FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1980 » No. 313/314
Noam Chomsky • Peter Jirak
Noam Chomsky

USA — schlimmer als ihr denkt

Interview
Bild: Jacob Holdt („Bilder aus Amerika“, S. Fischer Verlag)

„Freundlicher Faschismus“ in USA?

JIRAK: Sie sagten einmal: Gäbe es heute einen vernünftigen faschistischen Diktator, er würde sich das amerikanische System als Herrschaftsinstrument erwählen.

CHOMSKY: Ich glaube nicht, daß es ernsthafte Aussichten auf Faschisierung in den USA gibt, jedenfalls nicht im traditionellen Sinn. Allerdings haben wir eine schwere Krise, Arbeitslosigkeit, Inflation, wachsende Unfähigkeit, unsere Welthegemonie zu halten, die Energieprobleme zu lösen. Es ist also sehr gut möglich, daß es in den USA zur Herausbildung einer einheitlichen, überaus mächtigen zentralstaatlichen Gewalt kommt — etwas, das dem europäischen Faschismus der dreißiger Jahre vergleichbar wäre. Hier muß man aber sehr vorsichtig sein. Immerhin darf man nicht vergessen, daß der Faschismus vor allem ein politisch-ökonomisches System ist — abgesehen von den schrecklichen Greueln, die damit verbunden sind. In der gesamten Welt des Industriekapitalismus wurden zwischen 1920 und 1930 Entwicklungsschritte auf ein faschistisches System hin unternommen. In gewissem Sinn gilt dies auch vom New Deal in den USA. Er brachte eine Zentralisierung der Staatsmacht, verbunden mit Kontrolle kapitalistischer Unternehmen durch Staatsaufsicht. Das war ein Schritt in Richtung eines Faschismus, allerdings ohne dessen ungeheure Unterdrückungsmaschine. Es ist also notwendig, zu trennen und zu unterscheiden. Es gibt so etwas wie einen freundlichen Faschismus — eine ökonomisch-politische Struktur, noch ohne Gestapo, Gaskammern usw. Schritte in Richtung des „freundlichen Faschismus“ sind insbesondere gefährlich, weil in den USA jegliche Massenbewegung fehlt, die eine alternative Lösung der Krise anbieten könnte.

JIRAK: Gibt es in den USA eine Faschismus-Debatte? Gibt es eine Theorie des Faschismus, die eine politisch interessierte Öffentlichkeit erreicht?

CHOMSKY: Bisher sprach ich über Faschismus als sozio-ökonomische und sozio-politische Struktur, Zentralisierung der Staatsmacht, koordiniert mit kapitalistischen Unternehmen, Welthandel und Finanzkapital. Die Koordinierung solcher Kräfte nenne ich „freundlicher Faschismus“, Faschismus ohne Greuel. Jetzt erwähnen Sie einen anderen Aspekt, die Gehirnwäsche, die Vereinheitlichung der Ideologie, die Verweigerung offener Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern usw. Das ist eine andere Erscheinung des Faschismus.

In den USA ist der Horizont sozialen Denkens und politischen Handelns äußerst borniert. Es gibt keine sozialistische Bewegung, keine sozialistischen Journalisten in den Massenmedien, wenige sozialistische oder marxistische Ökonomen, keine nennenswerten marxistischen Wissenschaftler oder Studenten. Da ist die USA einzigartig in der kapitalistischen Welt.

Jedenfalls bis in die sechziger Jahre gab es das alles nicht — dank einer ungeheuren ideologischen Vereinheitlichung aller intellektuellen Zentren, Universitäten und Zeitungen eingeschlossen. Die hegemoniale Dominanz einer staatskapitalistischen Ideologie war überwältigend und völlig einheitlich, vergleichbar der Kontrolle und Gleichschaltung in den sogenannten kommunistischen Staaten, nur ohne offenen Zwang.

Durch die Studentenbewegung der sechziger Jahre wurden da und dort Breschen in das völlig einheitliche System geschlagen. Heute ist es vielleicht schon eher möglich, einen Marxisten in einer Diskussion öffentlich anzutreffen. Aber im großen ganzen hat sich nicht viel verändert. Wie in den USA ein solcher ideologischer Konformismus entstehen konnte, darüber hat man oft und lange nachgedacht. Werner Sombart schrieb vor Jahrzehnten ein berühmtes Buch: Warum ist der Sozialismus in den USA unmöglich?

