FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1967 » No. 158
Peter Demetz

150 Jahre Germanistik

Jubiläumsbetrachtungen statt eines Nekrologs

Die Germanistik ist eine sehr junge Wissenschaft, aber sie hat viel Vergangenheit. Im Grunde zählt sie zu den romantischen Parvenus, die sich Traditionen anmaßen. Die Philosophie und die klassische Philologie blicken mit tausendjährigen Rechten auf sie herab; und ihre vielfältigen Organisationen, Verwaltungsmaschinerien, Interessenverbände, Zeitschriften, Bibliographien und Kongresse verbergen nicht, daß ihr, mit kaum hundertfünfzig Jahren, die fraglose Selbstsicherheit der großen alten Disziplinen fehlt; sie hat bisher mehr Anlehnungsbedürfnis als Gewißheit ihrer selbst verraten. Im Vergleich zu den traditionsreicheren Wissenschaften ist die Germanistik noch ein Kind, aber nichts Kindliches zeichnet sie aus. Im Gegenteil: sie erinnert an die frühreifen, ein wenig pervertierten Kinder, die auf den dumpfen Dachböden der Kafka’schen Welt ihr Wesen treiben; quicklebendig, aber erblich belastet; erfahren, aber von Süchten und Sünden früh geplagt; und obgleich sie sich gerne taufrisch gibt, und es noch unlängst liebte, im völkisch unschuldigen Dirndl einherzukommen, hat sie längst mit den verschiedensten Herren geschlafen und weiß, wie man sich, zu einigem Profit, unterwirft. Halb Lorelei, halb Odradek, die unsicherste Kantonistin im Troß der stärkeren Bataillone, so steht sie vor meinem Auge; jung noch, aber schon verbraucht von den Erschlaffungen ihrer vielen Irrwege.

Rudolf Walter Leonhardt sprach einmal vom Sündenfall der Germanistik, aber ich weiß nicht, ob man nicht von ihren herkömmlichen Lastern sprechen sollte, die zum unausweichlichen Sündenfall führten. Bedenkenswert, daß keine der anderen Philologien zu je ähnlich radikalem Unbehagen Anlaß gab; ich kann mich nicht erinnern, daß die Romanistik oder Anglistik je Gegenstand gleich heftiger Polemiken gewesen wäre. Die drei hervorstechendsten Laster der Germanistik sind Provinzialismus, Selbstflucht und Wertscheu; und obwohl sie selbst die Geschichte zu ihrem Lebensprinzip erhebt, hat sie es bisher versäumt, gründlich über die Bedingungen und die Konsequenzen ihrer eigenen Geschichtlichkeit nachzudenken. Sie begreift alles historisch, nur die eigene Geschichtlichkeit ist tabu; und es ist kein Zufall, daß Sigmund von Lempickis vorbildliche Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, die vor mehr als vierzig Jahren erschien, gerade in jenem Augenblick des achtzehnten Jahrhunderts ihr Ende findet, da sich die methodologischen Gedankenzüge der Germanistik zu formen beginnen und Werner Mahrholz’ aufklärende Studie über die germanistische Moderne noch der unerschrockenen Nachfolge ermangelt.

Ich spreche vom Provinzialismus der Germanistik, aber ich meine nicht die förderliche Begrenzung auf jene Sphäre der Weltliteratur, die ihre Leistungen in deutscher Sprache konstituiert; auch ich halte nichts von jenem Snobismus, der den Surrealismus und Kafka unterm Strich zusammenwirft, ohne die literarische Individualität des einen oder anderen zu respektieren. Die Germanistik tut nichts Unrechtes, wenn sie auf den Grenzen des Forschungsgegenstandes beharrt; es kommt nur darauf an, wie sie das tut. Die Begrenzung des Forschungsgegenstandes wird zur Isolation, sobald sie auch Horizont und Methode des Forschers verengt; und oft, wenn ich ein deutsches Seminar betrete, hab’ ich das bestimmte Gefühl, mich in einem geradezu emblematischen Raume zu finden, in welchem Glanz und Elend einer Wissenschaft fast ungetrennt beisammen sind. Die ein wenig verstaubten Bücherwände, die guten Klassikerausgaben, die mittelhochdeutschen Wörterbücher: als ob die deutsche Dichtung wahrhaftig je in einer solchen Einsamkeit gelebt hätte, welche den Variorum Shakespeare ins anglistische Seminar verweist? Ich weiß nicht, ob wir nicht in unserer schnellbewegten Welt allen Grund besäßen, alle germanistischen Seminare, als anachronistische Käfige des Intellekts, zu schließen, um in hellere, freiere, universalere Räume zu übersiedeln, in denen Goethe neben Homer, Voltaire neben Lessing, George Eliot neben Stifter stehen, und Aristoteles oder Sainte-Beuve, nicht Petsch oder Pongs, zur fundamentalen Studien-Lektüre zählen? Spreche ich vom Provinzialismus, meine ich jenes Verfahren, das die deutsche Literatur dem Weltkreis entzieht und vorgibt, sie hätte ihr intellektuelles Auskommen immer nur im eigenen Hause gefunden. Mangel an Welthorizont: das ist nicht nur (wie Hans Mayer sagt) Lessing ohne Diderot interpretiert, das ist: Gryphius ohne Corneille; Lohenstein ohne Marini; die Stürmer- und Dränger ohne Mercier; Herder ohne Blackwood, Percy oder Warton; die Romantiker ohne den flüchtigsten Blick auf Byron, Hugo und Mickiewicz; Stifter ohne Cooper; Fontane ohne Jane Austen; die Expressionisten ohne Marinetti; Benn ohne Taine; Brecht ohne die commedia dell’arte; das ist die ganze verwerfliche, undenkende und ruhmlose Art, die deutsche Literatur so zu lehren, als entstammte sie nicht eben jenem Lande, in dem ein Hochgebildeter den Begriff der Weltliteratur postulierte. Zuerst fehlt’s an Horizont, und nur ein wenig später erklärt man den heimatkundlichen Fetischismus, ob er sich nun volks- oder stammesträchtig gibt, mit amtlicher Förderung zur Literaturwissenschaft.

