FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 126/127
Hans Heinz Stuckenschmidt

Überfluß verdirbt den Geschmack

Eine Bestandsaufnahme musikalischer Formen in unserer Gesellschaft (II)

Die Komponisten um die Mitte des 20. Jahrhunderts haben in Zusammenarbeit mit Physikern und Ingenieuren die Bereiche des organisierten Geräusches sowie allen nur denkbaren Schall sich verfügbar gemacht. Dem schaffenden Musiker steht heute wahrhaft ein Universum des akustischen Materials zu Gebote. Denken wir darüber hinaus an die räumlich und zeitlich unbegrenzte Verfügung über Stile und Techniken der Komposition und Improvisation, so ergibt sich eine Lage ohne Vorbild in der Geschichte. Niemals in der Menschheitsgeschichte hat ein größerer Konsumentenkreis eine derartige Fülle musikalischer Produkte zu stets gegenwärtiger Disposition gehabt wie heute.

Fülle und Reichtum sind erstrebenswerte Dinge. Wem die ganze Welt offensteht, der kann auch die ganze Welt künstlerisch erfahren und, falls er schöpferisch begabt ist, künstlerisch gestalten. Doch geistiges Überangebot enthält auch Momente der Gefahr. Angesichts einer wahrhaft totalen Fülle tönender Gestaltung wird die Wahl in einer früher unvorstellbaren Weise erschwert. Das gilt für den schaffenden Künstler ebenso wie für den Konsumenten. Die Naturwissenschaft bis zum 17. Jahrhundert kannte den Begriff des horror vacui, hinter dem die Vorstellung steckt, daß leerer Raum durch die Natur zwangsweise gefüllt wird. Horror vacui, das Grauen vor der Leere, ist dem geistigen Menschen als Erfahrung vertraut. Die moderne Welt ist aber eher dazu geeignet, uns mit dem entgegengesetzten Erlebnis vertraut zu machen: dem horror pleni. Nicht mehr die Leere, nicht mehr das Fehlen von erlebbarem gestaltetem Stoff ist es, was uns erschreckt, sondern im Gegenteil die Überfülle, der Überreichtum, dem ja doch irgendwo auf der Welt kompensierend ein Mangel entspricht. Es gibt den Zustand des Erstickens an der Fülle, und die schöpferischen Menschen von heute sind mit ihm tragisch vertraut.

Auf die Musik übertragen, bedeutet der Zustand der Überfülle Chance und Not zugleich. Kein Zweifel, die Aussichten der Musik in der modernen Gesellschaft sind unbegrenzt geworden. Doch bleibt die Frage offen, wie die Gesellschaft dieses unermeßlich reiche Angebot zu nutzen weiß. Der Kölner Soziologe Friedrich Klausmeier hat in einer methodischen Befragung die jugendliche Bevölkerung einer westdeutschen Großstadt auf ihren Musikkonsum hin sondiert und das Ergebnis in einem 300 Seiten starken Band soeben unter dem Titel „Jugend und Musik im Technischen Zeitalter“ veröffentlicht. Dabei wurden nur Rundfunk und Schallplatte als Medien des Musikkonsums berücksichtigt. Das Ergebnis dieses von Ziffern und Einzelbeobachtungen überquellenden Buches bestätigt im Grunde nur den Ausgangspunkt des Verfassers: „Für die heutige sozio-musikalische Situation gibt es keine historischen Parallelen, weshalb die neuen Aufgaben auch neue Lösungen fordern.“ Die Tabellen im Anhang des Buches unterstreichen das pluralistische Bild, das die Gesellschaft selbst zeigt. Jede Art von Musik hat ihre Abnehmerkreise und im allgemeinen sind die Unterschiede des Geschmacks bei Knaben und Mädchen unerheblich. Bestimmte Gruppen bevorzugter Komponisten heben sich ab, wobei an der Spitze Unterhaltungsmusiker wie Franz Lehár, Michael Jary und der Jazztrompeter Louis Armstrong stehen, in der zweiten Gruppe rangieren Händel, Brahms, Puccini und Hindemith, in der dritten Gruppe mit starkem Abstand Gluck, Chopin, Weber und Bela Bartók sowie einige Unterhaltungskomponisten, wieder eine Rubrik tiefer folgen Telemann, Grieg, Mussorgsky und Honegger. Aber selbstverständlich haben auch außereuropäische und avantgardistische Sendungen und Schallplatten ihre Liebhaber. Offenbar spielt nicht nur die soziale Umwelt, sondern auch die religiöse Konfession bei der Bildung des Geschmacks eine Rolle, deren Untersuchung zu den interessanteren Ergebnissen des Klausmeier’schen Buches führte. Doch von einem speziell geprägten Stil oder Geschmack des 20. Jahrhunderts kann nach den Erhebungen Klausmeiers so wenig die Rede sein wie nach den pragmatischen Erfahrungen, die der Programmgestaltung moderner Rundfunksender als Grundlage dienen.

