FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 194/II
Robert Havemann

Dialektik der modernen Physik

IV. und letzter Teil des Essays „Dialektik des Materialismus“

Unser Wissen ist das Bild, das wir vom Sein haben. Es ist Information, von der Norbert Wiener gesagt hat: „Information is nothing but information, no matter and no energy.“ Aber wie sich schon bei der praktischen Anwendung der formalen Logik — und wir wollen sie doch nicht nur handhaben, nicht nur Aussagen über Aussagen machen — die Unauflösbarkeit des Widerspruchs zwischen Identität und Verschiedenheit ergibt, so auch bei der Konfrontation von Bild und Wirklichkeit, von Wissen und Sein. Die Information existiert eben nicht für sich, sondern für uns. Sie soll uns befähigen, etwas zu tun, das heißt die Wirklichkeit, aus der wir die Information gewonnen haben, zu verändern.

Unser Wissen ist also die Form, in der wir unsere Wechselwirkung mit der Wirklichkeit bewußt erleben. Unser Wissen entspringt dieser Wechselwirkung mit der Wirklichkeit, es ist „auf die menschliche Existenz gegründet“. In unserer praktischen Tätigkeit, in unserem Stoffwechsel mit der Natur, müssen wir Bild und Wirklichkeit immer wieder zu einer Einheit synthetisieren, zu einer widersprüchlichen Einheit von zwei Wesensverschiedenheiten.

So meine ich, daß alle Erkenntnis — und damit auch die naturwissenschaftliche — dialektisch ist, und zwar aus zwei Gründen:

  1. Weil unser Denken Identität und Verschiedenheit voneinander trennen und immer wieder zusammenfügen muß, weil es Bild und Wirklichkeit, Wissen und Sein voneinander trennen und wieder zusammenfügen muß, und
  2. weil die Realität selbst den dialektischen Widerspruch von Gleichheit und Verschiedenheit an sich hat, weil alles stets ein anderes wird, nichts bleibt und auch in der Wirklichkeit nur das mit Notwendigkeit bestimmt ist, was sie in ihrem fortschreitenden Wandel an immer neuer Möglichkeit gebiert.

Ich glaube, daß die in der Natur gegebene Unbestimmtheit und Zufälligkeit entscheidende Voraussetzung dafür ist, daß der Mensch Einfluß auf die Zukunft gewinnen kann. Wäre alles absolut determiniert, wie es sich Laplace vorstellte, so könnte der Mensch die Zukunft nicht mehr beeinflussen. Wir können eben nur entscheiden, was noch nicht entschieden ist. So wird die Blindheit des Zufalls zur Voraussetzung für die Freiheit, wobei allerdings die praktische Betätigung des Menschen stets darauf zielt, die Zufälligkeit zu eliminieren und im praktischen Ergebnis seines Handelns ein Höchstmaß von Gewißheit zu gewinnen.

Aber ich will diesen wichtigen Zusammenhang zwischen der blinden Zufälligkeit der Natur und der menschlichen Freiheit (wobei der Prozeß der menschlichen Geschichte in einem gewissen Maße stets auch Naturprozeß ist) hier jetzt nicht weiter verfolgen. Mir liegt mehr daran, noch einige Gesichtspunkte zugunsten der Dialektik der Natur wenigstens skizzenhaft anzudeuten:

Auch in der Natur ist die Tendenz der Totalisierung. Dies gilt in geradezu bestechender Deutlichkeit für die Entwicklung der Lebewesen, sowohl für die historische Entwicklung der Arten und Gattungen seit der Entstehung des Lebens als auch für die Entwicklung jedes einzelnen Individuums. Wir wissen heute, daß man die Entstehung des in seiner Vollkommenheit überwältigenden Planes, der dem Bau hochentwickelter Lebewesen zugrunde liegt, nicht als Ergebnis eines durch Mutationen bewirkten Würfelspiels der Erbinformationen erklären kann.

Schon im primitivsten Lebewesen gewinnt die Materie die Fähigkeit, sich über Bedingungen der Umwelt zu informieren und danach das eigene Verhalten zu orientieren. Leben ist Lernen, und das eben nicht nur individuell. Es führt zur fortschreitenden Vollkommenheit, ist Totalisierung: Nicht erst mit dem Erscheinen der menschlichen Gesellschaft, mit den ersten lebendigen Organismen bereits wird das Begreifen und Erkennen der Wirklichkeit zu einem wesentlichen Agens dieser Wirklichkeit selbst und ihrer Fortentwicklung. Daß es hierzu keines Weltgeistes bedurfte, kann erst der moderne Materialismus begreifen.