Aber leider wird die Dürftigkeit des Horizonts zugleich durch den Provinzialismus der Methode potenziert. Ich meine jene seltsame Vorstellung, man vermöchte sich der deutschen Dichtung allein durch jene Methoden zu bemächtigen, die sich von deutschen Träumern und Denkern herleiten. Autarker Geist ist blinder Geist; ich bin durchaus nicht überzeugt, daß dem nationalen Gegenstande eine mehr oder minder lockere Kombination nationaler Methoden entsprechen müßte. Warum immer nur das Morphologische, das Erlebnis, die Geworfenheit, die Entfremdung? Warum nicht einmal ebenso formalistisch wie die Russen; strukturell wie die neuesten Franzosen; kritisch wie die Amerikaner? Regierte der Geist der Germanistik die Medizin, man wäre immer noch versucht, Infektionen mit Blutegeln aus heimatlichen Mooren zu behandeln anstatt nach dem ausländischen Penizillin zu greifen.

Das andere Erblaster der Germanistik ist ihre Selbstflucht, oder das herkömmliche Bemühen, jede entschiedene Konzentration auf den literarischen Gegenstand zu meiden und selig in den außerliterarischen Landschaften zu schwärmen. Die Germanistik hat leider (in einigem Gegensatz zu den anderen Philologien) als Ersatz- und Kompensationstätigkeit ihren Anfang genommen und war lang in Gefahr, eine zu bleiben; je weniger Rechte, je weniger spontane staatliche Ordnung die Nation in der Epoche der französischen Revolutionskriege besaß, desto drängender die Versuchung, nach germanischen Rechtsaltertümern zu suchen und von einer substantielleren Vergangenheit zu träumen; je unerträglicher die öffentliche Misere, desto lockender die Notwendigkeit, einen Bezirk aus lauter Vergangenheit, Sprache und Innerlichkeit zu schaffen, in dem sich die Existenzfragen der Nation widerstandsloser lösten als in der störrischen Empirie. Die Germanisten waren leider politische Missionare, und ihre Wissenschaft hatte sich die Aufgabe gestellt, die Energien einer geschlagenen und enttäuschten Nation zu fördern und zu nähren; die einen, die „Germanisten“ im ursprünglich politisch-juristischen Sinne des Wortes, suchten nach kräftigenden Rechtsdokumenten; die anderen, Menzel und Gervinus darunter, proklamierten mit altfränkischer Aufrichtigkeit, daß alle Literatur der politischen Tat voranginge und daß es hoch an der Zeit wäre, dem Papierenen der Literaturgeschichte durch staatliche Umwälzungen ein rasches Ende zu setzen. Ich kann mich des Verdachtes nicht erwehren, daß es, fast hundert Jahre lang, die Außenseiter waren, die sich die eigentlich artistischen und literarischen Aufgaben der Germanistik zur Bürde, wo nicht zum Martyrium wählten: theoriebesessene Denker wie Otto Ludwig; nüchtern und handwerklich denkende Schriftsteller wie Gottfried Keller; melancholische Wissenschafts-Emigranten wie Karl Hillebrand ... Die Germanistik als Institution war indes mit anderem beschäftigt: mit Weltgeist, Nation, Folklore, Organischem, Seele.

Das dritte Hauptweh der Germanistik, die Wertscheu, hat sie lange zu einer Eunuchen-Disziplin reduziert; wie wollte man Texte edieren oder Texte deuten, ohne ja und nein zu sagen und kritische Entscheidungen zu fällen? Allzu lange wollte die eine Hand nicht wissen, was die andere tat; und während man seit jeher die resolutesten Werturteile implizierte, wollte man nichts mit Kritik zu tun haben, denn man besaß mehr als eine Theorie, welche jedes Werturteil aus der Sphäre der Wissenschaft verwarf; während man diesen Autor genau erforschte, jenen ignorierte, und die Studenten zu ganz bestimmten Dissertationsthemen anhielt, pochte man zugleich darauf, daß alle gute Literaturwissenschaft wertfrei sei. Die neueren Studien von Hans-Georg Gadamer und Walter Müller-Seidel (von denen sich eine wirksame Revision der problematischen Wertfreiheit herleiten sollte) demonstrieren, daß das kritische Übel sehr früh begann. Im Sturm-und-Drang schon maßte sich jeder aufgeregte Provinz-Jüngling das Recht an, die aufgeklärten Normen einer kosmopolitischen Gesellschaft über’s egoistische Knie zu brechen, weil er den guten Geschmack allzu eng mit dem ancien régime der Regelpoetik verbündet glaubte; die Hegelianer mißachteten den Literaturkritiker, weil er nicht den objektiven Geist repräsentierte, den sie in Generalpacht genommen; der Historismus war jeder kritischen Norm abhold, weil alles Geistige auf individuelle Art geworden war (auch der unerträglichste Kitsch); und die Lebensphilosophen und Existenzialisten, von Pfeiffer bis Lockemann, mißtrauten dem wissenden, zersetzenden, kritischen Intellekt. Die Germanistik beruft sich immer wieder auf Diltheys Unterscheidung der Natur- und Geisteswissenschaften und hat dennoch die permanente Neigung, vom kritischen Urteile eine überpersönliche Objektivität geradezu naturwissenschaftlicher Art zu fordern; sie stellt Forderungen so absoluter Art, daß sie, in der Menschenwelt, niemand finden wird, der sie zu erfüllen vermag. Vielleicht ist es ihr nicht gut bekommen, daß sie sich als Geisteswissenschaft deklariert; in den angelsächsischen Ländern zählt ja auch die Germanistik zu den „humanities“, den Wissenschaften von den menschlichen Dingen, und nimmt, in unserer relativsten aller Welten, die Begrenzungen des Humanen in Kauf. Also subjektive Werturteile? Gewiß: in einer Literaturwissenschaft, die sich endlich vom deutschen Idealismus einer bestimmten Epoche befreit, sind objektiv und subjektiv irrelevante Begriffe; und wo selbst das Objektive nur unter den subjektiven Hirnschädeln wohnt, ist auch der einzelne Kritiker im Recht, solang er sein aufgeklärtes und kontrolliertes Urteil am Elemente des Weltliteratischen bindet und nährt.

