FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 204/I/II
Dan Diner

Zurückgebliebene Israeli

Zum Weltkongreß jüdischer Studenten

Das NEUE FORVM war stets rabiat anti-antisemitisch, stets für das konkrete Lebensrecht der Israelis als Nation‚ stets für das ebenso konkrete Recht der Palästinenser. Leserbeschwerden, daß wir jüngsthin dieses Recht stärker akzentuierten als jenes, akzeptieren wir; wir halten das für vertretbar in einem Land und bei einer Presse, die zum größten Teil kritiklos pro-israelisch, borniert anti-palästinensisch sind — teils aus berechtigtem schlechtem Gewissen gegen den Juden, teils weil’s so schön ist, daß irgendwo wieder einmal Blitzkriege gewonnen, Protektorate errichtet werden. — Dan Diner war Delegierter auf dem Kongreß der Weltunion Jüdischer Studenten (WUJS) vom 24. bis 31. Juli 1970 in der israelischen Stadt Arad. Am 28. Dezember 1970 werden jüdische und arabische Studenten auf Einladung des Kritischen Klubs in Wien zusammentreffen, um das im folgenden behandelte Thema zu diskutieren. Siehe auch Literaturverzeichnis am Ende des Textes.

Die junge jüdische Intelligenz artikulierte in der israelischen Stadt Arad ideologische und politische Ansichten, die dem Bild kraß widersprechen, das man sich in Israel vom Engagement der jüdischen Studenten des Auslandes gemacht hatte. Die israelische Öffentlichkeit reagierte auf diese grimmige Enttäuschung ihrer Erwartungen mit deutlichem Unbehagen. Die allgemeine Verstörung zeigte sich in der größtenteils einseitigen Presseberichterstattung und machte selbst vor der höchsten politischen Ebene des Landes nicht halt, wie eine Debatte im Kabinett zeigte.

Längst bevor der Kongreß seine entscheidenden Resolutionen verfaßt und beschlossen hatte, führten die Auseinandersetzungen zur eindeutigen Polarisierung zwischen den israelischen und den ausländischen jüdischen Studenten. Insbesondere entzündeten sich die Diskussionen an der Beurteilung des Vorgehens der gegenwärtigen israelischen Regierung gegenüber den Arabern. Die jüdischen Studenten des Auslandes forderten die sofortige Anerkennung der Palästinenser sowie deren unveräußerliches Recht auf nationale Selbstbestimmung. Damit stießen sie auf die sich immer mehr verhärtende Ablehnung der Israelis.

Der Unterschied zwischen israelischen und jüdischen Studenten lag vielmehr eindeutig im verschiedenen Stand der Entwicklung des Bewußtseins. Die größtenteils intellektuelle Jugend der Diaspora stellt den progressivsten Teil der jüdischen Weltbevölkerung dar. Die israelischen Studenten dagegen sind zum überwiegenden Teil ideologiefeindlich und orientieren sich technologisch an ihren pragmatischen Interessen. [1] Das von manichäischen Schwarz-Weiß-Kategorien bestimmte Weltbild der Israelis stieß sich am feiner abgestuften Problembewußtsein der jüdischen Studenten der Diaspora.

Den unterschiedlichen, ja gegensätzlichen geistigen Hintergrund der jüdischen Studenten aus Israel und jenen der Diaspora verstärkt noch ein weiteres, entscheidendes psychologisches Motiv. Der in der Diaspora aufgewachsene Jugendliche revoltiert unterbewußt gegen das ihm als Erziehungsziel dargebotene Idealbild des Israelis. Dies wird erklärlich, wenn man die psychologische Struktur der jüdischen Weltbevölkerung nach dem apokalyptischen Geschehen des Zweiten Weltkrieges und der Vernichtung von sechs Millionen jüdischer Menschen bedenkt. Fast 25 Jahre verharrten auch die Juden der Diaspora notwendiger- und verständlicherweise in ihrer Israelfixierung. Heute jedoch befinden sie sich in einer neuen Phase; insbesondere die junge Generation fragt nach dem Woher und Wohin, schafft sich neue Werte und Leitbilder und stellt die alten radikal in Frage.