Offensichtlich gilt aber auch für den Kosmos ein historisches Prinzip. In der mechanisch-materialistischen Kosmologie sind Raum und Zeit ewig und unveränderlich. In den modernen Kosmologien ist der Raum in Expansion und die Zeit anisotrop. Dies beides bedeutet, daß die unendliche Natur nicht nur in ihren Teilen, sondern auch als Ganzes unaufhörlich fortschreitendem Wandel unterliegt. Sie folgt keinem Kreislauf, auch nicht in den größten zeitlichen Dimensionen. Was vorüber ist, ist es für immer. Nichts kehrt wieder. Vor zehn Milliarden Jahren war es nicht nur hier im Sonnensystem — sofern es überhaupt schon existierte — anders, es war auch im ganzen Kosmos anders.

Zwar sind die Zeitmaßstäbe des Kosmos „unmenschlich“. Die Sekunde der Ewigkeit, die unser ganzes historisches Dasein währt, mag uns den Kosmos als statisch erscheinen lassen. Aber es muß doch wohl etwas Dialektisches, Dynamisches, zur Totalität Drängendes darin sein, wenn wir dies trotzdem bemerkt haben.

Zeitmaßstäbe sind immer relativ, sie sind von den Prozessen selbst bestimmt. In der Mikrophysik rechnet man mit Hundertmillionstel Sekunden, die für das Leben gewisser Elementarteilchen alles bedeuten, im Kosmos mit Milliarden von Jahren. Wir stehen mit unseren Stunden, Jahren und Jahrtausenden zeitlich irgendwo dazwischen, ob in der Mitte, erscheint fraglich.

Es erhebt sich die Frage, ob eine derart entschiedene Verteidigung des dialektischen Materialismus und der Engelsschen Naturdialektik nicht auch nur eine Spielart des Dogmatismus ist, jener sklerotischen Verzerrung, an der der Marxismus heute leidet. Marx hat bekanntlich dem Satz gehuldigt: De omnibus dubitandum est.

Warum sollte es also nicht auch erlaubt sein, als Marxist an der Dialektik zu zweifeln, und wenn schon nicht an der Dialektik insgesamt, so doch wenigstens an der Dialektik der Natur? Wird nicht jede Lehrmeinung zum Dogma, die sich zum allumfassenden Prinzip allen Seins deklariert? Diese Fragen sind keineswegs unberechtigt. Aber sie werfen eine Reihe neuer Fragen auf.

Jede Wissenschaft gelangt, wenn sich ihre Theorie genügend durchgebildet hat, zu wenigen fundamentalen Erkenntnissätzen, die allumfassende Gültigkeit beanspruchen. So gelangte die klassische Physik zu den fundamentalen Erhaltungssätzen von Impuls und Energie, zur Vorstellung eines absoluten Raumes, einer absoluten Gleichzeitigkeit und einer absoluten Determiniertheit der Bewegungen aller Körper. Mit der weiteren Entwicklung der Beobachtungsmethoden wurden immer präzisere und raffiniertere Versuchs- und Meßanordnungen ersonnen, um die Richtigkeit gerade dieser fundamentalen Erkenntnissätze auf die Probe zu stellen.

Schon bevor diese Versuche von Erfoig gekrönt waren, hatten sich nämlich bei der Interpretation der verschiedensten physikalischen Erscheinungen paradoxe Widersprüche ergeben. Der Nachthimmel durfte nicht schwarz sein, sondern der Himmel mußte eigentlich Tag und Nacht mit der Helligkeit etwa der Sonnenoberfläche glühen; die Energieverteilung in der Strahlung eines leuchtenden Körpers war unerklärlich; alle Temperaturen mußten sich längst ausgeglichen haben, der sogenannte Wärmetod des Universums mußte also eingetreten sein u.v.a.m.

Obwohl die Fundamentalsätze der klassischen Physik sich so glänzend bei der Erklärung unzähliger Erscheinungen und Zusammenhänge bewährten, war doch die Natur im Ganzen keineswegs so, wie sie eigentlich hätte sein müssen. Wenn sie so wäre, wie sie sein müßte, dann wäre fast alles, was wir kennen, unmöglich. Schließlich wurden tatsächlich Beobachtungen gemacht, die im Widerspruch zu den Fundamentalsätzen selbst standen.

Sosehr die Naturwissenschafter bis dahin von der Richtigkeit ihrer bisherigen Erkenntnisse überzeugt gewesen waren, so waren sie doch keineswegs darüber unglücklich, als sie sie nun in Frage gestellt sahen. Man empfand die „Krise im Weltbild der Physik“ als den Anbeginn wesentlicher neuer Erkenntnis. Die neuen Beobachtungen führten zu neuen Theorien, Relativitätstheorie und Quantenmechanik. Wurden in diesen neuen Theorien nun die alten Fundamentalerkenntnisse der klassischen Physik wie wertloser Plunder auf den Kehrichthaufen geworfen? Keineswegs! Es stellte sich nämlich heraus, daß die Fundamentalsätze der klassischen Physik vollständig richtig waren, aber nur innerhalb bestimmter Grenzen, die aus den neuen Theorien genau ablesbar waren.

