FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1980 » No. 323/324
Friedrich Geyrhofer

Traum & Faulheit

Den Bürger unter der Haut — Sartre contra Flaubert, 1. Teil

Die deutschen Ausgabe der voluminösen Flaubert-Biographie, eine Großleistung des Übersetzers Traugott König, ist im richtigen Moment gekommen. Sartre, über den „Heiligen des Romans“ schreibend, trifft unwillkürlich den Geschmack einer Zeit, die sich aus dem gesellschaftlichen Engagement in private Lehrjahre des Gefühls zurückziehen möchte.

Wann werde ich endlich krepiert sein, daß man sich nicht mehr mit mir beschäftigt?

Flaubert, 1879

Wie kommt Sartre auf den Verfasser der Madame Bovary? Die Extreme prallen hier aufeinander. Der Idiot der Familie ist der dritte philosophische Entwurf Sartres. Die Philosophie der Tat stößt auf den Dichter der Passivität, auf einen Träumer, der sich über das Handeln erhaben fühlte. 1869 schreibt Flaubert an George Sand: „Wenn ein Mensch von Stil sich zur Aktion erniedrigt, sinkt er und muß bestraft werden.“ Verblüffend ist, liest man mit Sartres Augen wieder Flauberts Briefe, daß dieser Schriftsteller das Denken seines Biographen gleichsam im vorhinein abgelehnt zu haben scheint. So gesehen wäre die Biographie eine Retourkutsche.

Gustave Fiaubert:
„Alles erregt, zerreißt, zerstört mich“

Die permanente Revolte

Wiederum, wie 1943 in Das Sein und das Nichts, wie 1960 in der Kritik der dialektischen Vernunft, sind Unfreiheit und Freiheit das Thema. Jedes der drei Systeme Sartres verarbeitet eine aktuelle politische Situation. Jedesmal geht es um die Verwirklichung von Freiheit.

Aus Fremdherrschaft und Widerstand ist 1943 die Theorie des radikalen Selbstbewußtseins entstanden, das sich von nichts und niemandem einschüchtern läßt. Kolonialkrieg in Algerien, neofaschistischer Terror in Frankreich, die Machtergreifung de Gaulles: all das schlägt sich 1960 in einer Sozialpsychologie nieder, die Konkurrenzkampf, Solidarität und Unterdrückung im Gruppenverhalten untersucht. Eine Thematik, die das Flaubert-Buch wieder aufnimmt.

Der Idiot der Familie von 1971 ist Sartres umfassender Kommentar zum Pariser Mai, zu den maoistischen Parolen der Kulturrevolution und zum Jugendprotest. Zugleich das Resümee einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung, in die Freud, Marx und die französischen Strukturalisten hineingezogen werden. Sartre schreibt über einen Schriftsteller der Vergangenheit und meint die Gegenwart seiner Leser.

Die Biographie eines französischen Klassikers, beginnend mit dem Intimen und Subjektiven, dem Roman des Babyalters, ausgedehnt zum Panorama einer Epoche, des Bürgertums im 19. Jahrhundert. Die Karriere eines Einzelgängers, der sich der absoluten Kunst widmete und — nach den Maßstäben seiner Zeit — Bestseller verfaßte. Eine subjektive Neurose, die wunderbarerweise zum objektiven Wahn des zweiten Kaiserreichs wie angegossen paßte.

Ein Lebensweg, der vom finsteren Provinzspital in Rouen unter dem Regime des letzten Bourbonenkönigs bis zum imperialistischen Hofstaat Napoleons III. führt. Drei Revolutionen, zwei Konterrevolutionen, ein Staatsstreich und ein verlorener Krieg — ein halbes Jahrhundert wird im Idiot der Familie aus der Perspektive eines einzigen Menschen wiedergegeben.

Ein titanischer Redefluß, zweitausend und ein paar hundert Druckseiten überschwemmend. Ein Niagara der dialektischen Sprache, die das Detail aus dem Kontext des Ganzen, das Ganze aus den Details entfaltet. Der Ehrgeiz eines Philosophen, der seinem Denken — dem Gedanken der Freiheit — ein Monument errichtet hat. Die Persönlichkeit Gustave Flauberts hält als ein Beispiel dafür her, daß die Unmöglichkeit der Freiheit — der Determinismus — selbst etwas Unmögliches ist.

