FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1972 » No. 217
Adalbert Krims

Wozu Religionsunterricht?

I. Das gegenwärtige Schulsystem ist autoritär strukturiert

Bevor näher auf die Problematik des Religionsunterrichtes eingegangen wird, muß kurz vom Schulsystem als gesellschaftliche Bedingung und Kontext des Religionsunterrichtes gesprochen werden (Näheres vgl. Literaturverzeichnis). Die Situation der Schule hat ihre Ursachen in der Situation der Gesellschaft, anderseits ist die Schule zum Funktionieren der Gesellschaft unerläßlich; und zwar in zweierlei Hinsicht:

  1. Die Schule spielt eine wesentliche Rolle in der Sozialisation des Kindes und Jugendlichen, d.h. in ihrer Eingliederung in das bestehende System durch möglichst reibungslose Übernahme der herrschenden Normen, Vorschriften und Verhaltensweisen;
  2. Die Schule bildet nach den wirtschaftlichen Notwendigkeiten die Arbeitskräfte für die jeweilige Gesellschaft aus.

Aus diesen Gründen besteht ein Zusammenhang zwischen der inneren Situation der Schule und der Gesellschaftsform. Die durch hierarchischen Aufbau des Schulsystems, Benotung, Schuldisziplin usw. ausgeübte Unterdrückung des Schülers bedeutet somit zugleich Produktion und Reproduktion einer unterdrückenden Gesellschaft. Die Schule ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß der demokratische Anspruch unserer Gesellschaft ein formaler bleiben muß.

Gleichzeitig besteht auch eine Affinität zwischen der ökonomischen Basis der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Schule. Exemplifiziert kann das am kapitalistischen Konkurrenzprinzip werden, das auch an der Schule uneingeschränkte Geltung besitzt. Der Schüler vollbringt alle vom Lehrer geforderten Leistungen nicht mit Klassenkameraden, sondern gegen sie, um seine individuelle Leistung gegenüber der Klasse zu verbessern. So werden unter den Schülern Hierarchien gebildet, die eine wirksame (horizontale) Solidarisierung verhindern und zur Stabilisierung der autoritären Schulstrukturen beitragen.

Diese andeutungsweise Charakterisierung unseres Schulsystems muß hier genügen, sie ist jedoch entscheidend für die Behandlung des Religionsunterrichtes, wenn dessen politische Relevanz berücksichtigt, also nicht bloß abstrakt von ihm gesprochen werden soll.

II. Der Religionsunterricht wirkt sich in der autoritären Schule systemstabilisierend aus

Von seinem Selbstverständnis her hat Religionsunterricht etwas mit christlicher, kirchlicher Verkündigung an der Schule zu tun. Zumindest sollte eine Information über den Inhalt der christlichen Lehre geboten werden. Nehmen wir nun an, diese Verkündigung hätte etwas mit Befreiung (Evangelium), mit Liebe unter Brüdern (= Gleichen) usw. zu tun, also mit der grundsätzlichen Relativierung des Erreichten, Bestehenden zugunsten des Möglichen, Zukünftigen, Neuen, zugunsten von mehr Freiheit und Gerechtigkeit unter den Menschen.

Wie ist es gelungen, einen solchen Unterricht, der unter den gegebenen Bedingungen, in dem oben skizzierten Schulsystem, zwangsläufig subversiv werden müßte, in diesem System zu etablieren? Welche revolutionäre Regierung oder Volksvertretung hat ihre Zustimmung dazu gegeben?

Da der Religionsunterricht aber offensichtlich keine subversive Kraft in der Schule darstellt, muß nach der eigentlichen Funktion dieses Unterrichtes gefragt werden. Dabei muß auch berücksichtigt werden, daß es gerade nicht eine revolutionäre Bewegung war, die dieses Unterrichtsfach staatlich einführte, sondern ein höchst reaktionäres, autoritäres Regime.

Nur auf den ersten Blick scheint es verwunderlich, daß in der Vergangenheit gerade auch nichtklerikale Parteien für die Einführung bzw. Beibehaltung eines staatlich sanktionierten Religionsunterrichts eintraten und auch heute die Front zwischen Gegnern und Befürwortern dieses (Pflicht-)Faches im Rahmen der schulischen Erziehung nicht zwischen Christen und Nichtchristen verläuft, sondern — etwas pauschal behauptet — eher zwischen sogenannten Progressiven und Konservativen.

