FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1980 » No. 321/322
György Dalos

Chocomelk & Stuyvesandt

Rede über die Freiheit

Der ungarische Dichter György Dalos [*] hielt beim Festival „Poetry 80 International“ [**] im Juni 1989 in Rotterdam die folgende Rede.

Zwischen Utrecht und Rotterdam, auf der zweiten Klasse, Chocomelk trinkend, Stuyvesant rauchend, meditierte ich darüber, was eigentlich Freiheit für mich bedeute. Vielleicht bedeutet es, daß ich zwischen Utrecht und Rotterdam, auf der zweiten Klasse, Chocomelk trinkend, Stuyvesant rauchend, darüber nachdenken kann?

Oder ist es die Freiheit, in ein Mikrophon sagen zu können, daß ich unfrei bin? Wenn ich das wirklich sagen kann, bin ich scheinbar frei. Aber wenn ich frei wäre, wozu hätte ich es dann nötig, das Gegenteil zu behaupten?

Und was kann man eigentlich mit der Freiheit anfangen? Kann man sie essen wie ein Brathuhn? Kann man mit ihr schlafen wie mit einer Frau? Oder, was das schlimmste ist: darüber theoretisieren?

Diese Fragen existierten für mich lange überhaupt nicht. In meinen Jugendjahren hatte mich die Einsicht geleitet, daß Freiheit nicht anders ist als eingesehene Notwendigkeit. Später mußte ich feststellen, daß die von mir eingesehenen Notwendigkeiten Tagesbefehle des jeweiligen Großen Bruders waren.

Ich bin unfrei. Genauer: der Spielraum für meine Freiheit ist nicht viel größer als der der Freiheit in meinem Lande überhaupt. [***] Ich bin Schriftsteller, und das bedeutet, daß sich meine Freiheit vom Gar-Nichts-Sagen bis zum Doch-Etwas-Sagen erstreckt. Wenn ich symbolisch die Differenz zwischen mir und einem westeuropäischen Intellektuellen (unter ähnlichen Bedingungen) ausdrücken wollte, hätte ich gesagt: ich bin ein Athener in Sparta, er ist ein Athener in Athen. Aber wir beide gehören zu einem Neuntel und nicht zu acht Neunteln der Bevölkerung.

Denn ich bin natürlich von der physischen Arbeit frei, ich muß keine materielle Güter herstellen. Diese Tatsache erinnert mich stets daran, daß die Freiheit für die Mehrheit der Gesellschaft etwas Elementareres bedeutet als für mich.

Ich erhalte meine Freiheit ausnahmeweise, meine Rechte in der Form von Vorrechten, Privilegien vom Staat. Der Staat, der mir diese Vorteile bietet, kann sie mir jederzeit wieder wegnehmen. Aus diesem Zustand der Unfreiheit kann ich keinen Freiheitsbegriff definieren.

Ein Freund von mir, ein ungarischer Dichter, hat einmal nachts betrunken auf die Straße gepinkelt. Zwei Polizisten kamen auf ihn zu und baten um den Ausweis. Überrascht lasen sie unter seinen Personalien, daß er Schriftsteller sei. Der eine Polizist sagte daraufhin zum anderen „Laß ihn, er ist doch ein Intellektueller“, winkte ab. Der Sozialistische Nationalstaat, der geniale Alptraum Bakunins, erlaubt schon heute einigen seiner Bürgern die Pinkelfreiheit.

Hier in Rotterdamm kann ich gewiß vieles aussprechen. Aber das ist ein Vorrecht, keine Freiheit. Man muß alles zu Hause sagen können. Und wenn es nach außen nicht geht, muß man die Freiheit mindestens nach innen verwirklichen. Die Zensur — die staatliche Kontrolle und die manipulierte Pressefreiheit — kann ich nicht außer Kraft setzen. Aber die Selbstzensur und die Selbstmanipulation kann ich doch bekämpfen.

Vor vierzig Jahren hat sich der große Dichter des ungarischen Sozialismus Attila József in einem Gedicht beklagt:

Sie können meine Telephongespräche registrieren
wann, warum, mit wem.
Sie schreiben in Akten hinein, was ich träumte
und wer meine Träume versteht.
Und ich weiß nicht, wann genügend Gründe entstehn,
die Kartei hervorzukramen,
die meine Rechte verletzt.

Die unveränderte Aktualität dieser Zeilen mahnt uns: wenn wir auch nicht recht wissen, ob es heute einen radikalen Freiheitsbegriff gibt, müssen wir alles gegen die Unfreiheit tun. Oder, wenn ihr wollt, für die unveräußerlichen Rechte. Auch um den Preis der Aufgabe unserer Privilegien.

[*Buch: Meine Lage in der Lage, Berlin 1979 (Rotbuch Verlag).

[**Das Thema des Kolloquiums von Prof. Arthur Lehning war ein Walter Benjamin-Zitat: „Seit Bakunin hat es keinen radikalen Begriff von Freiheit gegeben“ („Über den Surrealismus“, 1929).

[***Man fragt mich im Westen oft: Wo steht Ungarn hinsichtlich der Menschenrechte? Vielleicht irgendwo zwischen Südafrika und Schweden, aber ich könnte nicht genau sagen, wo.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1980
, Seite 17
Autor/inn/en:

György Dalos:

Schriftsteller, lebt in Wien und Budapest.

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