Eine These, die am Werdegang des jungen Gustave, eines unterdrückten Kindes, eines ausgeflippten Schülers, eines verbummelten Studenten, den im Jänner 1844 ein „epileptischer“ Anfall für immer an die Mutter kettet, ausführlich und genauestens demonstriert werden soll. Was war das Geheimnis dieser Nervenkrankheit, die dem Schriftsteller die Gelegenheit gab, sich für den Rest seines Lebens einzuigeln?

Immerhin handelt es sich um eine Arztfamilie. Der Vater, der den mißratenen Sohn behandelt, ist eine Kapazität. Eine ideale Konstellation für Sartre, die mechanistischen Auffassungen der naturwissenschaftlichen Medizin — das Bewußtsein ist Sekret des Gehirns — im Einzelfall einer grundsätzlichen Kritik zu unterwerfen. Der Determinismus wird mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Ebensowenig reichen die Tyrannei des Unbewußten oder die Einflüsse der Umwelt aus, dieses individuelle Schicksal begreiflich zu machen.

Gegen Marx und Freud

Alles spielt sich im Bewußtsein ab, in dem es nichts Träges gibt. Flaubert, der auf seine Trägheit stolz war, der sich als wohlhabender Erbe das auch lange leisten konnte, wird als Paradefall der moralischen Unredlichkeit, des Selbstbetrugs, der „mauvaise foi“ vorgeführt. Die Tragödie dieses Lebens ist, daß der passiv konstituierte Gustave seine persönliche Freiheit lediglich als äußeren Zwang wahrgenommen hat: als den Willen des Vaters, die Pflichten der Gesellschaft, im Sturz von Pont l’Eveque 1844 als den Widerstand des eigenen Körpers.

Was Sartre entwickelt, ist mehr als ein Psychogramm, nämlich eine Phänomenologie. Aus der Geschichte eines konkreten Ich entsteht die Innenseite der bürgerlichen Gesellschaft. Darum versucht der Biograph, minuziös den Bewußtseinsstrom Flauberts über Jahrzehnte hinweg nachzuvollziehen. Der Zweck ist, ein deterministisches Weltbild zu treffen, den Fatalismus Flauberts, der seine Literatur und sein Leben beherrschte, von innen heraus zu widerlegen.

In der Education sentimentale, übrigens dem ersten Roman der Revolution von 1848, schmiedet Deslaurier, erfolgloser Jurist, verspäteter Jakobiner, den Plan, seinem Freund Frederic die angebetete Frau Arnoux auszuspannen. Der Verräter beschwichtigt sein Gewissen, indem er sich stolz auf den „Willen“ beruft, auf das „Grundelement aller Unternehmungen“.

Es liest sich so, als ob der Romancier bereits die Philosophie des Existenzialismus verspottet hätte, den moralischen Appell an die persönliche Entscheidung, das freie Handeln. Sartre konstatiert verärgert, daß in Flauberts Romanen die Helden der Tat immer tief unter den Menschen des Gefühls stehen. Eine Prosa des Träumens, der Erinnerungen, des langsamen Nachfühlens — dieses Programm Flauberts, der in die Geschichte als ein Meister des Realismus eingegangen ist, bildete seine Antwort auf die Politik.

Oft wird das Bekenntnis zitiert, er hasse den Bürger, der unter seiner Haut stecke. 1869, im selben Jahr, da er mit der Education sentimentale den Roman über die Vorgeschichte des zweiten Kaiserreichs veröffentlichte, hat Flaubert in einem Brief den Kaiser verflucht: „Das größte Verbrechen Isidores ist der Schmutz, in dem er unser schönes Vaterland liegen läßt.“ Fast zwanzig Jahre früher allerdings ersehnte er den Triumph Napoleons III. und zwar aus ästhetischen Beweggründen.