Das Bild, das sich hier abzeichnet, ist nicht sehr ermutigend. Wir haben gesehen, daß die unbegrenzte Menge und Vielseitigkeit des musikalischen Angebotes beim unbegrenzten Pluralismus des Publikums immer auf einen gewissen Grad der Nachfrage stößt. Daraus könnte eine bequeme und sorglose Organisation des Musikbetriebes den praktischen Schluß ziehen, man müsse der modernen Gesellschaft einen völlig charakter- und konturlosen Mischmasch von Programmen bieten. Das freilich wäre der Ruin unserer Musikkultur. Das Mosaik, das dieser Betrieb vermittelt, wäre im Prinzip nur die ungedämmte Überflutung mit akustischen Reizen, deren Permanenz den einsamen Transistorträger züchtet. Es gibt viele Anzeichen in unserem Musikleben, besonders in der Produktion von Schallplatten-, Rundfunk- und Filmmusik, die auf die unmittelbare Nähe dieser Gefahr hindeuten. Wenn man ein beliebiges mitteleuropäisches Fernsehprogramm vom Nachmittag bis zum späten Abend abhört und dabei die gebotene Musik herausgreift, wird man nachdenklich angesichts der unbekümmerten Wahllosigkeit, mit der Schlechtes, Mittelmäßiges und Gutes nebeneinandergestellt werden. Unfähigkeit, zwischen Höchstwerten und Mittelwerten zu unterscheiden, ist überhaupt das bedenklichste Symptom eines nachgerade katastrophalen Geschmacksverfalls, der unserer wenig fundierten Bildung anhaftet. Daran ist auch jener Teil der Musikkritik schuld, der keine Hierarchie der Werte kennt oder gelten läßt. Eine gewisse Bevorzugung und Hätschelung mittlerer Leistungen auf der einen Seite und mitunter hämische Behandlung erfolgreicher Höchstleistungen auf der anderen, muß auf die Gesellschaft geschmackszerstörend wirken. Ohne Kriterien des verfeinerten Geschmacks gibt es keine Kultur.

Wie aber kann man diesen Gefahren begegnen? Es gibt nur ein Mittel: Es müssen neue Eliten entstehen, Gruppen von geistig Anspruchsvollen und, wo möglich, total gebildeten Menschen, die den kritischen Sinn und die Urteilskraft in der Gesellschaft wachhalten. Die sozialistischen Staaten haben jeweils in den Anfängen ihres Bestehens versucht, den Geschmack der geistig anspruchslosen und unerzogenen Volksschichten für die Beurteilung geistiger und künstlerischer Werte zu mobilisieren. Es hat sich dabei immer, sowohlin der Französischen Revolution des 18. Jahrhunderts als auch in den modernen Demokratien und sogenannten Volksdemokratien gezeigt, daß auf diesem Wege Kulturmaßstäbe nicht zu gewinnen waren. Der sogenannte unverbildete Geschmack, zumindest in der heutigen Industriegesellschaft, ist stockkonservativ und kennt keine Niveau-Unterschiede. Die Volksbühnenbewegung, an sich eine höchst achtbare Organisation, war in der ersten deutschen Republik nach 1918 bemüht, den Arbeitern moderne Lyrik und Musik vorzusetzen. Der Versuch schlug fehl. Es stellte sich heraus, daß die breiten Volksschichten am leichtesten mit dem zu gewinnen sind, was ihnen ohnehin bekannt ist: im Bereich der ernsten Musik mit Werken der Klassik und Romantik, im übrigen mit allen Erscheinungen der leichten und der Unterhaltungsmusik. Dennoch ist auf längere Sicht das Urteil der breiten Hörerschaften maßgebend. Voraussetzung ist allerdings, daß dieses Urteil, daß dieser Geschmack sacht und unmerklich einer Schulung unterworfen werde. Das gilt aber nicht nur für die unteren Schichten der Bevölkerung, sondern für alle. Franz Liszt hat einmal aus der hohen Perspektive des Komponisten und Virtuosen im 19. Jahrhundert über das Publikum gesagt: „Jeder Einzelne ist ein Esel, und doch sind alle zusammen die Stimme Gottes.“ Kultur wird anfangs immer von kleinen Menschengruppen getragen und breitet sich von dorther aus. In einer Massengesellschaft ist der Weg begreiflicherweise länger, zumal da es Klassenunterschiede in ihr, jedenfalls grundsätzlich, nicht mehr gibt.

