FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1966 » No. 152-153
Mihajlo Mihajlov

Brief an Marschall Tito

Hochgeehrter Genosse Präsident der Sozialistischen Föderativen Volksrepublik Jugoslawien,

Ich nehme mir die Freiheit, diesen offenen Brief an Sie zu richten, weil ich es als meine Pflicht betrachte, öffentlich auf einige sehr scharfe Worte zu antworten, die Sie in Ihrer kürzlichen Rede direkt oder mittelbar an mich und meine Gesinnungsfreunde gerichtet haben.

Da ich nicht Mitglied des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ) bin, ist das, was Sie als Generalsekretär der Partei sagen, für mich nur von belletristischem Interesse. Da Sie jedoch zugleich Präsident der Republik sind, deren Staatsbürger ich bin, können mir die Drohungen nicht gleichgültig sein, die Sie gegen Leute ausgesprochen haben, deren Ansichten und Meinungen von Ihnen als „Djilasismus“ charakterisiert worden sind.

Es ist eine Tatsache, daß ich mich offen zu diesen Ansichten und Meinungen bekenne. Es ist ferner eine Tatsache, daß ich als Initiant an jenem — in der letzten Zeit von der Weltpresse oft erwähnten — Unternehmen arbeite, ein legales, oppositionelles, ideologisch-politisches und gesellschaftlich-kulturelles, demokratisches und sozialistisches Presseorgan zu gründen. Es ist ferner bekannt, daß es sich hierbei um die erste derartige Zeitschrift in der sozialistischen Welt handelt, die übrigens von der jugoslawischen Verfassung und Gesetzgebung durchaus zuzulassen ist. Ihre an den Westen gerichteten Worte betreffen demnach vor allem mich und meine Gesinnungsfreunde.

Nach der „Borba“ vom 6. und 7. Juli haben Sie in Ihrer Rede vor den Vertretern der Organisation der Widerstandskämpfer auf der Insel Brioni am 6. Juli u.a. gesagt:

Ich sehe, daß es Fehlentwicklungen gibt und zahlreiche einzelne Personen, die nicht Freunde unserer Gesellschaftsordnung sind, sondern etwas anderes anstreben. Der destruktiven und antisozialistischen Tätigkeit dieser Menschen, die unsere Sozialordnung bedrohen, muß das Handwerk gelegt werden ... Ich verfolge die Berichterstattung der ausländischen Presse über die Beschlüsse der 4. Sitzung unseres Zentralkomitees. Es gibt dort einige positive, aber mehr noch negative Kommentare. Es wird scheinbar zustimmend geschrieben, in Wirklichkeit aber das erhofft, was seinerzeit M. Djilas anstrebte. Es wird die Liberalisierung erwähnt und der Sieg über den Dogmatismus. Dies trifft nicht zu ... Wir werden nicht liberal sein ... gegenüber verschiedenen Einflüssen und Erscheinungen aus dem Westen, d.h. gegenüber der westlichen Ideologie und dgl., die bei uns importiert werden. Es wird dort geschrieben, das sei eine gute Sache, weil angeblich in Jugoslawien nur verwirklicht werde, was Djilas verlangt hatte, und weil endlich auch die Partei verschwinden werde. Hier aber täuschen sich diese Leute sehr ...

Wir bauen eine echte Demokratie auf, in der sich der Mensch frei fühlt. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Menschen in einem Angstzustand leben. Nur jene sollen sich fürchten, die gegen den Aufbau des Sozialismus sind, nicht aber unsere guten Genossen und ehrlichen Bürger, die im treuen und großen Glauben zusammen mit uns beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft mitmarschieren. Solche Bürger dürfen nicht in Angst leben. Der Feind dieses Landes soll in Angst leben. Jeder, der meint, wir werden zurückgehen; jeder, der unserem sozialistischen Aufbau und unserer Partei, unserem Bund der Kommunisten Jugoslawiens Schaden zufügen will, soll in Angst leben. Das ist meine Antwort.

Ich möchte Sie, Genosse Präsident, nicht daran erinnern, daß der Marxismus seinerzeit sowohl bei uns als auch in Rußland völlig vom Westen importiert worden ist. Diesmal ist dies aber nicht der Fall. Der Kampf gegen die Idee des Einparteisystems, d.h. des Totalitarismus, die Idee also des demokratischen Sozialismus, ist nicht unter den „Klassenfeinden“ im Westen entstanden, denen jeder, auch der demokratische Sozialismus, fremd ist. Sie wurde spontan und zuerst von marxistischen Denkern, und gerade in der sozialistischen Gesellschaft — und nicht nur in unserem Lande — aufgenommen. Sie hat große Impulse erhalten, nachdem man fürchterliche Erfahrungen mit dem Stalinismus gemacht hatte.

Besonders der Stalinismus zeigt, in welche Sackgasse eine Gesellschaft gelangen kann, in der sich das Einparteisystem mit dem Sozialismus identifiziert. Gegner des Monopols der KP im gesellschaftlich-politischen Leben zu sein, will in keinem Fall heißen, Gegner des Sozialismus zu sein, sondern umgekehrt. Und gerade dort liegt die Ursache, warum fast alle westeuropäischen kommunistischen Parteien sich formell gegen die Einführung des Einparteisystemes ausgesprochen haben.