1850, Flaubert bereitet sich auf die Arbeit an der Madame Bovary vor, schreibt er aus Damaskus: „Wenn die Bürger endlich triumphieren, ist es möglich, daß wir noch für ein Jahrhundert festgenagelt sind. Dann wünscht der Geist des Publikums, der Politik müde, vielleicht literarische Zerstreuungen. Es würde sich eine Reaktion von der Aktion zum Traum vollziehen; das wäre unsere Stunde! Wenn wir dagegen in die Zukunft gestürzt werden, wer kennt dann die Poesie, die sich daraus erheben wird?“

Zwei Jahre später kam der bonapartistische Putsch. Jene Poesie der Zukunft, vor der Flaubert Angst hatte, wurde ungefähr zur gleichen Zeit von dem alten Romantiker Victor Hugo, einem politischen Emigranten aus dem zweiten Kaiserreich, jubelnd angekündigt: „Die Kunst um der Kunst willen kann schön sein, aber die Kunst um des Fortschritts willen ist noch schöner.“

Um des Fortschritts willen: unmöglich für jemanden, der sich ausdrücklich zur „Reaktion von der Aktion zum Traum“ bekannte. Bereits mit 18 Jahren gestand Flaubert in einer privaten Äußerung: „Die Zukunft ist das Schlimmste an der Gegenwart.“

Flauberts Träume sind die Erinnerungen, genauer gesagt: Erinnerungen an Erinnerungen. Das ist sein „Realismus“. Erst durchs Gedächtnis gefiltert, wird die Wirklichkeit genießbar. Etwas, das der Autor mit seinen Romanfiguren gemeinsam hat. In den Erinnerungen überflutet Vergangenheit die Gegenwart. Ein gefundenes Fressen für Sartre, der am Determinismus eben diese (moralische oder theoretische) Fixierung ans Vergangene bekämpft.

Handeln bedeutet — so steht es in Das Sein und das Nichts — einen Entwurf in die Zukunft, ein Projekt, eine Überwindung der Gegenwart nach vorn. Wer handelt, wählt seine Zukunft: ein Grundsatz der existenzialistischen Moral. Die Deterministen hingegen leiten einen gegebenen Zustand aus einer Serie vergangener Zustände ab, sie ketten das Noch-nicht an das Nicht-mehr. Wer aber in der Erinnerung, überhaupt in der Vergangenheit stecken bleibt, der macht sich untauglich zur Aktion. Das ist der Schlüssel zur Passivität Flauberts.

Der Landarzt Charles Bovary, aus seinem Schlaf gerissen, reitet über die nächtlichen Felder der Normandie zu einem Patienten:

Der Schlaf kam ganz von selber wieder; bald geriet er in einen traumartigen Zustand, in dem neuerliche Empfindungen mit Erinnerungen verschmolzen; er fühlte sich verdoppelt, gleichzeitig Student und Ehemann, in seinem Bett liegend wie noch vor kurzem, wie früher einen Saal mit Operierten durchschreitend. Der warme Geruch heißer Breiumschläge mischte sich in seinem Kopf mit dem frischen Duft des Taus; er hörte die Eisenringe an den Stangen der Bettvorhänge klirren und seine Frau schnarchen ...

Ein Ritt, der den ahnungslosen Charles zu seiner zweiten Frau bringt, die sein Schicksal entscheiden wird.

Die Großfürsten des Existenzialismus:
Simone rügt den Machismo des Jean-Paul
Bild: afp/Votava, 1977

Weltanschauung des Besiegten

In Sachen Fortschritt hätte Flaubert zweifellos mit Baudelaires „Theorie der wahren Zivilisation“ übereingestimmt. Für den Dichter der Blumen des Bösen beruht die Zivilisation „weder auf dem Gas noch auf der Dampfkraft noch auf den Drehbänken. Sie liegt in der Verringerung der Spuren der Erbsünde“.

Der Verfasser der Madame Bovary, keineswegs ein Fan der katholischen Theologie, besaß dafür das Wort „Schicksal“. Eine unpersönliche, anonyme Macht, die alles erklärt und alles zerstört. Den Fatalismus Flauberts, für den Existenzialisten ein Skandal, führt Sartre auf die medizinischen Weisheiten des Vaters zurück, des „ausgezeichneten“ Chirurgen Achille-Cleophas. Der mechanische Materialismus des „philosophischen Arztes“ habe beim kleinen Gustave einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Das Kind wurde davon in seiner konstituierten Passivität bestärkt.