Die jüdische Jugend, einst in hohem Maße von der Vergangenheit geprägt und bestimmt, beginnt heute eine Dynamik zu entwickeln, die einer Normalisierung der jüdischen Situation im althergebrachten Sinn entspricht: Partikularisierung des jüdischen Selbstverständnisses sowie aktive Politisierung auf der Grundlage dieses neuen alten Selbstbewußtseins. Die einzelnen Elemente, die diese Entwicklung herbeiführten: einerseits die intensive geistige Auseinandersetzung mit der staatlichen Existenz Israels und der damit zusammenhängenden Nahostproblematik, anderseits die bewußte Teilnahme an politischen Manifestationen zugunsten der Unterdrückten in Nord- und Lateinamerika, aber auch in Südafrika, im Fernen Osten und in Europa. Die Konfrontation mit nichtjüdischen Gleichgesinnten brachte auch Selbstbesinnung auf ihre Existenz als Juden, die historisch getreu die Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg zu wiederholen schien. Und dieses neue alte Problembewußtsein scheint nicht einer privatistischen Auslösung entgegenzutreiben, sondern politisch organisierbare Formen anzunehmen.

Dieser Hintergrund des Kongresses ließ den Eklat vorhersehen. Die Unkenntnis und der Mangel an Verständnis des größten Teiles der israelischen Delegation waren symptomatisch für die Diskussion, die sich verständlicherweise am Nahostkonflikt entzündete, Nach tagelangen Auseinandersetzungen, die sich bis in die frühen Morgenstunden hinzogen, wurde eine Resolution verabschiedet, in der die jüdischen Studenten in der festen Überzeugung, „daß der Kampf des israelischen Volkes um nationales Überleben und um einen gerechten Frieden ein berechtigter ist und weil (sie) diesen Kampf völlig unterstützen“ ihre Ansicht über die Möglichkeiten eines gerechten und dauerhaften Friedens zum Ausdruck brachten.

Wichtigster Teil dieser Resolution war die nachdrücklich formulierte Auffassung, „daß eine gerechte und dauerhafte Lösung des Nahostproblems unmöglich ist, wenn man dem palästinensischen Volk nicht sein Recht auf Selbstbestimmung zuerkennt, (wobei) dies so zu verstehen ist, daß das Recht der Palästinenser nicht auf Kosten der Rechte des israelischen Volkes auf ein Leben in Frieden und Sicherheit in den Grenzen des eigenen Staates durchgesetzt werden soll“.

Der Kongreß richtete an die israelische Regierung die Forderung, den Palästinensern sofort die vollen nationalen Rechte einzuräumen. Daran knüpfte sich eine Erklärung, in der alle jene Kräfte im Nahen Osten unterstützt werden, die gegen Imperialismus und Reaktion kämpfen und sich für das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung einsetzen; der Kongreß drückte ferner sein Bedauern über die Politik der „faits accomplis“ der derzeitigen israelischen Regierung in den besetzten Gebieten (Hebron) aus und verurteilte die Terrorakte der palästinensischen Organisationen aufs schärfste.

Die wichtigste und zugleich umstrittenste Resolution hatte die Definition des Zionismus zum Inhalt. Als sie eingebracht wurde, verließ die Delegation der israelischen Studenten unter Protest den Saal. Aber diese Resolution wurde dann im vollen Wortlaut von der überwiegenden Mehrheit der Delegierten angenommen. Dies ist ein Hinweis auf neue historische Perspektiven, die vom zionistischen Establishment nicht unangefochten hingenommen werden können:

Artikel 1. Der Zionismus ist die nationale und auf Grund seines territorialistischen Aspektes auch die soziale Befreiungs- und Emanzipationsbewegung des jüdischen Volkes; er ist in Israel zu verwirklichen.