Dies erscheint aber logisch, wenn klar wird, daß der Religionsunterricht im gegenwärtigen Schulsystem in erster Linie eine Lücke zu füllen hat, die ohne ihn offenbleiben würde: nämlich die ideologische Abstützung, die Letztbegründung des Systems, seiner Normen und Werte. Dies gilt nicht nur für den Religionsunterricht alten Stils; im Deutschen Katechismus, dem offiziellen Lehrbuch für die Pflichtschulen, besteht z.B. die ganze „Theologie der Arbeit“ aus der Frage und Antwort: „Warum arbeiten wir?“ „Wir arbeiten, weil Gott zu Adam gesagt hat: ‚Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dir dein Brot verdienen.‘“

Über die systemstabilisierenden Auswirkungen kirchlicher Sündenpredigt und der Einschärfung des persönlichen Sündenbewußtseins ohne die gleichzeitige Bewußtmachung der gesellschaftlichen Struktur des Bösen (einer vom Menschen veränderbaren Struktur), ist schon genügend publiziert worden. [1] Wenngleich diese Predigt heute schon humaner geworden ist, ist sie ihrem Sinne nach noch immer ein wesentlicher Bestandteil des Religionsunterrichtes. Die Kategorie „Gesellschaft“, „ungerechte Strukturen“ usw. kommt in der Sündenlehre nicht vor, außer daß dem Schüler gesagt wird, seine persönliche Sünde sei auch ein Verstoß gegen die Gemeinschaft.

Ohne die Kategorie des „Bösen in den Strukturen“ und das Bewußtsein der Veränderbarkeit dieser Strukturen werden mittels des individuellen Sündenbewußtseins ich-schwache, untertänige Menschen erzogen. „Bekehrung“ wird zu einem rein individuellen, gesellschaftlich irrelevanten Vorgang; systemnonkonformes Verhalten wird unmöglich, da es beim einzelnen Schuldgefühle weckt und als Sünde empfunden wird (besonders durch eine bestimmte Art der Auslegung des 4. Gebots auf jede Art von Autorität hin).

Regelmäßige Schulbeichten sowie die Vorbereitung darauf im Unterricht haben dabei die Aufgabe, das Schuldbewußtsein wachzuhalten. Dies ist auch für die Schule so wichtig, daß für derartige Vorgänge ganze Schultage oder zumindest einige Stunden unterrichtsfrei gegeben werden.

Die Sündenpredigt ist nach wie vor (durch Verschweigung der gesellschaftlich-strukturellen Bedingungen des „Bösen“ sowie durch Verhinderung nonkonformen Verhaltens) die wichtigste Schützenhilfe, die der Religionsunterricht in bezug auf Sozialisation und Stabilisierung des Schulsystems (inkl. Gesamtgesellschaft) leistet.

Wenn heute die Beziehung zwischen Sexualmoral und Gesellschaft (bes. den darin herrschenden Autoritätsvorstellungen) neu erkannt wird, so wird auch klar, warum die Aufklärung nach wie vor in besonderer Weise dem Religionsunterricht zugewiesen wird.

Die Ein- und Ausleitung der Unterrichtsstunden durch ein gemeinsames Gebet verleiht schließlich dem Gelehrten eine letzte Gültigkeit und Unbefragbarkeit. Der Religionslehrer (bes. wenn er ein Priester ist) bringt dadurch zum Ausdruck, daß er gewissermaßen nicht im eigenen Namen gesprochen hat, sondern daß letztlich die Legitimation der durch ihn vermittelten Werte und Normen in Gott selbst liegt. Die Schüler können darauf nur noch „Amen“ sagen.

Durch detaillierte Analysen könnte man die aufgestellte These, daß die Funktion des Religionsunterrichtes im Schulsystem in dessen ideologischer Abstützung liegt, noch weiter ausbauen und belegen. Doch würde das in diesem Rahmen zu weit führen.

Erwähnt werden muß noch, daß die Kirche diesen Rechtfertigungsdienst nicht ohne Gegenleistung durchführt. Sie erhält die Möglichkeit, zwei Stunden pro Woche bei fast allen 6- bis 14jährigen Kindern, sowie bei einem guten Teil der 15- bis 19jährigen Jugendlichen für sich zu werben. Der Staat bezahlt noch dazu die Lehrkräfte und übernimmt deren Ausbildung. Die Schule stellt dem Religionsunterricht außerdem dieselben repressiven Mechanismen zur Verfügung wie jedem anderen Fach (Noten, disziplinäre Maßnahmen usw.)