Öffnung der Grenzen

Provinzialismus, Selbstflucht und Weltscheu verlangen nach einer Therapie, ehe sie zu zerstörenden Perversionen entarten; sobald eine Wissenschaft zögert, sich aus ihrem eigenen Geiste zu heilen, wird es zu prüfen nützlich sein, ob andere, vielleicht benachbarte Disziplinen nicht Methoden anbieten, die von lockernder und deshalb segensreicher Wirkung wären. In der internationalen Praxis der Literaturwissenschaft haben, vor allen anderen, drei Disziplinen eine stetig wachsende Anziehungskraft demonstriert: der Forscher will den Kern des einzelnen Kunstwerks als wiederholte Kristallisation eines ursprünglichen Menschheits-Mythos sehen und orientiert sich deshalb an den neuen Ergebnissen der Anthropologie; er versucht, die Geburt eines Gedichtes bis in die privaten Neurosen des Autors zu verfolgen und bedient sich der Psychoanalyse; oder er entdeckt das Kunstwerk im Geflecht der gesellschaftlichen Entwicklung und befleißigt sich der Soziologie, sei sie nun von der spekulativen Couleur oder von der trockeneren Art der pragmatischen Fragebogen-Methodik. Anthropologie, Psychoanalyse und Soziologie öffnen den Blick ins Gebiet jenseits der Literatur; und der geplagte Literaturwissenschaftler, dem seine unphilologischen Widersacher immer wieder vorwerfen, er beschäftige sich im technologisch interessantesten aller Zeitalter nur mit der Dichtung, wird dankbar sein, wenn er seine Kenntnisse anderswo vermehren darf. Es kommt nur darauf an, ob er sich dort seinem eigentlichen literarischen Gegenstande entfremden oder ihm treubleiben will; die Wahl bleibt ihm nicht erspart, ob er, als Freund der Literatur, die Erkenntnisse anderer Wissenschaften für seine spezifische Arbeit zu nützen gedenkt oder ob er, als dilletierender Anthropologe, Psychologe oder Soziologe, auch literarisches Material gebrauchen will.

In Frankreich hat, anders als in Deutschland, das anthropologische Interesse die Beschäftigung mit der Literatur von Grund auf verwandelt. An den französischen Universitäten hat der alte Positivismus des neunzehnten Jahrhunderts, mit seiner unkritischen Quellenforschung, seinen primitiven Einfluß-Strukturen, seiner naiven Psychologie, die akademische Behandlung der Literatur allzu lange beherrscht; offenbar ist es die Anthropologie, die nun als methodologische Antithese, ja als Befreierin erscheint. Man sucht jetzt die „images primordiales“, die Urbilder der Menschheits-Phantasie, und verfolgt ihre Wandlungen und ihre charakteristischen Deformationen in der Welt der Moderne; Feuer, Wasser, Wald und Stern haben ihre unverjährte Kraft, sind frei von aller Geschichte, und brennen und wachsen wie eh und je durch die Werke des dichterischen Intellekts. Die französische Symbolforschung hat ihren unvermuteten Verbündeten in dem belesenen kanadischen Humanisten Northrop Frye gefunden, dessen Empfehlungen auch in der jüngsten amerikanischen Literaturwissenschaft immer energischere Nachfolge finden. Northrop Frye protestiert mit Recht gegen die tödliche Spezialisierung, die nur allzu oft mit dumpfer Pedanterie zusammenfällt, und sucht in seiner archetypischen Kritik (die sich ihres Zusammenhanges mit Carl Gustav Jung kritisch bewußt bleibt) ein Instrument zu schaffen, das die verlorene Einheit der Literaturen restituiert. Der Mythus, nicht Quelle, sondern Substanz, ja unvermittelte Handlung der großen literarischen Werke, garantiert wieder die Integrität der Weltliteratur, und jede Provinzialisierung des Humanismus, der im Mythus das Allermenschlichste wiederentdeckt, ist unmöglich geworden.

Angst vor dem Mythus

Ich hege den Verdacht, daß man sich in der deutschen Literaturwissenschaft gegen diese Renaissance des Mythischen aus Gründen sperrt, in welchen sich das Förderlichste mit dem Problematischen paart. Das Mythische ist, nach so langer Beschäftigung mit dem Pseudo-Mythus, für lange diskreditiert; und wer in den fiktiven, weil künstlich arrangierten Mythologien des Völkisch-Stammhaften in die Irre ging, zögert, es noch einmal mit dem verbindlich Mythischen der Menschheit zu versuchen; man hat eben im Dritten Reich das Kind gleich mit dem Bade ausgeschüttet und will es nicht noch einmal mit dem potentiell Rechten versuchen. In Deutschland war der Mythenfreund allzu oft mit dem Faschismus verbündet; und auch ich gehöre zu jener Generation, die, hört sie das Wort Mythus, einen instinktiven Widerstand fühlt, der fast an Ekel grenzt.

Aber auch die problematischeren Ursachen des germanistischen Widerstands gegen die moderne Anthropologie sind nicht leicht zu übersehen; die alten Neigungen des Historismus sichern sich ihr Recht. Der französische und amerikanische Mythenfreund ignoriert die Geschichte, indem er — durch sie hindurch — nach den archetypischen Symbolen greift; die Mythenbilder, und ihre Deformation in der Kunst, sind synchroner Art. Northrop Frye, und noch energischer Claude Lévi-Strauss, der anthropologische Vater einer neuen französischen Literaturkritik, sind Propheten der Ungeschichtlichkeit; die Germanisten aber, solange sie ihren Ursprüngen folgen, werden es nie über sich bringen, Folge, Chronologie, Abhängigkeit, bruchlose Kontinuität je zu mißachten und auch dem Nebeneinander ästhetischer Substanzen freundlich zu vertrauen.

