FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 193
Hartmut Lück

Adorno als Geist, Eisler als Praktikus

Filmmusik und die Ursachen

Die Pflicht aller Theoretiker ist es, zu hoffen, daß der andere die Revolution macht.

Spruchblase aus dem Munde Adornos auf einem Flugblatt während des Frankfurter Studentenstreiks, Dez. 1968.

Theodor W. Adornos Bedeutung für die Entwicklung materialistischer Kategorien bei der Analyse musikalischer Phänomene wird in nichts geschmälert, und der rückwärtsgewandten („rechten“) Adorno-Kritik aus dem Lager der traditionellen Musikwissenschaft und Musikpädagogik, die dessen Erkenntnisse über die gesellschaftlichen, nicht zuletzt auch ökonomischen Implikationen musikalischer Produktion und Konsumierung nicht wahrhaben will, werden keine neuen „Argumente“ geliefert durch die Feststellung, daß auch aus seiner letzten Buchpublikation ein Widerspruch abzulesen ist, der ihn zeit seines Lebens begleitet hat: der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, zwischen theoretisch bis in Details ausformulierter Erkenntnis kritikwürdiger musikalisch-politischer Zustände einerseits und andererseits der ausdrücklichen Weigerung, methodische Hinweise zu einer möglichen Veränderung jener Zustände beizusteuern, geschweige denn die Konsequenz des eigenen Denkens im Sinne auch eigener verändernder Praxis voll zu übernehmen.

Das Buch heißt „Komposition für den Film“, es erschien im August 1969 ım Rogner und Bernhard Verlag in München und nennt als Mitautor Hanns Eisler, den 1962 in der DDR verstorbenen Komponisten und Schüler Arnold Schönbergs.

Die gemeinsame Arbeit geht auf die vierziger Jahre zurück: Eisler und Adorno, durch den Faschismus aus Deutschland vertrieben und nach den USA emigriert, waren dort mit thematisch benachbarten Forschungen beschäftigt; im Auftrage der Rockefeller Foundation hatte Eisler die Leitung des Film Music Project übernommen, Adorno betreute den musikalischen Teil des Princeton Radio Research Project.

Im musikpolitischen wie im technologischen Sinne lag ein ähnliches Vorgehen nahe, und dies veranlaßte die beiden Autoren, ihre Erfahrungen in einem gemeinsamen Manuskript niederzulegen, das im Jahre 1944 beendet wurde und über dessen weiteres Schicksal Adorno im Nachwort der jetzigen Edition folgendes schreibt:

Zunächst kam es 1947 bei der Oxford University Press in New York in englischer Sprache heraus. Als Autor zeichnete Eisler allein. Zu jener Zeit wurde in den Vereinigten Staaten Gerhart, der Bruder des Komponisten, wegen seiner politischen Aktivität aufs heftigste angegriffen und Hanns Eisler in die Affäre hineingezogen. Ich hatte mit jenen Aktivitäten nichts zu tun und wußte nichts von ihnen. Eisler und ich hegten keine Illusionen über unsere politischen Meinungsverschiedenheiten. Wir mochten unsere alte, auf 1925 zurückdatierende Freundschaft nicht gefährden und vermieden es, Politisches zu diskutieren. Keinen Anlaß hatte ich, Märtyrer einer Sache zu werden, die nicht die meine war und nicht die meine ist. Angesichts des Skandals trat ich von der Mitautorschaft zurück. Damals schon zur Rückkehr nach Europa entschlossen, fürchtete ich alles, was sie hätte behindern können.

(213)

Unter diesen Umständen ist es kaum verwunderlich, daß auch die erste deutsche Ausgabe nur unter Eislers Namen erschien, nämlich 1949 im Ostberliner Henschel-Verlag; ebenso der Nachdruck der englischen Fassung (Dennis Dobson Ltd., London 1951).

Erst jetzt, dank der Initiative eines an musikalischen Raritäten interessierten kleinen Verlages gab es eine Neuauflage; erst jetzt auch, wiederum im Nachwort, konstatiert Adorno in Eislers Ausgabe von 1949 Veränderungen und Abweichungen vom ursprünglichen Text, Retuschen gemäß dem „offiziellen sowjetischen Kurs“ (214); er wirft Eisler vor, dieser habe „die Sprache auf Kosten ihrer Härte und Prägnanz popularisiert“ (ebd.), und Adorno behauptet, er lege nun die von „beide(n) Autoren 1944 gemeinsam und definitiv fertiggestellt(e) deutsche Originalfassung“ vor (213).