Indem die Grenzen, innerhalb derer die klassische Physik gültig war, erkannt waren, war die Richtigkeit ihrer Fundamentalsätze eigentlich erst erwiesen und gesichert. Die neuen Theorien führten indes nach ihrer Ausarbeitung wiederum zu neuen Fundamentalsätzen, die ihrerseits eine allumfassende Gültigkeit für sich beanspruchen. Auch sie werden in Wahrheit nur innerhalb bestimmter Grenzen gültig sein, die aber erst noch gefunden werden müssen. Solange man diese Grenzen jedoch nicht kennt, muß man in jedem konkreten Falle davon ausgehen, daß diese Fundamentalsätze erfüllt sind, solange eben, bis sich das Gegenteil erweist.

Wenn man unter Dogmatismus das Festhalten an bestimmten Lehrsätzen versteht, so ist gegen den Dogmatismus eigentlich nur dann etwas einzuwenden, wenn diese Lehrsätze auch dann noch wie Glaubenssätze verteidigt werden, nachdem sie durch Tatsachen widerlegt und durch neue Erkenntnis aufgehoben — dialektisch aufgehoben —, das heißt außer Kraft gesetzt, aufbewahrt und auf eine höhere Stufe gehoben sind, wie die Sätze der klassischen Physik in Relativitätstheorie und Quantenmechanik.

Auf der höheren Stufe der fortgeschrittenen Erkenntnisse erscheinen die Aussagen der früheren Theorie eben nicht einfach als falsch. Sie erscheinen nur unter einem anderen Aspekt; ihr wahrer Erkenntnisinhalt wird auf diese Weise endgültig gesichert.

Im Prozeß der Auseinandersetzung der alten mit der neuen Theorie darf man deshalb die Ergebnisse der alten Theorie nicht leichtfertig über Bord werfen, sondern muß nach Kräften an ihnen festhalten, bis ihr eigentlicher Wahrheitsgehalt erkannt und vollständig in die neue Theorie übernommen worden ist und sie den ihnen zustehenden Platz gefunden haben. Eine lebendige Wissenschaft ist also immer Dogmatismus und Revisionismus zugleich.

Nur wer einen klaren und entschiedenen Standpunkt vertritt, also „Dogmatiker“ ist, kann mit dem Fortschritt der Erkenntnis diesen Standpunkt auch revidieren, also „Revisionist“ sein. Wer keine Meinung hat, kann sie auch nicht ändern. Was hat es also überhaupt für einen Sinn, wenn es heißt, man führe den Kampf gleichermaßen gegen Dogmatismus und Revisionismus, so als ob es da eine mittlere, allein richtige Linie gäbe?

Tatsächlich sind Dogmatismus und Revisionismus heute in viel höherem Maße politische Schlagworte als wissenschaftliche Begriffe. Sie treten an die Stelle von fehlenden Argumenten, wenn der ideologische Gegner erschlagen werden soll. Der Revisionist gibt leichtfertig die heiligen Güter der revolutionären Erkenntnis preis, der Dogmatiker verwandelt sie in tote Formeln. In beiden Fällen wird von denen, die sich im Besitze der reinen, unverfälschten Lehre wähnen, die Diskussion, die den Partner respektiert, einfach abgelehnt.

Dogmatismus und Revisionismus sind Schlagworte, die nur dem Zwecke dienen, die offene und eigentlich wissenschaftliche Auseinandersetzung zu unterdrücken. Sie treten in Aktion, wenn die Macht eines Parteiapparates dazu mißbraucht wird, über Fragen der Wissenschaft und der Kultur zu entscheiden. Aber weder der Apparat der Partei noch der sozialistische Staat dürfen als letzte Instanz auftreten, wenn es um Fragen der Wissenschaft und der Kultur geht, um Fragen, die das Denken, Glauben und die Gefühle der Menschen bewegen.

Der sozialistische Staat soll vielmehr seinen Bürgern in allen Fragen der Weltanschauung, des Glaubens, der Kunst und der Wissenschaft vollständig Freiheit und Selbständigkeit lassen. Indem der Staat sich derart der Ideologie entkleidet und den Auseinandersetzungen über ideologische Fragen freien Lauf läßt, vollzieht er einen entscheidenden Schritt zum Aufbau einer Gesellschaft, die zu ihrem Bestehen keiner Täuschung über sich selbst, eben keiner „Ideologie“ in Marxens Sinne mehr bedarf.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1970
, Seite 149
Autor/inn/en:

Robert Havemann:

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