Nach wie vor gibt es in den USA keine organisierte Linke, keine Arbeiterbewegung, nicht einmal eine artikulierte Dissidenz.

Bild: Jacob Holdt („Bilder aus Amerika“, S. Fischer Verlag)
Jacob Holdt („Bilder aus Amerika“, S. Fischer Verlag)
Das wahre Gesicht der USA,
zwischen zerstörtem White trash (links unten und rechts oben [hier: oben]) und den kämpfenden Chicanos der United Farmworkers Union des Cesar Chavez (oben [hier: unten]).
Bild: Jacob Holdt („Bilder aus Amerika“, S. Fischer Verlag)
Bild: Jacob Holdt („Bilder aus Amerika“, S. Fischer Verlag)

Das Elend der US-Intelligenz

JIRAK: Aber in den USA gibt es kritische Presse, kritische Intelligenz, politisch interessierte Öffentlichkeit.

CHOMSKY: Darüber macht man sich Illusionen. Die amerikanische Intelligenzija ist heute nicht nennenswert dissident. In den sechziger Jahren gab es antiimperialistische, antiamerikanische kritische Intelligenz in den USA, noch gestärkt durch die Bürgerrechtsbewegung und die Antikriegsbewegung das „Movement“, wie es sich nannte. Die artikulierten Elemente dieser Bewegung waren Intellektuelle; sie hatten Zugang zu Medien, sie konnten Reden halten usw. Aber wer selbst Teil dieser Bewegung war, weiß, daß die dissidente Intelligenz nur eine verschwindende Minderheit war. Die liberale, einflußreiche Intelligenz hielt sich außerhalb der Bewegung oder stellte sich gegen sie.

Gewiß, Teile der Intelligenzija waren gegen den Indochinakrieg, aber auch Wallstreet war dagegen, das alte Finanz- und Industriekapital. Das sind doch keine Anzeichen von Dissidenz. Die Vertreter des Kapitals waren gegen diesen Krieg, weil sie ihn für eine ungeheure, nutzlose Vergeudung von Mitteln hielten. Wogegen stellte sich die Intelligenzija? Sie hatten keine andren Gründe als die Vertreter des Kapitals auch.

Unter Opposition verstand man einfach: Diese Aggression in Asien sei sinnlos. Der Krieg sei zu blutig und überhaupt mörderisch. Pragmatisch meinte man, der Krieg zahle sich nicht aus. Das war alles. In dieser Borniertheit wurde argumentiert.

Hätte es 1944 deutsche Öffentlichkeit gegeben, hätte gewiß ihr größerer Teil gesagt, der Krieg zahle sich nicht mehr aus, er sei völlig sinnlos.

JIRAK: Kann man die subjektive Seite des Kapitals von der objektiven trennen?

CHOMSKY: Ich glaube, jetzt sprechen Sie über das amerikanische System der absoluten Gedankenkontrolle (thought control). Sie zeigt sich in der erstaunlichen Uniformität der artikulierten Intelligenzija wie in der Subordination der Massen unter Leitbilder, Ideale, Ideen, Prinzipien usw.

Man kann sich natürlich fragen, ob das kapitalistische System den Hegemonieanspruch seiner bornierten Ideologie einzubüßen beginnt, wenn es sich z.B. China auf dem Weltmarkt integriert. Wie die Dinge jetzt stehn, kann man nicht hoffen, daß in den USA über alternative gesellschaftliche Organisationsformen auch nur nachgedacht wird, selbst darüber nicht, ob Maos Gesellschaftslehre vielleicht ein sinnvolles Modell für die Dritte Welt sei. Im Gegenteil: Man feiert die Integration Chinas als Sieg der einzig natürlichen und vernünftigen Ideologie, nämlich der kapitalistischen. China hat die einzig richtige Doktrin, den wahren Glauben angenommen: ausländische Kapitalinvestitionen, Lohnerhöhungen statt Solidarität, Privateigentum und Coca-Cola. Ein weiterer Sieg der einen und unfehlbaren Religion des staatsmonopolistischen Kapitals.