Die Abweichungen sind in der Tat vorhanden, aber erstens nicht nur zwischen den beiden deutschen Fassungen (Eisler 1949, Adorno 1969), sondern auch zwischen der Adorno-Version und der englischen Ausgabe, die Adorno nicht inkriminiert; und zweitens lassen sich die meisten Unterschiede kategorisieren und begründen, wenn auch nicht immer rechtfertigen, wobei offenbleiben muß, welche Version das Original ist und ob dieses überhaupt (noch) existiert; die massive Kritik an seiner Edition des Oeuvres von Walter Benjamin (vgl. u.a. Nr. 5960, April/Junı 1968, der Zeitschrift „Alternative“) dürfte Adorno zur Vorsicht bei der Herausgabe des Textes „Komposition für den Film“ verhalten haben, dennoch läßt sich einiges gegen seine Version anführen, nicht zuletzt die Tatsache, daß Adornos Verhalten 1947 sowie die darauffolgenden Ausgaben von Hanns Eisler nicht ohne weiteres für null und nichtig erklärt werden können.

Objektive Widersprüche zwischen Film und Musik, künstlerischer Produktion und gesellschaftlicher Wirklichkeit, auch solche Widersprüche, die innerhalb der Musik und ihrer Formen als gesellschaftliche definierbar sind, werden in der Adorno-Version zurückgenommen auf den Bereich der Musik; Formulierungen wie „immanente Entwicklung“ (Eisler: „Entwicklung“ bzw. schärfer „objectively pronounced“), „verdankt sich“ (Eisler: „verdankt sie“; man beachte die veränderte Subjekt-Objekt-Beziehung), auch — hinsichtlich der Arbeit Eisensteins — „Freiheit der ästhetischen Erfahrung“ (Eisler: „Freiheit und ästhetische Erfahrung“) machen dies deutlich.

Gelegentlich schwächt Adorno den Text ab: „gesellschaftliches Desiderat“ (Eisler: „Notwendigkeit“ und „social need“) oder „Anliegen“ (Eisler: „Aufgabe“, „task“). „As being threatened by muteness“ ist eine präzise, durchaus Alternativen offenlassende Formulierung. „Sie sind nicht mehr fern vom Verstummen“ wendet den Sachverhalt ins fast schon Unabänderliche.

Der Passus über das „Zugeständnis an jenen Konformismus der Hörgewohnheit“, bezogen und treffend angewendet auf die dysfunktionale Übernahme barocker und klassischer Formprinzipien in der Periode des Neoklassizismus, fehlt in beiden Editionen Eislers, der in einer andersgearteten historisch-gesellschaftlichen Situation eben diese Rückwendung der musikalischen Sprache vollzog und daher eine solche Formulierung nicht verantworten konnte, die sich dem großbürgerlichen Kultursnobismus annähert.

Adorno duckte sich

Aus ähnlichen Gründen möglicher Mißdeutung strich Eisler eine Parenthese über „völlige ideologische Planung“. Sie war im englischen Text recht deutlich auf eine bestimmte Situation, nämlich den monopolistischen Konsumkapitalismus speziell in den USA, bezogen, im Gegensatz zu Adorno, dessen sehr allgemeine Formulierung sich als Argument für die bürgerliche Totalitarismusdefinition geradezu anbietet; Eislers deutsche Fassung verzichtet ganz darauf, wohl wissend, daß dies gegen ihn und die sozialistische Gesellschaft, für die er stand, ausgenutzt werden würde.

Adornos undifferenzierte Wendung ist nur eine von den in seinem Werk häufigen irrational antikommunistischen Einsprengseln im rationalen Gedankenbau des reinen Geistes. Noch in den sechziger Jahren formulierte Adorno bedenkenlos „östliche Kulturvögte“ (Dissonanzen, 46), „Sowjetzone“, „Ostsphäre“ (ebd. 47), „ostzonaler Gesellschaftswissenschaftler“ (Musiksoziologie, 70), „parteipolitische Propaganda und totalitäre Maßnahmen“ (ebd. 75), „Ostbereich“ (ebd. 78); selbst vor dem faschistischen Wort „Kulturbolschewismus“ (Philosophie der neuen Musik, 136-137; Impromptus, 92) schreckte er nicht zurück.

