getragen war von der Allgemeinheit demokratischer Tugend. Karl Kraus aber, der die Verallgemeinerung bürgerlicher Untugenden erleben mußte, konnte Nestroys Komik nur mehr ausschließlich satirisch verstehen. Die Untugenden von Nestroys Figuren waren allgemein geworden. In seiner Sicht nahm darum Nestroy jenes Kleinbürgertum vorweg, das zum willfährigen Exekutor imperialistischer Politik geworden war. Eindrucksvoll, und selbst beeindruckt, hat Benjamin die Zweideutigkeit beschrieben, mit der Kraus die Komik Nestroys umstülpt zur Satire:

Da stehen sie: Schober, Bekessy, Kerr und die andern Nummern, nicht mehr die Feinde, sondern Raritäten, Erbstücke aus der Welt Offenbachs oder Nestroys, nein, ältere seltenere, Penaten der Troglodyten, Hausgötter der Dummheit aus vorgeschichtlichen Zeiten. Kraus, wenn er vorträgt, spricht nicht Offenbach oder Nestroy: sie sprechen aus ihm heraus. Und dann und wann nur fällt ein atemberaubender, halb stumpfer, halb glänzender Kupplerblick in die Masse vor ihm, lädt sie zu der verwünschten Hochzeit mit den Larven, in denen sie sich selber nicht erkennt, und nimmt zum letzten Male sich das böse Vorrecht der Zweideutigkeit. [30]

Es war nicht das letzte Mal. Ödön von Horváth hat später auf diese Zweideutigkeit seine Dramaturgie gebaut, und sie war es wohl noch, die den Schauspieler Helmut Qualtinger über alle modernen österreichischen Autoren hinweg zum größten Satiriker unserer Tage gemacht hat.

[1Ödön von Horváth: Gebrauchsanweisung (Fassung B). In: Materialien zu Odön von Horváths „Kasimir und Karoline“ Hg. v. Traugott Krischke, Frankfurt am Main 1973, S. 112

[2Ödön von Horváth: Gebrauchsanweisung (Fassung A). In: Materialien, a.a.O., S. 106

[3Ebd.

[4Ebd. S. 103

[5Zum Problem der Komik des Alt-Wiener Volkstheaters und ihrer ironischen Brechung bei Horváth vgl. Gerhard Scheit: Theater und revolutionärer Humanismus. Eine Studie zu Jura Soyfer. Wien 1988, S. 40ff.

[6Ludwig Anzengruber: Der Sternsteinhof. Sämtliche Werke. Hg. v. Rudolf Latzke und Otto Rommel. Wien (u. Leipzig) 1920-1922. Bd. 10. S. 369

[7Scheit, Theater und revolutionärer Humanismus. a.a.O. S. 121

[8Zit. n. der von Otto Rommel verfaßten Biographie Anzengrubers, in: Ludwig Anzengruber, Sämtliche Werke, a.a.O. S. 427

[9Vgl. hierzu Albert Fuchs: Geistige Strömungen in Österreich. 1867-1918. Wien 1984. S. 133ff.

[10Ferdinand von Saar: Die Steinklopfer. In: Ders.: Innocens. Erzählungen aus dem alten Österreich. Leipzig o.J. S. 140

[11Ludwig Anzengruber: Der Meineidbauer. Sämtliche Werke, a.a.O., Bd.3, S. 27

[12Ebd. S. 28

[13Ebd. S. 28f.

[14Ebd. S. 289 (Das Zitat stammt aus der ursprünglichen Fassung)

[15Ludwig Anzengruber: Gott und Welt. Aphorismen aus dem Nachlasse. Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. 8, S. 197f.

[16Anzengruber, Der Sternsteinhof, a.a.O., S. 369

[17Ebd. S. 368

[18Karl Emil Franzos: Moschko von Parma. Wien o.J. (1972) S. 9f.

[19Ebd. S. 15f.

[20Karl Emil Franzos: Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten. Frankfurt am Main 1988. S. 12

[21Ebd. S. 50

[22Ebd. S. 68

[23Franzos, Moschko von Parma, a.a.O., S. 37

[24Vgl. hierzu die frühe und etwas verkürzte Kritik von Georg Lukács: in: Organisation und Illusion. Politische Aufsätze II (1921-1924) Darmstadt Neuwied 1977, S. 127ff.

[25Arthur Schnitzler: Professor Bernhardi. Das dramatische Werk Bd. 6. Frankfurt am Main 1987, S. 247

[26Ebd. S. 251

[27Ebd. S. 252

[28Ebd. S. 253

[29Walter Benjamin: Karl Kraus. Gesammelte Schriften Bd. IV/I (Werkausgabe Bd.4). Frankfurt am Main 1980. S. 365

[30Ebd, S. 357

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1990
, Seite 44
Autor/inn/en:

Gerhard Scheit:

Geboren 1959, Musikstudium, Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik, dissertierte über „Theater zwischen Moderne und Faschismus (Bronnen, Brecht)“, arbeitet als freier Autor und Lehrbeauftragter in Wien.

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