JIRAK: Wir kennen die Formen des Hitlerfaschismus. Aber es gibt auch den freundlichen Faschismus heute. Dieser schleichende Faschismus scheint aus der Geschichte gelernt zu haben: er bedarf keiner Juden, keiner Gaskammern.

Die Elite weiß, was der Masse frommt

CHOMSKY: Die Mechanismen der Macht sind, wenn Sie so wollen, „faschistisch“. Da braucht es keine Gaskammer. Das lehrt uns die Erfahrung der letzten Epoche des Kapitals. Ich meine den Staatskapitalismus, nicht den Liberalismus. Der traditionelle Liberalismus sollte damit nicht verwechselt werden. In den letzten 50 Jahren sieht man: Zuerst regieren nur die „Aristokraten“, die herrschende Elite. Dann entdeckt das Volk, daß es eine Stimme hat, und schon beginnt die „Krise der Demokratie“. Da sind auf der einen Seite die Feudalherren der Machtelite, auf der andren die Masse der Alltagsmenschen. Wenn diese zu artikuliert werden, ihre berechtigten Forderungen zu hart stellen, dann erzeugt das Probleme: die Herrschenden müssen Profite machen, das können sie nicht ändern. Sie können sich anpassen und modifizieren, formaldemokratisch, aber sie können ihre Bedürfnisse nicht von Grund auf ändern. Das ergibt die „Krise der Demokratie“, und man wird ihr überall mit offenem oder schleichendem Faschismus begegnen.

Interessant ist die Entwicklung der Propaganda der letzten 50 Jahre, wie sie von der Intelligenzija erzeugt wurde, z.B. Josef Schumpeter. Ihre Argumente sind immer dieselben: Sie sehen eine Gefahr in der formalen Demokratie, die der „Masse“ erlaubt, ihre Stimme zu erheben. Sie sprechen der „Masse“ jegliches Bewußtsein ihrer wirklichen Bedürfnisse ab. Nur die Elite wisse, was der Masse frommt. Nur die Elite wisse, was politisch notwendig ist usw. Die andren sind bloß die „Laien“. Es bedarf also eines „Krisenmanagements“, um zwischen den laienhaften Vorstellungen der Masse und „richtiger“ Politik, d.h. den Bedürfnissen der Elite zu vermitteln. Man soll sich also der weisen Führung der Elite anvertrauen. Die Elite kann ihre hierarchische Struktur nicht ändern. Wird sie darin angegriffen, wird sie — sozial wie intellektuell — offen oder versteckt faschistisch.

JIRAK: Ist die Stimme der Massen durch die Stimme der Massenmedien adäquat artikuliert?

CHOMSKY: Die ungebrochene Stimme der Massen bestünde in einer oppositionellen Haltung zur kapitalistischen Politik, also Entwicklung eines freiheitlichen Sozialismus.

JIRAK: Heißt das Revolution?

Lernt Demokratie von Bakunin

CHOMSKY: Bei einer erfolgreichen Bewußtseinsentwicklung in Richtung Sozialismus bedeutet dies Revolution. Dabei muß man sich aber sogleich fragen, wie diese Revolution möglich wäre. Wäre dabei Gewalt nötig? Müßte die zentrale Staatsgewalt erobert werden? Gewiß ist, daß die zukünftigen Formen einer freiheitlich-sozialistischen Gesellschaft in der revolutionären Machtergreifung bereits enthalten sein müssen. Sonst würde die neue Gesellschaft schlimmer sein als die jetzt herrschende Unterdrückung. Aus diesen Gründen war ich immer ein strenger Gegner des Bolschewismus. Die leninistische Tradition des Marxismus versagte gerade in der Frage der Machtergreifung.

Eine wahrhaft demokratische Gesellschaftsordnung muß — wie Bakunin sagte — in der Organisationsform der Arbeiter vorweggenommen werden. Sonst besteht die Hierarchie fort und führt zu sehr häßlichen Unterdrückungen, wie das der Leninismus und seine Nachfolgepolitik zeigen. So müssen also zuerst, damit die Revolution wirklich erfolgreich sein kann, Strukturen existieren wie Arbeiterkontrolle der Produktion, Arbeiterräte, die Angelegenheiten in der Ratsversammlung entscheiden, individuelle Freiheiten, allgemeines Bewußtsein und entsprechende Entwürfe für neue soziale Lebensformen auf der Basis kollektiver Meinungsbildung und Entscheidung usw. Das muß vorweggenommener Teil einer Revolution sein. Ein Zentralkomitee wird niemals eine wirklich erfolgreiche Revolution machen können.