Sartre spricht von einer „Weltanschauung des Besiegten“. Als das zweite und daher überflüssige Kind geboren (der Vater hatte schon seinen Erben, die Mutter wünschte sich ein Mädchen), fehlte dem Romancier das Vertrauen in eine „Mission“, die ihm nur die Eltern hätten mitgeben können. Das ist einer der Gründe, warum Sartre diese Biographie geschrieben hat. Denn der überflüssige Gustave, verhätschelt, aber trotzdem ein Fremdkörper der Familie, befindet sich genau in der existenzialistischen Situation. Da sein Dasein von der Umwelt nicht als notwendig gerechtfertigt wird, müßte er sich durch seine eigene Wahl legitimieren.

Hierin liegt das persönliche Problem Flauberts, wie es im Idiot der Familie mit unendlicher Geduld auseinandergesetzt wird. Weit zurück liegt der fanatische Existenzialismus von 1943, der in Das Sein und das Nichts mit Trompetenstößen verkündet worden war. Nunmehr wird das Pathos des freien Menschen um ausgedehnte analytische Einsichten bereichert, Sozialwissenschaft, Semantik, Psychoanalyse. Die autonome Wahl, die eigenständige Tat, das radikale Selbstbewußtsein stehen den anonymen Gesetzmäßigkeiten von Natur, Grammatik und Gesellschaft nicht mehr abrupt gegenüber.

Es geht um konkrete Situationen, gesellschaftliche Gebräuche und Institutionen, die den einzelnen prägen. Sartre, insgeheim sich mit Foucault messend, glänzt als Historiker. Er ruft die Methoden der Babypflege und der Erziehung in einem gutbürgerlichen Haushalt des 19. Jahrhunderts zurück, er schildert den Unterricht an einem Gymnasium, das System der Benotung, entwickelt eine Soziologie der Lektüre und weist die Nachwirkungen der großen gesellschaftlichen Kämpfe auf die „Mikropolitik“ im Alltag einer französischen Provinzstadt nach.

Der frisch auf den Thron gesetzte Bürgerkönig Louis-Philippe entläßt den General Lafayette — und die Verabschiedung des alten Revolutionärs im ersten Jahr der Julimonarchie beeinflußt, auf vielen verschlungenen Umwegen, den Lebensweg des Teenagers Gustave.

Rouen um 1830: „Die Flauberts sind unter dem Hirtenstab des Vaters erbarmungslos vereint.“ Die Archetypen Mutter und Vater treten auf. Zwischen ihnen, die nach Sartres Meinung die um die Macht kämpfenden Klassen symbolisieren, wird der Knabe zerrissen.

Auf der Bühne der Familie Flaubert wird das ideologische Drama der Zeit nach 1815, der monarchischen Restauration, im Kleinformat nachgespielt. Sartres Darstellung: „Agrarier und Bürger, Romantiker und Voltairianer, Liberale und Ultras liefern sich in den ersten zehn Jahren von Gustaves düsterer Kindheit ständig Gefechte“ (I. Band, p. 510). Der Vater, ein Naturwissenschaftler, spöttischer Rationalist, Gegner der Kirche. Die Mutter, in einem noch halbfeudalen Weltbild befangen, betet seit einer unglücklichen Jugend den Herrn im Himmel an, den auf Erden der Ehegatte vertritt.

Flaubert war der Anlaß eines geplanten Wettstreits, den Sartre um 1950 einem KP-Philosophen vorgeschlagen hatte. Jeder der beiden sollte eine Biographie des Romanciers schreiben, der Vergleich zwischen der existenzialistischen und der marxistischen Darstellung würde — ganz sportlich! — entscheiden, welche Philosophie, die subjektive oder die materialistische, mehr über den Menschen zu sagen hätte.