Der Sozialismus darf und kann nicht mit dem Einparteisystem identifiziert werden, weil jedes Einparteisystem nur eine Form des Stalinismus ist. Nur und ausschließlich dank Ihrer Person hat der jugoslawische Einpartei-Sozialismus im Vergleich mit dem sowjetischen Sozialismus humane Formen in den zwischenmenschlichen Beziehungen geschaffen. Es ist aber heute in Jugoslawien nicht etwa der Bund der Kommunisten eine Garantie für diese Humanität, sondern Ihre Person, was auch das vor kurzem abgehaltene 4. Plenum des ZK des BdKJ bestens beweist.

Ich bin mit Ihnen völlig einig, wenn Sie sagen, daß der Staatssicherheitsdienst nicht über der Gesellschaft stehen darf. Ich bin aber zudem der Ansicht, daß auch der Bund der Kommunisten Jugoslawiens — eine Organisation, die nur etwa 6% der Bevölkerung des Landes umfaßt — nicht über der Gesellschaft, über der Gesetzgebung und über der jugoslawischen Staatsverfassung stehen darf. Trotz aller großen und unleugbaren Verdienste in der Vergangenheit besitzt keinesfalls der Bund der Kommunisten Jugoslawiens das Monopol für den Aufbau des Sozialismus.

Die Duldung einer Meinung (die sich von der Ihren oder jener des BdKJ unterscheidet) durch die jugoslawische Gesetzgebung und Verfassung, führt in keinem Fall zur Ausschaltung Ihrer Meinung, wie auch die Gründung einer zweiten demokratischen und sozialistischen Partei nicht zur Vernichtung des BdKJ führen würde. Nur in einer Atmosphäre des freien, öffentlichen und legalen Meinungskampfes können eine Idee sowie eine sozial-politische Bewegung wachsen und sich entwickeln und nicht stagnieren und degenerieren. Ebenso der Marxismus und der Bund der Kommunisten Jugoslawiens.

Wie uns die Geschichte zeigt, hat sich das Volk immer, soweit die Voraussetzungen dies ermöglichten, frei für die fortschrittliche Seite entschieden. Ein Beweis dafür ist gerade der Sieg des BdKJ über die anderen bürgerlichen Parteien während des Krieges und nach der Befreiung. Da die heutige jugoslawische Staatsverfassung in aller Form jedem Bürger die Freiheit des Denkens und Handelns gibt, wird das Erscheinen eines Presseorgans, das unabhängig vom BdKJ bleibt, sowie die Gründung einer unabhängigen sozialpolitischen Bewegung in keinem Fall die Existenz des BdKJ bedrohen. Vorausgesetzt, daß Sie und der BdKJ das Vertrauen zu diesem Volk haben.

Da weder ich noch meine Gesinnungsfreunde uns als Gegner der sozialistischen Gesellschaft und unseres Landes betrachten, werden wir trotz aller Ihrer scharfen Worte nicht in Angst leben.

Wir haben mit der westlichen Presse nur Verbindungen gepflogen, weil wir bisher nicht offen vor unsere Öffentlichkeit treten konnten. Um unsere Ideen nicht mehr nur über die westliche Presse vortragen zu können und um Ihnen die Möglichkeit zu geben, sich nicht an „jene im Westen“ wenden zu müssen, sondern direkt an uns, hier, im Lande: aus diesen Gründen werden wir, eine Gruppe von Leuten aus dem ganzen Lande, uns vom 10.-13. August in Zadar zusammenfinden, um legal ein unabhängiges, demokratisches und sozialistisches Presseorgan für ideologisch-politische und sozial-kulturelle Fragen zu gründen.

Diese Zeitschrift wird zum Kern einer demokratisch-sozialistischen Bewegung werden, die sich völlig im Rahmen der jugoslawischen Gesetzgebung und Staatsverfassung halten wird. Sicher muß ich Sie nicht an die Paragraphen 39 und 40 der neuen jugoslawischen Staatsverfassung erinnern, die allen Bürgern — und nicht nur den Mitgliedern des BdKJ — die Freiheit des Denkens und des Handelns, die Pressefreiheit, die Redefreiheit, die Versammlungsfreiheit sowie die freie Organisation einer sozial-politischen Tätigkeit garantieren.

Sie, bzw. der BdKJ, haben selbstverständlich die Möglichkeit, mit gesetzwidrigen und polizeilichen Maßnahmen die Gründungszusammenkunft zu verhindern; jedoch müssen Sie dabei bedenken, daß Sie in diesem Fall der Weltöffentlichkeit den Beweis liefern würden, daß Ihre eigenen Worte über die Demokratie und die Respektierung der Gesetzgebung der Staatsverfassung nicht mit Ihren Taten im Einklang stehen. Der Ausgang dieser Zusammenkunft in Zadar wird die Fragen beantworten: Steht der BdKJ über den Gesetzen und der Staatsverfassung? Ist Jugoslawien privates Eigentum der KP oder ein echt sozialistisches Land, in welchem die Gesetze und die Staatsverfassung respektiert werden? Kurz gesagt: Kann ein Land, in welchem die Kommunisten seit zwei Jahrzehnten die Macht innehalten, zugleich auch Rechtsstaat sein?

Ich hoffe, Sie werden die Gründe verstehen, die mich gezwungen haben, Ihnen auf eine solche Art in der Öffentlichkeit zu antworten. Ich habe dabei keine Illusionen, daß dieser mein Brief in der jugoslawischen Presse veröffentlicht wird; er wird nur in der westlichen Presse erscheinen. Dies beweist bloß, daß heute Ideen aus sozialistischen Ländern nach dem Westen exportiert werden und nicht umgekehrt. Ein drastisches Beispiel sind die Bücher von Milovan Djilas.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebener
Mihajlo Mihajlov

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1966
, Seite 464
Autor/inn/en:

Mihajlo Mihajlov:

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