In analogem Kontrast zur Entwicklung der neueren Literaturwissenschaft in Frankreich, England und Amerika hat sich die traditionelle Germanistik selten dazu bequemt, ihre Perspektiven durch psychoanalytische Forschungen zu korrigieren; ihrer entschlossenen Inzucht hat selbst die Tiefenpsychologie, die so viele Disziplinen in so vielen Ländern veränderte, nichts anzuhaben vermocht. Das hat nicht nur mit dem latenten Antisemitismus germanistischer Institutionen zu tun, die sich nicht ohne Widerstreben mit den Ideen eines mährischen Juden einlassen wollen; die Gründe sind intimer mit dem Wissenschaftsherkommen verflochten. Die Abneigung der Germanistik gegen eine nüchtern analysierende Psychologie hat darin ihren ersten Grund, daß sie, mehr als ein Jahrhundert lang, an Totalitäten eher als an Individualitäten interessiert war. Man strebte, ideologisch und politisch, zum „Ganzen“ hin; was bedeutete da die genauere Versenkung ins unvergleichbar Einzelne? Auf Richtung, Tendenz, Idee, Geist, Nation, Totalität kam’s an; und selbst wer in der späteren Epoche der Lebensphilosophie „Seele“ sagte, sprach von einem ungreifbaren Dinge, das sich nur der Einfühlung öffnete; und wer sich nicht einzufühlen vermochte, begnügte sich damit, Goethes Liebesnächte reinlich zu katalogisieren.

Als der Hegelianismus in der Germanistik regierte (und wann hat er eigentlich zu regieren aufgehört), war es der absolute Geist, der triumphierte, und das interessante Einzelne war zu einem Moment erniedrigt, an dem die List der Vernunft ihr Mütchen kühlte. Was sollte eine psychologische Forschung, die noch mit dem Odium pietistischer Introspektion behaftet war, in einer Vision, in welcher sich alles Einzelne, in Kunst und Staat, dem unbeschreiblichen Ganzen unterwarf? In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts schien endlich die Individualität allmählich zu ihrem Rechte zu gelangen; Wilhelm Dilthey, der Größten einer, begann nach den Wurzeln des Kunstwerks zu suchen. Er war’s, der psychologische Einsicht forderte, aber zugleich der deutschen Wissenschaft die Grenz-Mauer gegen die Psychoanalyse konstruieren half; man war an Erlebnis und Dichtung interessiert, was sollte eine Methode, die mit Krankenhaus und Klinik verbunden war? Sollte das Erlebnis, das man erfühlte, die Dichtungswissenschaft nicht eben als geistige Disziplin von den erfolgreichen Naturwissenschaften trennen?

In der Germanistik waren nicht Hitler noch Franz Koch, sondern der tiefe Hegel und der geniale Dilthey die eigentlichen, die älteren Gegenspieler Sigmund Freuds; und als die völkischen Professoren über das Reichsganze jubelten, war’s kein intellektueller Wendepunkt, sondern ein Sturz in den Quark, in den man (ohne zu unterscheiden) eine vulgarisierte Geschichts- und Lebensphilosophie zugleich mit der krudesten Rassentheorie verrührte. In der Germanistik hat sich der Ruf: Zum letzten Male Psychologie! noch immer mit heftigen Neigungen gegen alles Analytische, Rationale und Liberale verbunden. Fritz Martinis Einwände gegen die leider nur psychologisierenden Schriftsteller Fontane und Thomas Mann oder Pongs Beschäftigung mit dem geheimnisvollen „Gemeinschaftsgrund“, und der „umgreifenden Ordnung des Daseins“, sind symptomatisch für die Bürden, an denen wir Literaturwissenschaftler noch alle zu tragen haben.

Ich bin allerdings selbst kein unbedingter Anwalt psychoanalytischer Methoden in der Literaturwissenschaft, nur eben aus anderen Gründen als Martini oder gar Pongs. Es schert mich wenig, ob das Metaphysisch-Ganze, das sich in der deutschen Geschichte rasch mit der Rechtlosigkeit des Einzelnen zu arrangieren wußte, leidet oder nicht; ich habe nur meine Zweifel, inwiefern eine genetische Betrachtungsweise, die ihre Aufmerksamkeit allein auf den artistischen Schaffensprozeß richtet, auch das Geschaffene illuminiert. Sigmund Freuds Bildnis des Dichters hat seine aufklärenden Tugenden, aber auch seine Grenze. Der Künstler, meint Freud, ist ursprünglich ein Mensch, welcher sich von der Realität abwendet, weil er sich mit dem von ihr zunächst geforderten Verzicht auf Triebbefriedigung nicht befreunden kann. Er besitzt allerdings besondere Talente, verwandelt seine Phantasien zu neuen Wirklichkeiten und wird so (fährt Freud fort) auf eine gewisse Weise wirklich der Held, König, Schöpfer, Liebling, der er werden wollte, ohne den gewaltigen Umweg über die wirkliche Veränderung der Außenwelt einzuschlagen. Ich bin gewiß, daß nur eine psychoanalytische Untersuchung die Lebensgeschichten Rilkes, Baudelaires, oder Poes zu erleuchten vermag; es ist ein anderes Problem, wie sich der psychologische Sublimationsprozeß in artistischer Form niederschlägt. Die Psychoanalyse ist eine willkommene Verbündete der Literaturwissenschaft, solange sie das Literarische respektiert: also, in den Vereinigten Staaten, in den aufschlußreichen Arbeiten von Edmund Wilson, Lionel Trilling und Walter Sokel, und nur selten bei Charles Neider, der die Texte Kafkas zu Krankheitsdokumenten degradiert; in Frankreich in den Arbeiten von Charles Mauron, nicht bei Marie Bonaparte, die Edgar Allan Poes Dichtung buchstäblich zerstückt. In Deutschland und Österreich sind ja die fruchtbarsten Pionierarbeiten energisch fortzuführen: Freud und Otto Rank; und jene Apologeten der Psychoanalyse, die vor und nach der Hitler-Diktatur ihre Stimmen erhoben: so Walter Muschg, der störrische Einzelgänger, der in der Psychoanalyse ein wirksames Instrument gegen die monumentalisierenden Tendenzen der George-Schule erblickte; so Joachim Maass, der wenige Jahre nach dem Kriege, in seinen leider viel zu wenig beachteten Vorlesungen über die „Geheimwissenschaft der Literatur“ (1949) Psychoanalytisches und Ästhetisches in engster Verbindung erwog. Selbst wenn die Psychoanalyse nichts anderes vermöchte als unseren Sinn für das Individuelle aller Kunstübung zu schärfen, sie wäre, in der pädagogischen Provinz der metaphysischen Traditionen, eine sehr notwendige Lehrerin.