Im Idiot der Familie bricht die Einsicht durch, daß „der Mensch“ ein historisches und soziales Wesen ist. Allerdings nicht: ein Produkt von Gesellschaft und Geschichte. Das Subjekt ist Herr seines Schicksals. Die Umstände sind das, was ich aus ihnen mache. Ich spreche, anstatt von der Sprache gesprochen zu werden (wie die Strukturalisten behaupten)! Ich handle, anstatt auf Reize schematisch zu reagieren (was die Behavioristen unterstellen). Das Problem liegt in Flauberts Prinzip der „Unpersönlichkeit“, einer Haltung, die sich literarisch im Gebot des „einzig richtigen Wortes“, des absoluten Stils, privat im Bekenntnis zur Passivität verwirklicht hat. „Ich habe immer für den Tag gelebt, ohne Zukunftspläne.“

1851 richtet der Romancier an den Freund und Beschützer Maxime du Camp rhetorische Fragen, die sich wie Selbstbezichtigungen lesen: „Warum habe ich keine Geliebte gehabt? Warum predigte ich die Keuschheit? Warum bin ich in diesem Sumpf der Provinz geblieben?“

Sado-Maso

Sartres Antwort: Dieser Mensch hat sich in die größten Schwierigkeiten gebracht, weil er im Krieg mit der Familie den Weg des geringsten Widerstandes ging. Der Streit mit dem Determinismus geht weiter. Sartre bleibt dabei, daß die Wahrheit persönlich ist, daß die Welt nur aus der Sicht einer bestimmten Individualität — in diesem Fall Gustave Flauberts — erschlossen werden kann. Ungenügend, den Zeitgeist, die französischen Produktionsverhältnisse des 19. Jahrhunderts oder eine immanente Entwicklungslogik des Romans von Dickens bis Kafka zu zitieren. Wie haben denn die Zeitgenossen des Jahres 1857 den Zeitgeist, ihre Gesellschaft und den Roman aufgefaßt?

Ein wenig wissen wir davon, weil in diesem Jahr mit der Veröffentlichung von Madame Bovary ein Skandal und ein Strafprozeß ausgelöst wurden. Eine literarische, eine juristische und eine politische Tatsache. So würde der Strukturalist unterscheiden. Für Sartre ist es jedoch ein individuelles Ereignis, die persönliche Leistung eines einzelnen, der damit Geschichte machte.

Es wäre kein Kunststück, den Kritiker des Bürgertums, den Erfinder eines neuen realistischen Stils oder auch denjenigen Mann aufzubauen, der die Leiden einer Frau zum Thema der Weltliteratur gemacht hat. Sartre dreht alles um. Er bestreitet die Männlichkeit Flauberts, leugnet den Realismus seiner Schriften, sein Mitgefühl für die Frauen und vor allem den kritischen Abstand zum Bürgertum seiner Zeit. Werk und Leben Flauberts faßt Der Idiot der Familie in einer bizarren Formel zusammen: „Eine totale Befriedigung des Hasses durch die Zerstörung des Seins.“ Ein Haß, der ursprünglich ein Selbsthaß ist.

Sartre bemüht sich, eine definitive Antwort auf die prinzipielle Frage zu finden: Was kann man heute von einem Menschen wissen? Nicht nur ein theoretisches Problem. Denn dieses Wissen, falls es existiert, würde das praktische Verhältnis eines jeden von uns zu den Möglichkeiten seines eigenen Daseins, zu den Zwangslagen der sozialen Situation enthalten. Es wäre, kurz gesagt, das Rezept des Glücks.

Wie seine Briefe beweisen, hat sich Flaubert das ganze Leben hindurch als einen Unglücksmenschen betrachtet. 1875, er ist noch nicht einmal Mitte Fünfzig, klagt er: „Ich fühle mich alt, abgenutzt, von allem angeekelt.“ Vorzeitig senil? Ein früher Altersverfall? Oder bloß eine momentane Unlust? Keineswegs, denn schon der Zwanzigjährige hat in dem Jugendwerk November über sich selbst mit ähnlichen Worten gesprochen: „Da ich das Dasein nicht nutzte, nutzte mich das Dasein ab.“ Warum hat er das Dasein nicht genutzt? Dreißig Jahre nach November heißt es in einem Brief Flauberts: „Sooft ich aktiv geworden bin, hat man es mir verleidet.“ Ein anderer Brief: „Jedes Handeln macht mir das Dasein unerträglich.“