Kritischen Sinn und Urteilsfähigkeit kann man nur durch kulturelle Erziehung herbeiführen. Die offizielle Musikerziehung in unseren mittleren und höheren Schulen ist zur Erreichung dieses Ziels zwar wünschenswert, aber fast niemals ausreichend. Sie nimmt überdies im Lehrplan einen so winzigen Raum ein, daß ihr praktischer Wert fast nicht ins Gewicht fällt. Überdies hängt sie völlig von der Persönlichkeit des Musiklehrers ab, der im Einzelfalle begeisternd und dadurch bildend wirken kann, in der Mehrzahl der Fälle aber lediglich ein pädagogisches Soll erfüllt. Ich halte auch die Resultate des „Schulwerks“ von Carl Orff für fragwürdig. Nur dem kleinen Kind und dem Schüler der untersten Klasse kann diese Art von Elementarerziehung weiterhelfen. Wer auf der Stufe des „Schulwerks“ stehenbleibt, der ist gerade für die Erfordernisse des modernen Musiklebens unbrauchbar.

Hingegen ist auf höherem Niveau vor allem durch ein Studium generale an den Universitäten und den Hochschulen aller Disziplinen eine Möglichkeit der Gesellschaftserziehung gegeben. Hier kann und hier müßte die Sache der Kultur vor ihrer drohenden Zerstörung durch die Massengesellschaft und das Massenangebot bewahrt werden. Ansätze zu einem Studium generale sind im Universitätsleben Amerikas und Europas festzustellen. In Europa begegnen sie fast überall und insbesondere in Frankreich starken Widerständen bei den Vertretern der strengen akademischen Tradition. Die Ausbildung von Spezialisten ist durch die Forderung der Massengesellschaft und durch den in den meisten Disziplinen angeschwollenen Lehrstoff zwar notwendig geworden, doch droht infolge des einseitig ausgebildeten Fachwissens unser Bildungsgefüge auseinanderzufallen. Im Bereiche der naturwissenschaftlichen Ausbildung, die ja vorwiegend die rationalen Kräfte des Geistes zu erziehen hat, ist ein Nachlassen der Phantasiekräfte unvermeidlich. Ortega y Gasset hat im Hinblick auf diese modernen Spezialisten den Begriff des „gelehrten Ignoranten“ geprägt.

Mit dem Studium generale hat die Technische Universität in Berlin bemerkenswerte Ergebnisse erzielt. Seit 1950 besteht dort eine humanistische Fakultät, die es den künftigen Ingenieuren, Architekten und Betriebswissenschaftlern auferlegt, eine methodisch auszuwählende Anzahl von Vorlesungen unserer Lehrstühle für Geschichte, Philosophie, Kunstwissenschaft, Musikwissenschaft, Literatur, Geographie, Psychologie und Sprachwissenschaften zu hören und sich einer Prüfung in den gewählten Gegenständen zu unterziehen. Der Versuch schien 1950 revolutionär und wurde hart umstritten. Er hat sich als fruchtbar erwiesen und schon jetzt zeigt sich, daß diejenigen Techniker und Ingenieure zu führenden Positionen aufsteigen, die auch in den sogenannten nutzlosen Disziplinen beschlagen sind. Ich habe einmal formuliert, die bessere Brücke konstruiere der Brückenbauer, der wisse, wer Dante, Rembrandt und Mozart gewesen sind.

Musik aber ist in unserer Kultur der abstrakteste und infolge dieser Abstraktion der für alle zerstörenden Einflüsse anfälligste Teil. Sie hat außerdem in der Förderung der Phantasiekräfte mit weitem Abstand die mächtigste Wirkung, ohne dabei den Energien der Vernunft feindlich zu sein. All das ist Grund genug, ihr eine besondere Pflege in unserem höheren Erziehungssystem zuteil werden zu lassen. Wenn sie im Unterricht und im Studium generale neben Geschichte und Philosophie den bevorzugten Platz einnehmen wird, der ihr gebührt, so kann und muß sie auf ganz unvergleichliche Art zur Ausbildung von Eliten beitragen. Ich glaube nachgewiesen zu haben, daß ihre Aussichten in der modernen Massengesellschaft die in aller Vergangenheit weit übertreffen. In Angebot und Nachfrage steht sie als geistiges Konsumgut an erster Stelle. Dem Künstler als dem bietenden und der Gesellschaft als dem nachfragenden Partner entstehen durch diese Situation Verantwortungen und Aufgaben, wie sie keine uns bekannte Epoche gekannt hat. Die alten Chinesen, denen ja so ziemlich alle Weisheit der Erde vertraut war, haben der Musik ungeheure Vollmachten in der Menschenbildung zugeteilt. Im Li-Ki, dem Buch der Zeremonien, heißt es: „Die Bräuche schenken sich dem Schenkenden selbst zurück; die Musik dient, die Leidenschaften zu mildern. Die Erkenntlichkeit durch die Bräuche erzeugt Freude, die Milderung durch die Musik erzeugt Ruhe. Nur einen Zweck hat dies zwiefache Wirken der Musik und der Bräuche: die Vollendung.“

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
1964
, Seite 339
Autor/inn/en:

Hans Heinz Stuckenschmidt:

Prof. Dr. H. H. Stuckenschmidt lehrt Musikgeschichte an der Technischen Universität, Berlin-Charlottenburg, und ist einer der führenden Musikkritiker Deutschlands.

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