Zum Glück wendet sich die jüngere Germanistik von den Prozessen der Gesellschaftswissenschaften nicht ähnlich spröde fort wie von den Entwicklungen der Anthropologie und Psychoanalyse. Hochwillkommen, daß man so an vor-germanistische Traditionen anknüpft; die Literatursoziologie geht ja jeder Germanistik historisch voran, und wer Herder, Madame de Staël, Sismondi und de Bonald gelesen hat, weiß, daß der gesellschaftliche Umgang mit der Dichtung, der heute gelegentlich avantgardistische Ansprüche anmeldet, älter ist als die Wissenschaft von der deutschen Dichtung. Hätte auch in der deutschen Literaturwissenschaft der gesellschaftliche Geist von Coppet gesiegt, wohin Madame de Staël die kosmopolitischen Schriftsteller und Theoretiker ihrer Epoche zu ziehen wußte, und nicht die sentimentalischen Impulse der spätesten Romantik, die gesellschaftlichen Interessen wären niemals so leicht dem Primate des Nationalen gewichen; ja vielleicht hätte sich die Germanistik nicht zu ihren herkömmlichen Formen entwickelt.

Der Literarsoziologe bewegt sich auf sehr schmalen Graten; der freundlichen Verführungen sind viele. Ohne Gleichnis gesagt: ich glaube, dem Literaturfreund öffnen sich zwei soziologische Irrwege. Der eine ist der verschlungene Pfad der althergebrachten Hegel’schen Spekulation, gegen die Hermann Hettner in der Mitte des vorigen Jahrhunderts protestierte; der andere führt zur statistischen Beschäftigung mit Auflageziffern und Publikumsreaktionen. Die Spekulation führt in jenen Kaltsinn, den (weil man sich dem Kulinarischen des Kunstwerkes verschloß) schon der Kritiker Schiller verdammte; die pragmatische Untersuchung der Publikumsreaktionen zur interessanten, aber kritisch nicht immer relevanten Erkenntnis gesellschaftlicher Mechanismen. Hier begibt man sich unter das geliebte Joch einer kunstfremden Philosophie, dort (ich nenne Robert Escarpits Analysen französischer Lese-Gewohnheiten) in die unkritische Sklaverei der Kommunikations-Soziologie.

Zwei Irrwege der Soziologie

Der neue Linkshegelianismus in der deutschen Literaturwissenschaft hat wenig Anspruch darauf, uns als Neuester der Neuen zu kommen, denn er setzt die philosophische Tendenz, die so lange in der Germanistik dominierte, mit seinen Mitteln fort; es ist Geistesgeschichte nach Feuerbach und den „Philosophisch-Ökonomischen Manuskripten“. Ich sehe natürlich ein, daß der Linkshegelianismus eine sehr notwendige Aufgabe zur seinen macht: das langgestörte Gleichgewicht wird hergestellt, und eine jüngere Generation bietet der rechtshegelianischen Tradition der Germanistik eine antithetisch-jakobinische Stirn. Aber ein Mohammedaner hat für den Streit der Franziskaner und Dominikaner, der auf das Literarische bedachte Forscher für den Konflikt der rechten und der linken Hegelianer nur ein entferntes Interesse. Emrich und Lukács (ich kenne die politischen Differenzen) sind hochbegabte Brüder im Geiste, und ihre gemeinsame Art, die Dichtung über den philosophischen Leisten zu schlagen, gleich problematisch. Der neue Hegelianismus ist eben dabei, unsere Kenntnis der Geschichte zu vertiefen, indem er unseren weltliterarischen Horizont verengt; und selbst Theodor Adorno, der wie kein anderer Gesellschaftliches und Ästhetisches in blitzhaften Einsichten zu kombinieren weiß, gerät in Gefahr, die Literatur in Ereignisse vor und nach der industriellen Revolution zu trennen und alles Vor-Industrielle, in welchem das Phänomen der Entfremdung nicht herrschend hervortritt, dem „angestrengten Fleiße der Philologen“, wie er sagt, oder den Alexandrinern zu überlassen.

Ich bin eher geneigt, einer fundamentalen Unterscheidung zu folgen, die Hans Norbert Fügen jüngst in seiner klugen Studie über die „Hauptrichtungen der Literatursoziologie“ empfahl; ich wünschte mit ihm, der Literaturwissenschaftler studierte alles erdenkliche soziologische Material, um dann zum Texte des Kunstwerkes zurückzukehren; kennt er erst Ort, Zeit und Gesellschaftsstruktur genau, ist er besser qualifiziert, die gesellschaftlichen Implikationen eines Werkes, auch gegen die Intentionen des Autors, energisch aufzudecken — ich halte also, in der Terminologie Fügens, die sozialliterarische Methode, die den Weg zurück vom Sozialen zum Ästhetischen sucht, für bedeutend nützlicher als die Literatursoziologie, welche sich der Versuchung nicht entschlägt, die Kunst zur Dokumentation gesellschaftlicher Vorgänge (wie Wilhelm Lehmann sagt) zu verschrotten.