Ein Zentralkomitee, das die neue Gesellschaft entwirft und dem Volk vorschreibt, wie es zu partizipieren hat — das ist ein Widerspruch in sich. Die Revolution muß aus der Schöpfungskraft der Massen selbst entstehn. Rosa Luxemburg war in ihrer Leninkritik diesem Argument sehr nahe.

Wie aber sehn die Dinge heute wirklich aus? Jene Formen direkter Demokratie existieren in der modernen Industriegesellschaft kaum. Jedenfalls in den USA nicht. Hier gibt es keine gesellschaftlichen Organisationsformen, die eine Mitbestimmung der Arbeiter in den Fabriken und ihre Einsicht in intellektuelle Zusammenhänge ermöglichen. In Europa gibt es Betriebsräte usw. — eine, wenn auch minimale Mitbestimmung der Arbeiter, eine Vorstellung, daß die Arbeiter direkt mitbestimmen sollen, was und wie produziert wird — und das alles ist noch lange keine Attacke auf die zentrale Position des Kapitals. Nichts dergleichen in den USA.

Ich habe den Eindruck, daß zwischen Westeuropa und den USA ein negativer Austausch vor sich geht. Westeuropa nimmt amerikanische Einflüsse auf und nicht umgekehrt. Die Ideologie des Staatskapitalismus regiert unangefochten in den USA weiter. Die Massenmedien sind vollständig unter Kontrolle dieser Ideologie. Es ist unmöglich, von außen in sie einzubrechen.

Das änderte sich ein wenig durch das movement in den sechziger Jahren. Ein winziger Spalt wurde aufgebrochen. Dissidente Ansichten konnten da und dort gehört werden. Als die Antikriegsbewegung ihren Höhepunkt erreichte, untersuchte ich die dissidenten Pressestimmen, wohlgemerkt: die kritischen und nicht die konservativen. Einhellig sprach man bei Ende des Krieges von einem Wunder. So konnte der Glaube an die Staatsreligion erhalten bleiben: Amerika habe aus selbstlosen Motiven den Krieg in Indochina begonnen und ihn aus selbstlosen Gründen wieder beendet, alles dazwischen war ein Irrtum, den Amerika selber auf wunderbare Weise wieder korrigiert habe.

Auf dieser Doktrin basiert der ungeheure Erfolg des amerikanischen Systems. Kontrolliertes Denken und Indoktrinierung! Diese Staatstheologie ist ungeheuer, und sie wird zum Großteil auch in Westeuropa geglaubt. Es ist verblüffend: Nach Indochina, Guatemala, Brasilien usw. startet der Präsident einen Kreuzzug für die Menschenrechte, und die Europäer können zuhören, ohne dabei zu lachen. Das ist ein schlagendes Beispiel für die Kolonialisierung Europas durch die USA.

Das ist Unterwerfung unter die Grundprinzipien der amerikanischen Theologie. Europa begreift nicht: Amerika wird, ohne seine Gesellschaftsform zu ändern, ohne die Grundlagen seiner Politik zu ändern, fortfahren, trotz Menschenrechtskreuzzug Menschen zu massakrieren und Reformbewegungen über den Haufen zu werfen. Der ganze Schwindel des Menschenrechtskreuzzugs ist die Anstrengung des US-Kapitalismus, nachdem seine Ideologie nach 1960 hart angeschlagen worden ist, die Einheit und Unverbrüchlichkeit der Doktrin wiederherzustellen. Das begreift man nicht.

Alles Böse wurde personalisiert und mit der Figur Nixons identifizierbar gemacht. Daß die Übel im amerikanischen System liegen, wurde nicht gesagt. Nixon wurde aus der Gemeinde der Gläubigen ausgeschlossen. Danach war man wieder sauber. Rationale Einsicht in die wirklichen Zusammenhänge, nein, das nicht!

Der nächste Akt des Dramas kann beginnen: Nationale Wiedergeburt, Kreuzzug für die Menschenrechte. Und das alles nimmt Europa ernst.