Hier wird deutlich auf die Notwendigkeit einer nationalen Phase für das jüdische Volk in einem Territorium hingewiesen, die dann in eine sozialistische übergeleitet werden muß. Dies wurde nicht eigens betont, entspricht aber dem Selbstverständnis der Progressiven, die ein sozialistisch-zionistisches Engagement als Minimalprogramm fordern.

Artikel 2. Dieses Ziel kann nur verwirklicht werden, wenn die nationalen Rechte der palästinensischen Araber beachtet und als Konsequenz zionistischer Ideologie anerkannt werden.

Damit wird erstmals in der Geschichte ein Anspruch der Palästinenser in ein zionistisches Programm aufgenommen und dies nicht aus politischer Opportunität, sondern als unabdingbar für die Befreiung der Juden durch den Zionismus. Kein Volk kann selbst frei sein, wenn es seine Ansprüche nicht durch die ebenso legitimen Rechte anderer einschränkt.

Artikel 3. Die universelle Aufgabe des jüdischen Volkes, die ihm seine prophetische Tradition auferlegt, muß sich aus der notwendigen Konzentration des jüdischen Volkes in Israel ergeben, damit das jüdische Volk aus diesem Rahmen heraus seine gesamten Kräfte in den Dienst der sozialen Emanzipation der Menschheit stellen kann.

Die Staatlichkeit der jüdischen Nation und die damit verbundene Befreiung der in Bedrängnis lebenden Juden kann mithin nicht als das Endziel des Zionismus angesehen werden. Jüdischer Universalismus und Partikularismus werden so zueinander in Beziehung gesetzt, daß letzterer die universelle Emanzipation der Menschheit als deren notwendige Zwischenstufe bedingt und zu ermöglichen hat. Damit wird festgestellt, daß der Zionismus in den Sozialismus mündet, wobei mit dieser Aussage ein unzweideutiges Engagement verbunden wird, das sich primär auf die nahöstliche Region bezieht.

Eine weitere Resolution formuliert einen mit diesem zionistischen Selbstverständnis verbundenen Internationalismus und betont „den gerechten Kampf der Völker für Sozialismus, Unabhängigkeit und Freiheit“ gegen den Imperialismus. Ferner wurde der Rückzug aller fremden Kräfte aus Indochina gefordert sowie der Kolonialkrieg Portugals gegen die Völker Angolas, Guineas und Mozambiques aufs schärfste angeprangert. Die Völker Afrikas, Lateinamerikas und Asiens versicherte der WUJS-Kongreß seiner Unterstützung gegen Imperialismus und Kolonialismus und verurteilte die rassistische Politik Südafrikas und Rhodesiens, die Obristenherrschaft in Griechenland sowie die Aggression der Streitkräfte des Warschauer Paktes gegen die ČSSR. In weiteren Resolutionen forderten die Studenten kulturelle und nationale Freiheit für die Juden in der UdSSR und ein Ende des Krieges im Südsudan, dessen Bevölkerung ein Recht auf nationale Selbstbestimmung hat. Desgleichen wurde gegen die unmenschliche Behandlung der Juden in den arabischen Ländern protestiert.

Der Kongreß der WUJS in Arad hat zweifellos einen Schock ausgelöst, dessen Hauptleidtragende die israelischen Delegierten waren. Doch dieser Schock war notwendig und heilsam. Er löste ein wenig den Ring der Isolation, der in der israelischen Atmosphäre auf Grund der äußeren Gefahr zum Greifen spürbar ist, einer Isolation, die aus der Lage verständlich, aber nicht ungefährlich ist. Deshalb ist ein dauernder Kontakt der israelischen mit den jüdischen Studenten des Auslandes notwendig.

[1Über die linke Minderheit der israelischen Studenten und Schüler vgl. John Bunzl, Von Israel nach Palästina, NF, Mitte Juli 1970.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1970
, Seite 1075
Autor/inn/en:

Dan Diner:

Foto: Von Dontworry - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29224437

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