Eislers Kürzungen am Originalmanuskript als Retuschen im Sinne des „offiziellen sowjetischen Kurs(es)“ (Adorno, 214) zu interpretieren, ist kaum verständlich: Eisler ließ mehrfach Ausführungen über die Werke der Wiener Schule fallen, da diese dem damaligen Leser in der DDR unbekannt sein mußten, weitere Kürzungen haben den Inhalt nirgends wesentlich beeinträchtigt, schon gar nicht ihn den damaligen kulturpolitischen Vorstellungen der Sowjetunion unterworfen.

Flugblatt während des aktiven Streiks der Frankfurter Studenten, Dez. 1968
„Lieblingsinstitut der Marx Brothers“ ist das Institut für Sozialforschung; Lehrkräfte ebendort: Prof. Werner Friedeburg („Friedelurch“), Prof. Theodor W. Adorno (mit Glatze und Brille), Prof. Jürgen Habermas („Harpomas“).

Es geht hier nicht darum, Text-„Fälschungen“ in der einen oder anderen Richtung zu eruieren. Eine „richtige“ Fassung des Textes gibt es nicht; wenn Adorno behauptet, diese jetzt vorzulegen, so ist dies nicht nachprüfbar, wohl aber anfechtbar; seine Charakterisierung des Werkes als ein „keineswegs politisches Buch“ (214) zeigt nur, daß er vorhandene Widersprüche und unterschiedliche politische Konsequenzen im reinen Geiste der kritischen Theorie auflösen will.

Wird die kritische Theorie objektiv relevant, schlägt sie in praktische, revolutionäre Tätigkeit um oder die Praxis auf sie zurück, ist Adorno nicht mehr bereit, dafür einzustehen: Er zieht seinen Namen zurück und damit sich selbst aus der Verantwortung, deutet den Skandal der Diskriminierungen in der amerikanischen Gesellschaft zum Skandal der Gebrüder Eisler um, akzeptiert die entwürdigende Behandlung der Naziverfolgten durch das McCarthy-Komitee zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeit, da es nicht „seine Sache“ ist, wenn Freunde von ihm einzig wegen ihrer politischen Überzeugung (oder dem, was die kalten Krieger dafür hielten) vor Gericht gestellt werden.

Kaum glaubhaft klingt es, wenn er für sein Verhalten Eislers „volles Verständnis“ anführt (213), aus Eislers Mund hört sich die Sache auch schon ganz anders an: „Er würde sich öffentlich kaum mit mir zeigen, geschweige denn seinen Namen hergeben“ (in einem der Tonbandgespräche mit Hans Bunge).

Adorno tat letzteres erst lange nach Eislers Tod und in ungefährlicher Zeit; die schärferen Konturen, die der Text in der Zwischenzeit (und zumindest im Falle der englischen Ausgabe durchaus ohne Vorbehalte von seiner Seite) gewonnen hatte, ignorierte er, den politischen, in der Konsequenz des ästhetischen Standpunktes kulturrevolutionären Charakter des Buches versuchte er herunterzuspielen. Diese Bedeutung des Textes ist im folgenden aufzuzeigen.

Um von der Funktion der Musik im Film Rechenschaft zu geben, muß man auf die gegenwärtige Funktion von Musik überhaupt eingehen. Das Verhältnis der Musik zum Film ist nur der ausgeprägte Fall dessen, was ihr in der hochindustriellen (E. monopolkapitalistischen) Kultur zugemutet wird.

(A. 41) [1]

Die Zumutung, von der hier die Rede ist, meint die Verwertung jeglichen Kunstwerkes im spätkapitalistischen Warenverkehr, in dem das Angebot die Nachfrage bereits impliziert und manipulativ vorwegnimmt — Verwertung speziell des musikalischen Kunstwerkes, das, vordergründig, als bedeutungs-los, aussage-los erscheint und in diesem Sinne, als absolutes, außerhistorisches Phänomen, verbreitet und permanent reproduziert wird, als Ware, als Droge, die Entspannung bringt vom „Arbeitnehmer“-Dasein und den Konsumenten für dieses regeneriert.

Dabei ist die Trennung von sogenannter „E-Musik“ und „U-Musik“ rein ideologisch, sie dient dazu, die verschiedenen kulturellen Ansprüche klassenmäßig unterscheidbarer gesellschaftlicher Gruppen zu befriedigen, die einen, als Elite, in ihrer Klassenposition zu bestätigen, die anderen eben darüber hinwegzutäuschen, sie als Klasse nicht zu sich selbst kommen zu lassen. Als Marktobjekt hingegen, und nur das zählt in dieser Gesellschaft, sind beide Sparten der Musik völlig identisch — der Wahrheitsanspruch traditioneller Kunstwerke verschwindet in seinem Warencharakter, den die total organisierte Produktion der „leichten Musik“ sowieso nie transzendierte.