Aufhebung der Germanistik

Der gesellschaftlich interessierte Literaturforscher wird weder dem gedanklichen Entwurf noch der bürdenreichen Kleinarbeit entsagen; er hat ja, auch in Deutschland, die willkommene Möglichkeit, auf Levin Schückings „Soziologie der Geschmacksbildung“, auf Ernst Kohn-Bramstedts im Exil erschienene Studie über „Aristokratie und Bürgertum in Deutschland“ (zuerst in London 1938) zurückzugreifen oder die methodologischen Überlegungen in den französischen Arbeiten Lucien Goldmanns zu studieren. Lucien Goldmann hat den jungen Lukács gründlich studiert, aber den positiven Respekt vor den einzelnen Fakten der politisch-wirtschaftlichen Geschichte nicht verloren; ich glaube, daß seine massive Studie über den „Verborgenen Gott“ (Paris, 1955) in welcher er den komplizierten Zusammenhängen zwischen den politischen Schicksalen einer bestimmten Adelsschichte und der jansenistischen Dichtung nachgeht, eine methodologische Herausforderung erster Ordnung konstituiert. Warum nicht auch in der Germanistik ähnlich gelehrte, dokumentenreiche, selbstkritische Arbeiten über das wirtschaftsgeschichtliche Profil des jungdeutschen Jahrzehnts, die ökonomisch-politische Struktur des kleinstaatlichen Mäzenatentums im Barock, die Administration und Praxis der Metternich’schen Zensur: ohne eilige Spekulation, ohne vorgefaßtes Ergebnis? Das wären sehr mühsame Arbeiten, aber keiner bedarf unsere Wissenschaft mehr.

Ich zögere aber, zu glauben, daß dem Egotismus der Germanistik allein durch den belebenden Kontakt mit manchen Nachbardisziplinen abzuhelfen sei; Anthropologie, Psychoanalyse und Soziologie, die ihr Zentrum jenseits der Literatur haben, lockern, nuancieren, bereichern die literarische Forschung, aber sie schaffen ebensoviele Arbeitsprobleme als sie lösen. Ich bin eher der Meinung, die Germanistik bedürfe der erneuerten Allianz mit der sogenannten vergleichenden oder allgemeinen Literaturwissenschaft; ja, ich kehre den Hegelianismus der Germanistik gegen sie und glaube, daß nichts nützlicher wäre als sie im Geiste einer allgemeinen Literaturwissenschaft aufzuheben — zu zerstören, zu bewahren, zu erhöhen. Auch sie mag hundertfünfzig Jahre lang ein Moment gewesen sein, das im Fortschreiten der Entwicklung in einem anderen aufgeht.

Aber anstatt zu theoretisieren, will ich lieber von der Praxis der Komparatistik sprechen, wie ich sie aus meinem eigenen Kreise kenne. Ich spreche von der Abteilung für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Yale im amerikanischen Bundesstaate Connecticut, ungefähr hundert Kilometer von New York. Ich habe nicht die geringste Absicht, der herkömmlichen germanistischen Kulturpropaganda nun eine amerikanische entgegenzusetzen; ich sage nicht, daß wir’s besser machen, aber anders; deshalb scheint es mir nützlich, die alltägliche Praxis in einigem Detail zu beschreiben. Ich muß allerdings gestehen, daß wir (wie es ja auch an anderen Privat-Universitäten geschieht) die Zahl unserer Studenten begrenzen; wir kennen keine Massenvorlesungen und wollen auch keine veranstalten. Wir arbeiten in kleinen Seminargruppen, die sich zum Studium konkreter Texte versammeln; der Seminarleiter empfiehlt gleichzeitig eine Liste historischer Übersichten, monographischer Spezialarbeiten und bibliographischer Repetitorien, welche die Teilnehmer des Seminars auf eigene Faust studieren. Wir haben uns nicht die Aufgabe gestellt, Papageien zu dressieren, die uns bei der Prüfung wiedergeben, was sie bei uns gehört, sondern suchen intelligente und empfindsame Individualitäten heranzubilden. Das heißt nicht, daß uns das Ideal des genialischen Hans-Dampf-in-allen-Gassen vorschwebt: wer Literaturwissenschaft studiert, muß sich zunächst auf eine einzelne Literatur konzentrieren und ein Jahr lang Mittelhochdeutsch, Angelsächsisch, Griechisch oder Alt-Französisch betreiben, ehe er sich im Allgemeinen tummelt. Viele unserer Studenten gehen deshalb für ein Jahr nach Salamanca, an die Sorbonne, nach Oxford, oder an eine der deutschen Universitäten, ehe sie von der grand tour in unsere Seminare zurückkehren, nur eben werden die Semester nicht mechanisch angerechnet, denn wir wollen genau wissen, was der Einzelne anderswo gearbeitet hat.

Jeder Student betreibt also das Studium der einen oder anderen Nationalliteratur, die ihn besonders interessiert; zugleich nimmt er aber an jenen Seminaren teil, die das eigentlich Gemeinsame der Literaturen suchen: Methodologie, Poetik, Geschichte der Literaturkritik, Untersuchungen übernationaler Formen und Stile; Analysen der Periodenbegriffe Barock, Romantik und Realismus, in denen sich die besondere Problematik der einzelnen Literaturen auf unerwartete Weise verrät. Ich weiß, daß einer meiner Kollegen ein Seminar über das traditionelle Epos hält und mit seinen Studenten Vergil, Milton, Tasso und auch ein wenig Klopstock liest; ein anderer beschäftigt sich mit der romantischen Poetik und interpretiert Coleridge und Schelling, Wordsworth und Hölderlin; ein dritter hat sich dem Barock verschrieben und sucht im Werke von John Donne, van den Vondel und Gryphius nach gemeinsamen Strukturen. Ich selber beschäftige mich vor allem mit dem Realismus des neunzehnten Jahrhunderts und versuche Theorie und Praxis, in vielen Literaturen, zu erörtern. Natürlich sind uns Grenzen gesetzt; es ist nicht jedermanns Sache, dem Beispiel unseres Senioren René Wellek zu folgen, der Texte in fünf oder sechs Sprachen gleich souverän handhabt. Gewiß: die meisten meiner Studenten lesen Gontscharow in Übersetzung; und obgleich ihnen viele Ironien des russischen Textes entgehen, sehen sie doch die strukturellen Probleme, denn sie lesen Gontscharow im Zusammenhang mit Flaubert und Trollope, und das Analoge des Kompositorischen tritt auch durch das andere Sprachbild hervor. Genug, daß wir ein kosmopolitisches Ziel vor Augen haben; wenn ein Student erst Fontane, Dickens und Zola im Originale gelesen hat, bildet er sich rasch seine eigene Meinung über Romane geringerer Kunst.