JIRAK: Welche Ziele stehen hinter Carters Politik? Inwieweit hat der US-Imperialismus, in seiner Wandlung vom bösen Nixon zum guten Carter, dazugelernt?

Die Russen haben den Faschismus

CHOMSKY: Da gab es nichts dazuzulernen, das wußte man immer, daß man ab und zu Personen auswechseln muß. Ich nehme aber nicht an, daß solche Dinge bewußt geplant werden: Einige Leute entscheiden, jetzt machen wir den Watergate-Skandal, jetzt machen wir den Menschenrechtskreuzzug. Ich meine, daß es sich dabei um ganz „natürliche“ Vorgänge handelt, wie sie aus den herrschenden Strukturen hervorgehn. So ist also die Kreuzzugspolitik Carters um die Menschenrechte keineswegs ein Widerspruch. Der Schah wurde nicht kritisiert, wohl aber die Sowjetunion.

JIRAK: Die Psychiatrie wird dort wie da als politisches Mittel eingesetzt.

CHOMSKY: Ich bezweifle diese Analogie. Der terroristische Gebrauch der Staatsmacht zur Kontrolle und geistigen Veränderung von Bürgern wie in der SU hat nichts Vergleichbares in den USA. Die Methoden gesellschaftlicher Kontrolle in den USA sind von denen in der SU sehr verschieden. In der SU ist das tatsächlich „Faschismus“. Der angewandten Psychiatrie kann dort niemand entkommen. Hat der Staat entschieden, dieses Mittel zu gebrauchen, bleibt der Bürger ohne Chance.

Bild: Jacob Holdt („Bilder aus Amerika“, S. Fischer Verlag)
JIRAK: Benutzt denn nicht auch der CIA die Psychiatrie, um sich gewisse Personen botmäßig zu machen?

CHOMSKY: Es wäre bestimmt ungenau, zu sagen, die USA benutzten dieselben Mittel gegen Dissidenten wie die SU. Es gibt dort alle möglichen Mittel gesellschaftlicher Kontrolle, aber sie sind eben anders.

JIRAK: Vielleicht ist da die SU nicht so raffiniert wie die USA?

CHOMSKY: Rußland ist ein Beispiel für die brutale Anwendung zentraler Staatsmacht, um Konformität und Gehorsam zu erzwingen, was immer auch das Volk denken möge. Es ist der traditionelle autoritäre Staat.

JIRAK: Dort ist die Staatsgewalt physisch, in den USA bemerkt man sie nicht mehr als solche.

CHOMSKY: Ich glaube, die USA sind komplexer, und sie sind schlimmer. Es gibt dort ungeheuren Konformismus und Untertanengeist, aber das wird mit anderen Mitteln erzeugt. Offene Gewalt braucht man nur in seltenen Fällen. Ich will nicht sagen, sie existiert nicht. Sie existiert sehr wohl. In den sechziger Jahren wurde z. B. das FBI eingesetzt, um das movement zu zerschlagen. Auch ich war Opfer. Dennoch soll man das nicht mit der Praxis in einem wirklich totalitären Staat vergleichen.

Bild: Jacob Holdt („Bilder aus Amerika“, S. Fischer Verlag)

Das wirkliche Bild der USA ist anders. Man muß sie eben als kapitalistische Gesellschaft verstehn. In der kapitalistischen Gesellschaft wird alles zur Ware. Relative Freiheit ist eine Ware: man kann sie sich erkaufen. Prinzipiell kann man sehr viel davon kaufen. Wer reich ist, ist sehr frei. Es gibt Rechtsformen, um das Individuum zu schützen. Wer genügend Geld hat und privilegiert ist, darf eine faire Behandlung durch Gericht und Polizei erwarten. Ich z.B. konnte Recht bekommen, die „Black Panthers“ nicht. Einer ihrer Führer wurde unter FBI-Komplizenschaft ermordet. Sie wurden vernichtet, was einer privilegierten Gruppe nicht passieren könnte.

JIRAK: „Black Panther“ Bobby Seale sagte einmal, man sei entweder Teil des Problems oder Teil der Lösung. Wo steht der intellektuelle Dissident, wo stehn Sie?