Trotz der quantitativen Vielfalt der Darbietungen ist den Konsumenten in Wahrheit nur scheinbar Freiheit der Auswahl gelassen. Die Produktion ist vorweg in administrative Felder aufgeteilt, und was durch die Maschinerie läuft, trägt ihre Spur, vorverdaut, neutralisiert, nivelliert. Der alte Gegensatz von ernster und leichter Kunst, niederer und hoher, autonomer und Unterhaltung beschreibt nicht mehr das Phänomen. Alle Kunst, als Mittel, Freizeit auszufüllen, wird zur Unterhaltung, während sie zugleich Stoffe und Formen der traditionellen autonomen Kunst als ‚Kulturgüter‘ in sich hineinzieht.

(A. 13-14)

Mit der Analyse der Musik im Film haben Adorno und Eisler nicht nur den krassesten Fall marktmäßiger Organisation musikalischer Produkte, sondern auch, gesamtgesellschaftlich, dasjenige Medium des „Überbaus“ beschrieben, das die Perpetuierung politischer Bewußtlosigkeit auf dem höchsten technologischen Niveau betreibt.

Während in der Betriebsamkeit der Konzert- und Operndarbietungen immerhin noch der Anspruch erhoben wird, integrale Kunstwerke zu vermitteln, hat die Filmbranche bereits die Hits und die geläufigen „Melodien“ aus dem klassischen Repertoire herausgebrochen und als Erkennungsmarken wechselnder „Stimmungen“ zur Untermalung verwertet; Mondscheinsonate und barockes Concerto, aber auch nachempfundende, pseudoklassische Stücke stehen dafür, gemeinsam ist ihnen der untermalende, dienende, einen sentimentalen Background liefernde Charakter. Dafür ist konventionelle Musik im konventionellen Film gut; so wenig wie die Klischees der Filmindustrie dient sie irgendeiner Aufhellung, Bewußtwerdung.

Es ist klar, daß ein politisch engagierter Künstler wie Hanns Eisler nicht bei der Analyse stehenblieb. Es kam ihm darauf an, der Musik eine konkrete dramaturgische Funktion zuzuweisen, die sie bereits bei der Konzeption des Drehbuches erhalten sollte, Funktion im Sinne einer Verdeutlichung oder auch Kontrastierung des Sichtbaren; und sie sollte auch nur dann eingesetzt werden, wenn die Dramaturgie dies erforderte:

Einstweilen mag als Forderung gelten: musikalische Illustrationen sollten entweder überdeutlich, gleichsam überbelichtet und damit interpretierend sein oder fortfallen. Für Flötenmelodien, die den Ruf eines Vogels ins Schemabereich runder Nonenakkorde zwingen, ist unter keinen Umständen Raum.

(A. 31)

Als filmisches Material zur Erprobung dieser Vorstellung dienten Dokumentarfilme fortschrittlicher Regisseure, zum Beispiel komponierte Eisler Musik zu „Kinderszenen“ von Josef Losey sowie zu „Regen“ und „Naturszenen“ (auch unter dem Titel „Eis“ bekannt) von Joris Ivens. Es kam hier nicht darauf an, vom Hintergrund der Musik her unterbewußte Assoziationen zu wecken, sondern die Musik sollte, rational geplant, mon▒▒▒▒▒ [*] — genau in dem Sinne, als er von den rein musikalischen Neuerungen, der Schönberg-Schule, die ihm nicht genügten, zu gesellschaftlichen Neuerungen fortschritt: er schloß sich der Arbeiterbewegung an und wirkte bis 1933 in ihrem Sinne auch als Komponist. Später hat er dies eine „historisch notwendige Zurücknahme der Musik auf ihre Gebrauchsfunktion“ genannt, eine Zurücknahme, die in der Tat nicht zum „lyrischen Geplätscher“ führte, sondern zu einer Vereinfachung, die durch das gesellschaftliche Bedürfnis („social need“, s.o.) bestimmt wurde, die kompositorische Verfahrungsweise nicht verwässert und keine faulen Kompromisse gemacht hat (vgl. Eislers „Wiegenlieder einer proletarischen Mutter“).