In den Übungen untersuchen wir Theorie und Praxis des literarischen Realismus ohne Rücksicht auf die Grenzen der Nationalliteraturen, aber wir hüten uns davor, die Theorie als Gesetz der schriftstellerischen Praxis zu sehen. Wir glauben eher, daß die Theorie ihre eigenen Affinitäten zu Philosophie und Literaturkritik hat; die Praxis wieder hat Probleme der literarischen Konventionen zu lösen. Wir studieren also Zolas Theorien, aber wir sind nicht (wie Lukács) geneigt, Zolas „Germinal“ an den Theorien des Autors zu messen. Wir glauben eher an ein Widerspiel, an differenzierte Stränge, die sich einander nähern und gelegentlich berühren, ehe sie wieder auseinanderlaufen; nichts problematischer, als das eine oder das andere ganz zu ignorieren. In den wöchentlichen kurzen Referaten (keins dauert länger als zwanzig Minuten) sind wir wenig darauf bedacht, zu vergleichen oder gar dem Einfluß von jemandem auf jemanden nachzugehen; wir wollen eher ineinandersehen, gegeneinander projizieren, stereoskopisch beobachten, wie der produktive Geist des Kritikers oder Schriftstellers ein wiederkehrendes Problem zu lösen versucht. Als Historiker der Literatur wollen wir genau wissen, welchen französischen Zoologen Balzac seinen Begriff des Typischen verdankt; aber sobald wir uns Gutzkow nähern (auch das tun wir) ist uns nicht darum zu tun, Balzacs Einfluß im Detail zu dokumentieren, sondern eher zu fragen, wie Gutzkow auf die Herausforderungen Balzacs durch seine eigenen Taktiken antwortet; ähnlich, wie Balzac seine eigenen schriftstellerischen Methoden im freundlich-kritischen Widerstand gegen Walter Scott entwickelt. Nicht Einflußkunde, Kausalitäten, Vermittlungen also, sondern der Blick auf die Gesellschaft der produktiven Intellekte, die einander über Ort und Zeit hinweg antworten; nicht Kirchenspiel-Pedanterie, sondern Studium des Gemeinsamen, Bedeutenden, Widerspielenden.

Aus der Praxis

Ich kann mir denken, daß sich die Idee einer allgemeinen Literaturwissenschaft an anderen Institutionen und Seminaren in ganz anderen Formen verwirklicht; aber auch die spezifische und deshalb begrenzte pädagogische Praxis, die ich aus meiner täglichen Erfahrung beschreibe, impliziert eine Theorie, die mit den Konventionen der nationalen Philologien in einigen Widerspruch gerät. Sie hebt, in der Theorie, jede nationale Institutionalisierung auf, denn sie geht — über den späteren Historismus hinweg — zu jener ersten Tradition des Humanismus zurück, in welcher noch das zivilisierte Bewußtsein von der integralen Weltliteratur, im achtzehnten Jahrhundert, kristallisierte. Ihr Neues besteht darin (so könnte man sagen), im Widerstand gegen die Tendenzen des national gesinnten neunzehnten Jahrhunderts die Tugenden des achtzehnten zu restituieren — daß dies unter dem Namen der sogenannten „Vergleichenden“ Literaturwissenschaft geschieht, ändert nichts an der Sache; diese Bezeichnung, aus der französischen Littérature comparée abgeleitet, hat sich leider eingebürgert, und erst die konsequente Praxis wird sie verdrängen. Wir wollen ja nicht national geschlossene Literaturen vergleichen, sondern das Substantielle aller Literaturen entdecken.

Es ist offenbar die erste Absicht dieser Literaturwissenschaft, dem Provinzialismus ein neues Weltbürgertum entgegenzusetzen, das sich in ungehinderter Sensibilität in der unendlichen Sphäre der Dichtungen bewegt. Racine, Shakespeare und Schiller sind ihrem Geiste gleich nah, und sie sieht’s nur mit Schrecken, daß in der Unterrichtspraxis das Nationale überall vorangeht, selbst wenn es von begrenzter poetischer Bedeutung wäre. Was heißt denn Haupt-Fach, wenn man sich dort in einer Prosa-Übung, allein mit Adalbert Stifter (an dessen Adel ich nicht zweifle) beschäftigt, aber Balzac, George Eliot oder Henry James niemals oder nur in den sogenannten Neben-Fächern flüchtig studiert? Ich weiß, die Schulverwaltungen benötigen Deutschlehrer; aber warum sollten die künftigen Erzieher einer aufgeklärteren Jugend Mörike oder Storm nicht aus dem kontrollierenden Bewußtsein Gautiers oder Baudelaires vortragen? Mit solchen Ketzereien gerate ich sogleich in Konflikt mit den akademischen Traditionen der französischen Komparatistik und jenen Etappen der deutschen vergleichenden Literaturwissenschaft, die sich in der behaglichen Fiktion eingerichtet haben, man könnte die Nationalliteraturen in luftloser Isolation auf sich beruhen lassen und allein an ihren Grenzen, Rändern und Zwischenräumen arbeiten — indem man Einfluß-, Vermittler und Übersetzer-Archäologie betreibt anstatt dem Kern der Weltliteratur kühn und unmittelbar entgegenzutreten. Merkwürdig, daß sich selbst Horst Rüdiger, Erik Lunding, Roger Bauer und Oskar Seidlin, die hochgebildeten und feinsinnigen Herausgeber der neuen deutschen Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft, die sich „Arkadia“ nennt, noch nicht ganz von diesem gaullistischen Konzepte befreit haben; auch sie polemisieren im Programm-Entwurf der Zeitschrift, der ich das Beste auf den Weg wünsche, gegen einen problematischen A-Historismus und geben sich der Hoffnung hin, der national-literarischen Forschung nicht in die Quere zu geraten. Wahrhaftig, arkadische Hoffnung! Ich glaube, die Praxis wird die Herausgeber davon überzeugen, daß die Alternativen nicht ähnlich idyllisch sind. Nur zwei Wege stehen offen: den Literaturwissenschaftler zum Gast auf den trennenden Zäunen der Nationalliteraturen zu degradieren, oder das Weltliterarische, in allen seinen Formen, in die älteren Rechte einzusetzen.

