FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1989 » No. 428/429
Louise Mack

Aus Staatsraison

Stellen Sie sich vor: Sie lassen Ihren Wagen langsam in eine ruhige Kreuzung rollen, hören hinter sich plötzlich ein tierisches Gebrüll und einige unverständliche Worte. Im Rückspiegel sehen Sie, mitten in der Gasse, einen mit ausgebreiteten Armen und wehendem Mantel auf Ihren Wagen losstürmenden Burschen. Links neben Ihnen, auf dem Trottoir, offensichtlich sein Freund. Leicht angeödet denken Sie „was wollen denn diese beiden Narren“ — da hören Sie von hinten: „Aah, ich bin soogeil — so geil! — ich halt’s allein nicht länger aus!“

Ich hoffe, Sie würden wohl auch breit grinsen, womöglich mit Ihrem hinausgerufenen Kommentar einen Wortwechsel eröffnen — und sich ziemlich angeregt fühlen. Hemmungslosigkeiten ... es ist ja nicht gerade viel, was sich hierzulande in dieser Hinsicht finden läßt. Am ehesten scheinen wüste Schimpftiraden von Taxlern, ein wilder Wortwechsel zwischen zwei standfesten Trinkern und — in seltenen Fällen — giftige oder larmoyante Ergüsse nach den ersten Drinks eine gewisse Tradition zu haben. Doch seit einiger Zeit scheint eine besondere Art von Hemmungslosigkeit en vogue zu sein: Selbstbezichtigungen, deren Inhalt Straftatbestände sind.

Nach den ersten Unverbindlichkeiten — es können auch Bemerkungen zum Tagesgeschehen sein — nachdem Alkohol die Zungen gelöst hat und jeder in der Runde meint, alle anderen seien mehr im Öl als er selbst ... da wird einer unerwartet zum Kandidaten. Mag sein, daß Prahlerei mit im Spiel ist, meinetwegen auch die Attraktivität der Rolle des „bösen Buben“, vielleicht ist es auch ein Versuch, Vertrautheit zu fördern oder auch nur das Öffnen eines Überdruckventils. Aber warum bloß entfaltet dieser Mensch just bei den für ihn selbst heikelsten Punkten so ungewöhnlichen Detailreichtum? Überraschend hartnäckig bleibt er bei seinem Thema — nicht einmal die Warnung seines besonnenen Freundes bremst ihn. Der Verdacht liegt nahe, daß er zu seiner sicheren, soliden Existenz das für diese größtmögliche Risiko sucht. Russisches Roulette erscheint vergleichsweise banal: Der Reiz ist kurz und der Einsatz ist das nackte Leben. Selbstbezichtigungen im losen Gefüge des privaten Kreises sind — wegen der Vielfalt an Unwägbarkeiten — in jeder Phase und lange wirklich spannend: wenn auch sonst nichts geschieht, so verändert sich doch der Handlungsspielraum.

Und wenn diese, einem Staatsstreich nahekommende, ausgeweitete Affäre das Ergebnis wäre von ungehemmten Selbstbezichtigungen im nie sehr engen, „engsten“ Kreis und deren Verwertung durch gelegentliche Zuhörer, die ausnahmsweise nüchtern geblieben wären, um desto besser ihren Rachegelüsten, ihrem Aufstiegswillen oder ihrem Auftrag zu folgen?

Ein Plädoyer für mehr Selbstentblößung und Hemmungslosigkeit im nüchternen Alltag ist überfällig. Hier, wo eines der Erbstücke der Monarchie, die Formversessenheit, das öffentliche Verhalten der einzelnen unerträglich einschnürt ...

Aus Gründen der Staatsräson sollten wir uns das Recht zu dreisten Pikanterien und wüsten Wortgefechten nehmen, freilich im vollen Bewußtsein der Flut von daraus folgenden Anzeigen und Klagen. Unseren ahnungslosen, schlechtberatenen Politikern müßten wir das nämliche Recht vermutlich durch eine Volksabstimmung aufdrängen, sonst trauen sie sich ja nie! Auf diese Weise von einigen Zwängen befreit, mit hoffentlich mobilisiertem, kreativem Potential heißt es dann allerdings: „An die Arbeit, meine Herren!“

Oder soll denn die nächste Politikergarnitur das selbe Jammerspiel bieten? Und wir weiterhin mit den Streitereien um den Wortlaut eines verschwundenen Dokuments gelangweilt werden, während wir vergeblich auf politische Entscheidungen warten — längst gleichgültig geworden gegen Korruption und Amtsmißbrauch?

Zu neuen Tugenden erhoben, ja, zum Anspruch geworden, könnten Hemmungslosigkeit und Selbstentblößung ein brauchbares Terrain für die Lust am Risiko bieten — und vor allem gäbe es reichlich Material für Witze, Spötteleien und — sei’s drum — jede Menge belustigender Zivilklagen wegen Rufschädigungen.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
August
1989
, Seite 76
Autor/inn/en:

Louise Mack:

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Begriffsinventar