Diese Koalition von Schulsystem und Religionsunterricht ist innerhalb der Schule vom einzelnen Religionslehrer kaum zu durchbrechen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, daß z.B. der Verzicht auf das ein- und ausleitende Gebet eine gewisse „Entmythologisierung“ des Unterrichts mit sich bringt, doch damit ist noch nicht viel erreicht. Die entscheidende Zange wird durch Lehrplan und Schuldisziplin gebildet, der der Religionslehrer — selbst in einem hierarchischen Bezugssystem stehend — praktisch nicht entkommen kann. Der Verzicht auf disziplinäre Maßnahmen muß dazu führen, daß sich während der zwei Religionsstunden pro Woche die Aggressionen der Schüler entladen, die in den dreißig anderen, autoritär geführten Unterrichtsstunden aufgestaut wurden.

Der Lehrer, der bereit ist, „Disziplinlosigkeit“ während seiner Stunden zu akzeptieren, wird sehr bald selbst Repressionen von „oben“ zu spüren bekommen. Ähnliches gilt vom Lehrplan. Der Lehrer muß genau über den durchgenommenen Lehrstoff Buch führen und bei Inspektionen Rechenschaft ablegen. Dadurch wird er praktisch gezwungen, sich herrschenden Vorschriften und Auffassungen zumindest annäherungsweise zu unterwerfen. Wenn er es nicht tut, setzen wiederum Repressionen ein. Als letztes Mittel kann ihm die kirchliche Lehrerlaubnis (Missio Canonica) entzogen werden.

III. Der Religionsunterricht ist ein Relikt des Staatskirchentums

Ein Staat mit einer „freiheitlichen Gesellschaftsordnung“ hat nach seiner eigenen Definition „weltanschaulich neutral“ zu sein, d.h., daß sowohl Diskriminierung als auch Privilegierung von Menschen oder Gemeinschaften auf Grund ihres weltanschaulichen oder religiösen Bekenntnisses seinem Wesen widerspricht. Das würde aber doch auch heißen, daß im Rahmen des schulischen Unterrichtes entweder keiner oder allen (was kaum möglich wäre) weltanschaulichen, religiösen und politischen Gruppen direkte Werbemöglichkeiten geboten werden müßten. Zumindest scheint es aber mit der pluralistischen Gesellschaft, zu der sich der Staat bekennt, unter keinen Umständen vereinbar, daß religiöse Werbung zweier privilegierter Kirchen noch aus Staatsgeldern finanziert wird.

Man bezeichnet das Bündnis zwischen Kirche und Staat, zur Aufrechterhaltung einer bestehenden Ordnung, wobei der Staat die weltliche Macht (einschl. Geld) und die Kirche die geistliche Macht (einschl. Segen) beistellt, als Staatskirchentum. Dieses wurde offiziell totgesagt, nachdem sich der Staat zum Pluralismus und die Kirche zur Religionsfreiheit bekannte.

Es ist hier nicht der Ort, um detailliert nachzuweisen, daß das Ende des Staatskirchentums bis jetzt nur ein Lippenbekenntnis blieb, da es zum Teil nur in subtileren Formen weiterexistiert. Ein Umstand muß aber angeführt werden: gerade in den autoritärsten Bereichen unserer Gesellschaft besteht das Staatskirchentum im kaum veränderter Form weiter. Im Militär gibt es nach wie vor uniformierte Militärseelsorger im Range von höheren Offizieren, die vom Verteidigungsministerium bezahlt werden, und im Bereich der Schule existiert der staatliche Religionsunterricht und die relativ autonome Konfessionsschule.

Die Funktion der gegenwärtigen Form der Militärseelsorge ist ziemlich klar und wurde in diesem Jahrhundert schon mehrmals deutlich ausgewiesen. Man könnte sie etwa im Bereich der psychologischen Aufrüstung ansiedeln. Moralische Bedenken in bezug auf das Töten von Menschen werden zugunsten irgendwelcher Werte überhöht und dadurch soweit als möglich beseitigt. Der Gehorsam, die treue Pflichterfüllung werden zu den einzigen Prinzipien des Handelns, selbst wenn dieses Handeln morden bedeutet. Doch der kirchliche Segen bestätigt, daß alles für den Frieden geschieht.