Ähnliches ließe sich über Eislers Tätigkeit in der DDR sagen; Verbreitung und Demokratisierung des Musiklebens in einer neuen und für eine neue Gesellschaft, das konnte auf die „Verfahrungsweise“ nicht ohne Einfluß bleiben.

Wenn sich Adorno auch über Eislers Tätigkeit am Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre in reserviert-freundlichem Tonfall geäußert hat, was jedoch durch nachfolgende Ausfälle gegen den „Ostbereich“ wieder relativiert wurde (Musiksoziologie, 77-78), so schien ihm durch die revolutionäre ästhetische Position des Filmmusikbuches nicht so ganz dem Rahmen der kritischen Theorie sich einzufügen, weswegen er sich auch sonst nie wieder so weit vorwagte. In seiner „Philosophie der neuen Musik“ klingt ein Passus über Material und Verfahrungsweise schon etwas anders:

Wenn nicht alles trügt, schließt er (der Kanon des Verbotenen — Anm.) heute bereits die Mittel der Tonalität, also die der gesamten traditionellen Musik, aus. Nicht bloß, daß jene Klänge veraltet und unzeitgemäß wären. Sie sind falsch. Sie erfüllen ihre Funktion nicht mehr. Der fortgeschrittenste Stand der technischen Verfahrungsweise zeichnet Aufgaben vor, denen gegenüber die traditionellen Klänge als ohnmächtige Klischees sich erweisen.

(Philosophie der neuen Musik, 38.)

Adornos praktische Anteilnahme an der weiteren Entwicklung des deutschen Musiklebens der Nachkriegszeit — als Kritiker und Theoretiker — hat denn auch vielfach die Positionen der „Ideen zur Asthetik“ des Filmmusikbuches nicht gehalten.

In den Diskussionen auf den Darmstädter Ferienkursen betrieb er positivistische Strukturdeutelei, Tanz um den goldenen Materialfetisch.

Mit seinem Lamento über das „Orchestersterben“ befand sich Adorno in merkwürdiger Übereinstimmung mit den von ihm sonst gern befehdeten ewig-jugendbewegten Wahrern der deutschen Musikkultur, die nicht wahrhaben wollen, daß sich die monopolistischen Konzentrationsbewegungen der spätbürgerlichen Gesellschaft auch auf den Musikwarenmarkt erstrecken. Spitzenorchester, Funk, Fernsehen und Schallplatte sind hier das Pendant zum Supermarkt, demgegenüber die Provinzensembles schon aus sachlichen Gründen, nicht etwa nur aus finanziellen, Pleite machen müssen.

Adornos rein literarische, un-praktische Musiksoziologie, seine notorischen, so wenig dialektischen Ausfälle gegen jene Versuche in den sozialistischen Ländern, durch eine Verbreiterung des musikalischen Grundlagenwissens und des Musiklebens, auch mit den Mitteln und Techniken, die nach Adorno historisch „falsch“ (s.o.) sein sollen, jene Befreiung der Musik, jene rationale und autonome Verfügung über sie nach den unmanipulierten Bedürfnissen aller, gesellschaftlich überhaupt erst möglich zu machen — in all dem verdeutlicht sich der Rückzug einer einmal erreichten, politisch relevanten Erkenntnis auf die in sich selbst ruhende, auf dem Kopf stehende Dialektik des philosophischen Überbaus.

Sie (die Musik — Anm.) ist Ideologie, insoweit sie sich als ein ontologisches Ansichsein jenseits der gesellschaftlichen Spannungen behauptet.

(Philosophie der neuen Musik, 123.)

Nun denn: es gilt, den einmal erreichten und nicht zu umgehenden Erkenntnisstand eines „keineswegs politischen Buches“ (s.o.), aber natürlich sehr politischen Buches vom Kopf auf die Füße zu stellen, die Ideologie autonomen, „materialgerechten“ Komponierens, die Ausdruck gesellschaftlicher wie künstlerischer Unmündigkeit ist, zu zerschlagen und in der fortgeschrittenen Musik dahin zu gelangen, wo das Kunstwerk sein „ontologisches Ansichsein“ aufhebt, wo Musik zur Information, zur gesellschaftlichen Wahrheit wird.

[1Soweit nicht anders angegeben, stammen die Zitate aus „Komposition für den Film“; A. = Ausgabe Adorno 1969, E. = Varianten der Ausgabe Eisler 1949.

[*Hier ist in der gedruckten Ausgabe mindestens eine Zeile dem Umbruch zum Opfer gefallen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1970
, Seite 37
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Hartmut Lück:

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