CHOMSKY: Solange der intellektuelle Dissident eine isolierte Stimme bleibt, solange er privilegiert ist wie ich, kann er tun und lassen, was er will. Ich kann sagen, was ich will, z.T. sogar publizieren. Nichts wird passieren. Verletze ich die Staatsreligion, nun, dann wird man darauf hinweisen und mich zum Häretiker erklären. Argumentieren braucht man nicht. In dem Augenblick aber, wo der Dissident zum Sprecher einer Massenbewegung wird, ist er gefährlich. Das ist aber die Aufgabe des wirklich dissidenten Intellektuellen: Er muß die wahren Bedürfnisse der Massen artikulieren und dazu seine ihm eigenen Talente und Privilegien gebrauchen. Dann wird man ihn genau so behandeln wie die Bewegung, der er angehört. „Black Panther“ Fred Hampton z.B. — das war ein wirklicher Sprecher der Massen in Chicago. Er wurde vom FBI ermordet.

Bild: Jacob Holdt („Bilder aus Amerika“, S. Fischer Verlag)
JIRAK: Wird Amerika in Persien intervenieren?

Kissinger ist ein Dummkopf

CHOMSKY: Die USA mußten in Persien eine schwere Niederlage einstecken. Der Iran war ein Kernstück der US-imperialistischen Struktur. Bis zu einem gewissen Grad ist das nicht mehr der Fall. Man wird sehn, wie weit die Duldung Amerikas wirklich reicht. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, daß die islamische Republik des Iran sich wieder in das amerikanische System integrieren läßt. Die führenden Kräfte der sogenannten islamischen Revolution wurzeln im iranischen Kapital. Diese Kräfte wie auch die religiösen sind antikommunistisch und konterrevolutionär. Da kann sich durchaus ein Weg finden, falls die US-Regierung in Verfolgung ihrer imperialistischen Ziele intelligent ist. Aber vielleicht sind diese Leute nicht intelligent.

Kissinger war dafür ein Beispiel. Nach meiner Ansicht wurde er maßlos überschätzt. Ganz offen gesagt: Er ist ein Dummkopf. Politisch machte er Fehler über Fehler. Von seinen politischen Schriften erst gar nicht zu reden. Er hatte nur einen Vorteil: Er konnte sich phantastisch in den Massenmedien selbstdarstellen. So porträtierte man ihn als großen Denker und neue intellektuelle Weltpotenz. Nimmt man sich aber die Mühe, seine Schriften zu lesen, dann ... Manchmal zitierte ich sie in Vorlesungen; die Studenten lachten sehr.

Bis zur Nixon-Kissinger-Ära war der Iran gewiß ein wichtiges Element der US-Politik. Nixon und Kissinger aber wollten aus dem Iran eine Supermacht machen. Sie pumpten ungeheure Mengen an moderner Technologie in dieses Land. Eine seltsame Modernisierung, die nur der Armee und der Ölproduktion zugute kam. Diese dumme Politik, die über die Möglichkeiten und Bedürfnisse der iranischen Gesellschaft hinausging, führte zur „Revolution“.

Der Schah ist nun nicht länger US-Interessenvertreter am Persischen Golf, aber die neue Regierung könnte es werden, in einem System aus Iran, Saudi-Arabien, Israel und Ägypten.

Es ist traditionelle „westliche“ Politik, Ägypten vom Nahen Osten zu separieren, um es gegen Afrika einzusetzen. Das war ohne Zweifel der Hauptgrund für den Krieg 1967. Nassers Herausforderung nahm man sehr ernst. Man mußte also diese radikale nationale Befreiungsbewegung neutralisieren. Mit dem israelischen Sieg 1967 gelang das, wurde aber 1973 teilweise wieder zunichte gemacht. Jetzt versuchte man es mit diplomatischen Mitteln. Das ist das Wesen der Politik von Camp David. Nun geht man sogar so weit, die ägyptische Armee wieder aufzurüsten. Das richtet sich natürlich gegen Afrika.

China beerben ...

JIRAK: Und China?

CHOMSKY: Man wird versuchen, China in das System des westlichen Kapitalismus einzubeziehn, zuerst über den Handel und dann durch den Versuch, westliche Ideen und Institutionen in China zu verbreiten. Das ist möglich, hängt aber von der Entwicklung der inneren Kräfte in China ab. Man will China als Verbündeten, der die Dritte Welt daran hindert, kommunistisch zu werden.