Demgegenüber ist das schulische Staatskirchentum zweifellos humaner. Trotzdem geht es auch hier um die Legitimation autoritärer Strukturen durch ähnliche Werte, wie sie in verschärfter Form auch im Militär gelten (z.B. Gehorsam, Tradition, Pflicht, Ordnung, Disziplin, Rangunterschied). Diese Werte, die in gewisser Weise als Sekundärtugenden eine relative Bedeutung haben mögen, werden absolut gesetzt und als primäre Prinzipien für das Verhalten vermittelt.

Ebenso finden Vorurteile, auf denen unsere Gesellschaftsordnung wesentlich beruht, ihre Begründung im Religionsunterricht. Ein Beispiel: Ich führte in einer Klasse mit 13jährigen Mädchen einen Test durch. Die Frage lautete: „Was für Menschen sind die Kommunisten?“ Zuerst herrschte große Verblüffung über die Frage, da doch die Antwort ohnehin klar war. Das Ergebnis war, daß von den zwanzig Mädchen keines positive Aussagen traf. Es war für alle klar, daß Kommunisten schlechte Menschen seien. Auf die Frage, warum sie zu diesem Urteil gekommen seien, fand sich zunächst keine Begründung. Es stellte sich aber dann heraus, daß hinter der als Tatsache feststehenden Konvention eine religiöse Wertung steckte: „Sie glauben nicht an Gott.“

Ähnliche Beispiele könnten in bezug auf Eigentumsordnung und andere „Heiligtümer“ unserer Gesellschaft angeführt werden. Deren ideologische Abstützung sichert der Kirche Privilegien, die keine andere gesellschaftliche Gruppe besitzt.

Das Kind wird ohne seine Einwilligung getauft und dadurch automatisch dem Religionsunterricht unterworfen. Vom 6. bis 14. Lebensjahr wieder ohne seine Einwilligung. Es ist in dieser Beziehung total dem sogenannten „Elternrecht“ unterstellt, ohne selbst über irgendein Recht zu verfügen. Ab dem 15. Lebensjahr (also nach der Pflichtschule) hat der Jugendliche erstmals die Möglichkeit, sich vom Religionsunterricht abzumelden, was ihm oft gar nicht bekannt ist und außerdem nicht immer ohne jede gesellschaftliche Repression (Eltern, Lehrer, soziales Milieu) vonstatten geht. Doch bis zum Ende des 14. Lebensjahres können genügend Grundhaltungen und Wertvorstellungen anerzogen werden, die trotz partieller Ablehnung oder Trotzhaltung des Jugendlichen in die Persönlichkeit integriert werden.

Vielfach wird für die Berechtigung eines staatlichen Religionsunterrichts argumentiert, daß nun eben die überwiegende Zahl der Bevölkerung sich zu einer christlichen Kirche bekenne und sich daraus die Verpflichtung des Staates zur religiösen Unterweisung ergebe. Ohne auf die Problematik der Echtheit dieses Bekenntnisses einzugehen, erscheint es mit einer pluralistischen Gesellschaftsauffassung unvereinbar, daß aus der mehrheitlichen Zustimmung zu einer Religion schon deren Privilegierung abgeleitet wird bzw. daß andere Weltanschauungen schon deswegen diskriminiert werden, weil sich eine geringere Anzahl von Staatsbürgern zu ihnen bekennt.

Außerdem wird von vornherein eine „Religion“ gegenüber einer „Weltanschauung“ bevorzugt, was eigentlich nicht zulässig ist (außer man interpretiert das staatliche Bildungsziel auch als ein religiöses, wie es z.B. die ÖVP vorschlägt. Allerdings wird dadurch von vornherein der Boden der garantierten weltanschaulichen Neutralität verlassen.).

Interessant wäre es auch, die rechtliche Position des Religionsunterrichts zu untersuchen. Es dürfte kaum einen völkerrechtlichen Vertrag geben, der so tief in das innerstaatliche Bildungswesen eingreift wie das Konkordat, durch das der Religionsunterricht letztlich abgesichert ist. Die internationalen Verträge des Vatikan erwecken den Anschein, als ob sie nach einer kriegerischen Unterwerfung dem Unterlegenen diktiert worden wären.

Zusammenfassend wäre zu betonen, daß der Religionsunterricht, wie wir ihn gegenwärtig verstehen, ein Verstoß gegen die verfassungmäßig garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie gegen die weltanschauliche Neutralität des Staates ist und er nur von einer staatskirchlichen Position aus gerechtfertigt werden kann.