Die andere Intention einer erneuerten Literaturwissenschaft wird es sein, das konsequente Studium der kritischen Normen und der charakteristischen Gattungen, wie sie prägend durch die einzelnen Literaturen hindurchschlagen, energisch zu fördern, und das traditionelle Interesse an den Entstehungsweisen der Kunstwerke durch die Analyse der resultierenden Strukturen zu balancieren. Poetik, Rhetorik, Ästhetik, Topologie, Gattungslehre, Geschichte der Literaturkritik sind ihre Fundamente; und statt jene wolkigen geistesgeschichtlichen Systeme zu exzerpieren, die sich in der zweifelhaften Erkenntnis vollenden, daß allein die tieftalentierten Germanen echte Daseins-Symbole schaffen, während sich die bedauernswerten Romanen mit dem Witze begnügen müssen (man lese das in den Wälzern der Dreißigerjahre nach), wird der Student, gerade in den unersetzlichen Jahren seiner intellektuellen Ausbildung, eher Aristoteles, Horaz, Dryden, Lessing und Friedrich Schlegel lesen; kennt er erst die gespannte Energie der Dichtungstheorie, wird er sich über alles Lokale, Ungefähre und gefühlvoll Ungeistige sein eigenes Urteil schaffen. Im achtzehnten Jahrhundert noch hatte jede gute Universität ihren Professor für Poetik und Rhetorik, und das weitblickende Tübingen hat ihn schon wieder; wer sonst aber hat den nivellierenden, den historisierenden Tendenzen des vorigen Jahrhunderts ähnlich klug widerstanden?

Der herkömmlichen Wertscheu der Germanistik wird eine solche Literaturwissenschaft ihre resolute kritische Gesinnung entgegensetzen und Vorzüge wie Untugenden des Historismus prüfend reflektieren. Sie kann nicht anders, denn sobald sie Weltliterarisches und Provinzielles trennt, bedarf sie nicht geographischer, sondern ästhetischer Normen; vielleicht ist es ihr Geheimnis, daß sie nichts anderes ist als ein forteilender kritischer Prozeß, der sich, wie das dahinfließende Wasser, selber reinigt, wandelt und klärt. Die kritische Literaturwissenschaft verachtet die schönen Tugenden des Verstehens nicht, aber die Wege scheiden sich dort, wo das Verstehen die Erschlaffung, oder gar Zerstörung der urteilenden Energien nach sich zieht. Genug, daß die Germanistik ihre jahrhundertlange Liaison mit dem Historismus hatte; warum die Affaire in eine unverbrüchliche Mesalliance verwandeln? Die Literaturwissenschaft, anders als die bisherige Germanistik, begrüßt den Kritiker als ihren willkommensten Freund; ging es nach ihr, würde man sich den begabten Kritiker nicht in der Quarantäne der Extra-Dozenturen vom akademischen Leibe halten, sondern ihn über Nacht zum Professor berufen, selbst wenn er seine intellektuellen Qualifikationen nicht in den dürftigen Jahren der Assistenten-Tätigkeit erworben hätte. Ich habe es nie verstanden, warum Hans Egon Holthusen nur in Amerika das ganze Jahr lang Professor sein, während er in seinem Heimatlande nur Gastrollen spielen darf; und ich denke nur mit Trauer daran zurück, in welcher blinden Unempfindlichkeit die Universität Max Rychner, solange er lebte, vergaß.

Mein Glaube daran, daß eine weltbürgerliche und kritische Literaturwissenschaft auch in Deutschland und Österreich eine produktive Zukunft hat, wäre von weniger gedämpftem Optimismus, wenn ich wüßte, daß die Planer, Gründer und Verwalter der neuen Universitäten die neueren Fragen der Literaturwissenschaften ebenso bedenken wie die Umwälzungen in der Biochemie, der Physik, der Mathematik. Warum landauf landab nur drei oder vier Professoren, die vergleichende Literaturwissenschaft lehren? Warum haben nur die technischen Hochschulen und Universitäten, in Berlin, Zürich und Hannover die Kühnheit, ihre literarischen Ordinariate kritischen Köpfen von mehr als nationalen Interessen anzuvertrauen? Warum in Wien der kakanische Versuch, österreichische Literaturgeschichte mit allgemeiner Poetik zu koppeln? Keine Universität ohne Raumfahrt-Laboratorium, aber wie viele haben Anteil an den veränderten Prozessen der Literaturwissenschaft? Selbst die Elektronenhirne, die Bibliographien und Studenten registrieren, sind nur ein schwacher Trost; solange auch sie nur den unrevidierten Konzepten des neunzehnten Jahrhunderts dienen, zählen auch sie zum alten, zum rostbefleckten, zum hundertfünfzigjährigen Eisen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1967
, Seite 176
Autor/inn/en:

Peter Demetz: Aus Prag stammend, Professor für Literaturgeschichte und vergleichende Literaturwissenschaft in Amerika.

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