JIRAK: Vorausgesetzt, die chinesische Revolution geht nicht weiter, vorausgesetzt, das reaktionäre Regime von heute wird nicht zum Teufel geschickt ...

CHOMSKY: Das sind chinesische Interna, darüber weiß ich zu wenig. Die US-Politik hat gegen China die klassische Position wie gegen jedes Land, das sich dem Weltmarkt entziehen will: Man muß dafür sorgen, daß es offene Gesellschaften gibt, Gesellschaften, die für den kapitalregierten Weltmarkt offen bleiben. Wer sich dieser Politik entzieht, wird entweder durch US-Truppen besetzt oder, sollte das nicht möglich sein, ökonomisch isoliert.

JIRAK: Oder ein solches Land wird, wie die SU, zu ungeheuren Rüstungsanstrengungen gezwungen.

CHOMSKY: Ja, das ist ein Teil amerikanischer Politik gegen Rußland nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist Staatspolitik, nicht immer Wirtschaftspolitik. Die Geschäftsleute in ihrer Engstirnigkeit wollen natürlich mit Rußland Geschäfte machen. Die US-Regierung verfolgt die allgemeineren Ziele des kapitalistischen Systems. Nach der russischen Revolution wurde die SU nicht anerkannt, sowenig wie China nach der chinesischen Revolution. Nach dieser Revolution fürchtete man zwar nicht, China könnte andere Länder erobern, man fürchtete aber das chinesische Vorbild und versuchte, das Rad zurückzudrehn.

Das State Department sah die Kulturrevolution als eine Möglichkeit, die chinesische Entwicklung aufzuhalten. Man erwartete das Auseinanderbrechen Chinas in verschiedene Einflußgebiete von „war lords“, wodurch Amerika wieder hätte Fuß fassen können. Heute sind die Hoffnungen der Amerikaner anders: Sollte China unter dem Druck der industriellen Revolution zusammenbrechen, will man zur Stelle sein, um wieder Kontrolle über dieses Gebiet auszuüben. Jedenfalls dachte man so in der Nixon-Kissinger-Ära — nicht unvernünftig, vom Standpunkt des Imperialismus.

Dasselbe mit Kuba: Zuerst versuchte man, es zu isolieren, zu terrorisieren, seine ökonomische Entwicklung aufzuhalten. Diese Politik versagte. Jetzt wird der zweite Akt gespielt: Reintegration in den Weltmarkt. Wahrscheinlich werden wir sehr bald eine Detente mit Kuba erleben.

Dasselbe mit Indochina: Zuerst begegnete man der nationalen Befreiungsbewegung auf das härteste, verweigerte jegliche Hilfe, verweigerte normale Handelsbeziehungen. Jetzt sind solche geplant. Die Reaktion der US-Politik auf den japanischen Faschismus war die gleiche.

Amerikas Politik ist nicht „antikommunistisch“, sie richtet sich gegen nationale Revolutionen, die einen Teil der Welt aus dem Weltmarktsystem herauslösen wollen.

Peter Jirak, alter FORVM-Mitarbeiter aus Wien, der jetzt in Italien lebt, interviewte den amerikanischen Sprachphilosophen Noam Chomsky für das NF, als dieser sich vor kurzem in Italien aufhielt.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1980
, Seite 42
Autor/inn/en:

Peter Jirak: 1939 geb. in Marburg/Drau‚ Studium der Malerei bei Gütersloh (Wien) und Hegedusic (Zagreb), Studium der Philosophie an der Wiener Universität, dissertierte über „Den Staatsbegriff bei Hegel und Marx“, war ein Rädelsführer der Neuen Linken (SOS, Sozialistischer Österreichischer Studentenbund, später FNL, Föderation Neuer Linker) an der Wiener Universität, 1968. Später Lektor bei Luchterhand, wo auch die Gesammelten Werke von Georg Lukács erschienen. Gastrosoph und Vorsitzender der Slow-Food-Bewegung, lebt in Wien und Norditalien.

Noam Chomsky:

Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology. Seine Hauptwerke sind „Aspects of the Theory of Syntax“, „Cartesian Linguistics“ und „Language and Mind“. Zur Frage des Indochinakriegs veröffentlichte er die Bücher „American Power and the New Mandarins“ und „At war with Asia".

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