Daß die Existenz der Kirche keineswegs von ihm abhängt, beweisen die vielen Staaten, in denen die Kirche in der Kinderverkündigung nicht auf staatliche Privilegien bauen kann (wie z.B. in den meisten Staaten des Westens). Wenn die Kirche die im Konzil betonte Religionsfreiheit sowie den freien Charakter der Glaubensentscheidung ernst nimmt, müßte sie selbst auf jeden Zwang und jede staatliche Privilegierung in ihrer Verkündigung verzichten. Dadurch würde sie nicht nur nichts verlieren, sondern sogar an Glaubwürdigkeit gewinnen.

IV. Die im Religionsunterricht vermittelten Lehrinhalte sind irrelevant

Es mag paradox erscheinen, in einem die wesentliche Bedeutung des Religionsunterrichts für die ideologische Abstützung der bestehenden Ordnung und die Irrelevanz seiner Bildungsinhalte zu behaupten. Untersuchungen [2] zeigen jedoch, daß die religiösen Werte, die durch die Schule vermittelt werden, die wenigste Zustimmung bei den Schülern erzielen.

Die große Relevanz des Religionsunterrichts für das System und seine gleichzeitige Irrelevanz in der Einschätzung der Schüler ist aber nur ein scheinbarer Widerspruch. Die Schüler behalten zwar kaum „religiöses Wissen“ und lassen sich auch sonst in ihrem Verhalten nicht von der Kirche bestimmen (die diesbezügliche Irrelevanz lehramtlicher Entscheidungen ließe sich nicht nur am Beispiel von „Humanae vitae“ aufzeigen); dennoch akzeptieren sie unbewußt gewisse oft unausgesprochene Grundmodelle, die dem gegenwärtigen Religionsunterricht zugrunde liegen. Dies gerade in Bereichen, in denen ideologische Letztbegründungen jedes rationale Weiterfragen unmöglich machen, oder besser: für den Weiterbestand dieses Systems unmöglich machen müssen — z.B. Autorität, Eigentum, Sexualität, Militär.

In seinen deklarierten Aufgaben versagt der Religionsunterricht hingegen viel mehr als andere Unterrichtsfächer. Das vermittelte Wissen wird von den Schülern kaum behalten, und die Abkehr von der Institution Kirche wird durch ihn eher gefördert als verhindert. Die kirchliche Praxis (Empfang von Sakramenten usw.) nimmt mit dem Alter des Kindes konstant ab und hört mit dem Verlassen des Kindesalters überhaupt nahezu auf. Daran ändert auch der weitere Besuch des Religionsunterrichts nichts.

Noch eine Tatsache ist interessant: je höher die intellektuelle Autonomie des Schülers ist, desto geringer ist seine Zustimmung zu den vermittelten religiösen Werten und seine Teilnahme an der religiösen Praxis.

V. Man braucht außerschulischen „Gegenunterricht“ statt Religionsunterricht

Eine Gegenstrategie im Rahmen des schulischen Religionsunterrichts ist aus vielen Gründen schwer möglich: von seiten der Schulverwaltung, des Lehrkörpers, der kirchlichen Obrigkeit; aber auch von seiten der Schüler auf Grund ihrer berechtigt negativen Einstellung zur Schule. Dennoch muß sie versucht werden, besonders von jenen, die auf Grund ihres kirchlichen Amtes schulischen Unterricht erteilen müssen (Kapläne!). Solche Strategie müßte aber in dem Bewußtsein entwickelt werden, daß sie nur eine Übergangslösung darstellt, weil schulischer Religionsunterricht als solcher ein nicht aufrechtzuerhaltendes Privileg darstellt.

Grundlage eines „kritischen Gegenunterrichtes“ müßte sein, daß „alles Schulmäßige unbedingt vermieden wird.
Darum gibt es weder ‚Lehrer‘ noch Unterrichtsräume, weder ein streng festgelegtes Programm noch Hausaufgaben.“ [3] Der Aufbau könnte ungefähr folgend aussehen: Gruppen von 6 bis 8 Kindern treffen sich wöchentlich mit einem Erwachsenen oder älteren Jugendlichen. Die Teilnahme ist freiwillig. Disziplinäre Maßnahmen sind diesen Zusammenkünften fremd. Dadurch soll schon durch die Art des Beisammenseins die schulische Herrschaftssituation überwunden und in den Kindern ein neues Gefühl solidarischen Zusammenlebens untereinander und mit dem Erwachsenen geweckt werden. Wichtig ist auch, daß in diesen Gruppen jegliches Frageverbot, das in der Schule und im Elternhaus besteht, gänzlich aufgehoben wird.

Diese mehr formalen Anmerkungen sind insofern bedeutsam, als das Kind mehr durch das Erlebte als durch das Gehörte und Gelernte geprägt wird. Da das Kind ansonsten hauptsächlich Beherrschung, Disziplinierung, Tabuisierung bestimmter Fragenbereiche usw. erfährt, muß vor der inhaltlichen Vermittlung anderer Werte eine grundsätzlich andere Lebenserfahrung geschaffen werden.

Dabei muß in Kauf genommen werden, daß die erwähnten Gruppen für das Kind zunächst hauptsächlich einen Bereich darstellen, in dem es seine Frustrationen kompensieren und gewisse Tabus brechen kann.

Erst auf dieser neuen Grunderfahrung ist es möglich, auch inhaltlich so etwas wie ein kritisches Bewußtsein (sofern dieser Ausdruck für ein Kind verwendet werden kann) zu vermitteln. Die Themen müssen sich in den Altersstufen vor allem daran orientieren, wie für das Kind Befreiung erlebbar gemacht werden kann. Zunächst wird es um die Relativierung sogenannter Tatsachen gehen (dazu gehört auch die sich dem Kind stellende Autoritätsproblematik), darum, daß das Kind nicht einfach annimmt, sondern weiterfragt.

Weiters muß bedacht werden, daß es in einer gewissen Altersstufe für das Kind alles andere als gleichgültig ist, wenn es keine Antwort auf seine sexuellen Fragen erhält. Als Beispiel dafür: in einer 3. Hauptschulklasse für Mädchen nahmen wir einige sozialkritische Gleichnisse aus dem Neuen Testament durch, wobei den Mädchen manche Deutungen — bzw. „Verheutigungen“ — durchaus neu waren. Ich führte dann eine Fragestunde durch, in der die Mädchen schriftlich — zur Wahrung der Anonymität — Fragen an mich stellten. Ich rechnete damit, daß sie in die aufgeworfene soziale Problematik einsteigen würden. Das Ergebnis: ca. 95 Prozent der Fragen betrafen die Sexualität, obwohl darüber im Unterricht noch gar nicht gesprochen worden war. Fragen über kirchliche Probleme kamen überhaupt nicht vor — außer eine über die Beichte.

Durch den Zusammenhang zwischen repressiver Sexualmoral und autoritärer Gesellschaft ist hier ein wichtiger Ansatzpunkt zur Befreiung des Jugendlichen gegeben.

Für jede irrationale Gesellschaftsstruktur ist der Bestand gewisser Vorurteile konstitutiv, die, ohne hinterfragt zu werden, angenommen werden müssen. Sie bilden sich um Begriffe wie Religion, Nation, Rasse, Tradition, natürliche Ordnung usw. Das jeweils andere wird in irgendeiner Weise als minderwertig dargestellt, es bildet den äußeren Feind, gegen den verteidigt werden muß.

Wesentlich ist dabei, daß für die vorurteilsmäßigen Wertungen keine rationalen Begründungen oder Analysen gegeben werden. Die Irrationalität des Vorurteils wird aber nicht zugegeben, sondern sie wird als „Glaube“ usw. ideologisch verschleiert.

Aufgabe eines kritischen Gegenunterrichtes wäre es, solche Vorurteile von der Ebene der Emotion auf die der Vernunft zu bringen und dadurch zu überwinden, wodurch er notwendigerweise subversiv für das System wird (das Militär z.B. kann nur auf der Basis solcher emotionaler Vorurteile existieren). Dies soll hier als Andeutung des Inhalts eines Gegenunterrichtes genügen.

Erst in einer späteren Phase soll dem Kind gesagt werden, daß immer schon vom Christentum die Rede war. Zuerst muß dem Kind Befreiung (= Erlösung) erlebbar gemacht werden (auch durch das inhaltlich Gelernte), dann kann man ihm sagen, daß Jesus von Nazareth für diese Befreiung bis in den Tod, ja durch den Tod hindurch gegangen ist. Das Kind wird verstehen, warum die Mächtigen damals ohne ihn ruhiger geschlafen hätten, daß seine Botschaft die Ordnung gefährdet hat und daß sogar in der 2000jährigen Geschichte, trotz des Versuchs der Mächtigen, diese Botschaft für sich zu vereinnahmen und sie dadurch unschädlich zu machen, immer wieder Brände entfacht wurden und ihre Kontinuität bis in die heutige Zeit, bis zu Camilo Torres und Martin Luther King, reicht.

So könnte das Kind zum Glauben hingeführt werden, ohne die Welt verlassen zu müssen, zu einem Christentum, dessen Ort die Geschichte ist. Von diesem Ansatz her könnte man dann dem Jugendlichen neues Verständnis und neuen Zugang zu den Sakramenten, zum Geistwirken Gottes, zur Eschatologie und so weiter eröffnen.

Es kann hier nicht mehr näher ausgeführt werden, wie der vorgeschlagene induktive Weg einer kritischen Verkündigung schon im Kindesalter konkret aussehen könnte, hier wäre noch viel theoretische und praktische Arbeit zu leisten. Wenn ähnliche Versuche in größerer Zahl unternommen werden könnten, wäre deren Veränderungskraft für Kirche und Gesellschaft gar nicht hoch genug zu veranschlagen.

Heute wird mit der Bildung eines kritischen Bewußtseins zumeist erst an der Hochschule (und zwar auch hier gegen die Institution) begonnen, wobei der Rückstand gegenüber den Anpassungsmechanismen im Kindheits- und Jugendalter nicht mehr aufgeholt werden kann. Außerdem besteht noch ein zusätzlicher bedeutender Rückstand des Bewußtseins der Christen gegenüber anderen Gruppen.

Ohne die Abschaffung oder zumindest den organisierten Boykott (Abmeldung und so weiter) des systemstabilisierenden staatlich-schulischen Religionsunterrichts und den Aufbau eines christlich-kritischen Gegenunterrichts besteht keine Chance, in größerem Stil das unterentwickelte Bewußtsein der Christen von der ideologischen Wächterfunktion der bestehenden Ordnung in Richtung Gesellschaftsveränderung zu transformieren.

Nachdem eine derartige Bewußtseinsänderung der Christen nicht im Interesse der herrschenden Kreise in der Kirche ist, muß sie gewissermaßen von „unten“ initiiert werden, von kritischen „Laien“ und Funktionären im Stande des „niederen Klerus“ (junge Kapläne!).

Wann soll damit begonnen werden?

Am besten sofort.

[1Die kirchliche Sündenpredigt wird seit einigen Jahren nicht mehr nur von „außerhalb“ der Kirche kritisiert, sondern auch von „innerhalb“. Vgl. dazu das ausgezeichnete Buch von Thomas und Gertrude Sartory, „In der Hölle brennt kein Feuer“ (Kindler Verlag, München, 1969), rezensiert von Friedrich Heer in NF/Anfang April 1970 („Christentum als Teufelsglaube“).

[2Die hier angeführten soziologischen Untersuchungsergebnisse basieren auf Untersuchungen aus dem Forschungspraktikum von cand.soc. Rudolf Dirisamer, Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Linz, über „Aktualität und subjektive Relevanz der Bildungsziele unter besonderer Berücksichtigung der religiösen Werte“. — Dirisamer folgert u.s. aus den Untersuchungsergebnissen, daß der religiöse Wert als Bildungsziel von den wenigsten Schülern akzeptiert wird (27 Prozent), daß mit steigender intellektueller Autonomie die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung religiöser Werte zunimmt, und daß der Prozentsatz der Schüler mit hoher intellektueller Autonomie in Konfessionsschulen geringer ist als in nicht konfessionellen Schulen.

[3Die Botschaft Jesu im Isolotto. Der Katechismus des Don Mazzi (Mainz—München, 1969), S. 30. Vgl. auch den „Forvm“-Text von Don Mazzi, s. Literaturverzeichnis.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1972
, Seite 35
Autor/inn/en:

Adalbert Krims:

Geboren 1948 in Freistadt, Oberösterreich. Ehemals katholischer Religionslehrer und Diözesanjugendführer in Linz, Angestellter des Wiener Instituts für Entwicklungsfragen, Sekretär der Paulusgesellschaft‚ Mitbegründer der Aktion Kritisches Christentum, ab 1970 Redakteur des FORVM und Obmann des Vereins der Redakteure und Angestellten des NEUEN FORVMs.

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Begriffsinventar

Geographie

Organisationen