In einem Punkt sind sich der Romancier und sein Biograph einig: Handeln ist das Problem. Es geht um die Aktion. Aber um welche Aktionen? Wie handeln? In Das Sein und das Nichts hat Sartre ein Muster des glücklichen Agierens vorgeführt: den Sport, vor allem das Skifahren. Was dem Philosophen am schnellen Gleiten über den Schnee imponiert, ist die Souveränität des Akteurs, sein Tempo, der rapide Ausdruck freien Handelns, das frei bleibt, weil es sich rasch über die Oberfläche bewegt:

„Das Gleiten ist eine Handlung in der Distanz; es garantiert meine Herrschaft über die Materie, ohne daß ich mich in die Materie stürzen und mich mit ihr umgeben muß, um sie zu überwinden. Gleiten bedeutet das Gegenteil von Wurzelschlagen.“ Ganz anders — gerade umgekehrt — der Lebensstil Flauberts, der jahrzehntelang im selben Haus, im selben Ort gewohnt hat, für den das Wurzelschlagen eine Allegorie seines Daseins war.

1869 schreibt er an George Sand: „Wenn ich mich ins Gras lege, habe ich das Gefühl, als wenn ich schon unter der Erde bin und die Wurzeln des Salats in meinem Bauch zu sprießen beginnen.“

Sieben Jahre später weint sich Flaubert wieder bei seiner Seelenfreundin aus: „Ich armer Kerl hafte wie mit Bleisohlen an der Erde; alles erregt, zerreißt, zerstört mich.“ Das Gegenteil eines flotten Skifahrers!

Wer sein Leben nicht gebraucht, den verbraucht es: mit diesem Geständnis liefert sich der Dichter seinem Biographen aus. Sartre schreibt nicht nur über Flaubert, sondern erst recht gegen ihn. Gegen einen Menschen, der an den Determinismus, an die Unmöglichkeit der Freiheit, geglaubt hat. Gegen einen Schriftsteller, der diesen Glauben literarisch verarbeitet und — noch schlimmer! — auch gelebt hat.

Hinter den mysteriösen Abnutzungserscheinungen, die Flaubert an sich diagnostizierte und die von Sartre „Stress“ genannt werden, entdeckt der Biograph eine fundamentale Verweigerung des Handelns, die konstituiert ist, weil ihre Ursachen jenseits der Geburt liegen. Und zwar im Verhältnis des Vaters, des Haustyrannen Achille-Cleophas, zur Familie.

Insofern ist der Neurotiker Flaubert, der als Kind schwer und spät lesen lernte, tatsächlich ein Opfer seiner Sippe, seines ganzen Milieus, eben der „Idiot der Familie“. Andrerseits liegen die Ursachen der Neurose aber einzig und allein in der Person Gustaves, in seinem ureigenen Willen und Bewußtsein. Er hat sich selbst zu dem gemacht, was aus ihm geworden ist. Insofern ist seine Passivität nicht nur „konstituiert“, sondern auch „personalisiert“ — das Resultat einer freien Wahl, der Wahl, nicht zu wählen.

Gleitflug

Das ist das ganze existenzialistische Credo, die Theorie der Freiheit von 1943. Daß sich die Methoden Sartres inzwischen aber immens verfeinert haben, zeigt der Vergleich des Flaubert-Buchs von 1971 mit der alten Studie über Baudelaire (den geistigen „Zwillingsbruder“ Flauberts), die Sartre 1946 publiziert hatte. Da stand schon am Anfang der monströse Satz: Jeder Mensch hat das Leben, das er verdient.

Sartre kanzelte damals den Dichter der Blumen des Bösen hart, verständnislos und moralistisch ab. Derselbe Gedankengang wie später im Flaubert-Buch, nur mit einer seltenen Brutalität ausgesprochen. Baudelaire habe vor sich selbst, vor seinem Ich, soviel Ekel und Abscheu empfunden, „daß man sein Leben als eine lange Abfolge von Strafen ansehen kann, die er sich auferlegt. Durch Selbstbestrafung kauft er sich frei“.

1971, im Idiot der Familie, prägt Sartre dafür den Ausdruck „aktive Passivität“. Die paradoxe Verhaltensweise eines Menschen, der seine Entscheidungen nicht nur auf die lange Bank, sondern auch auf die äußeren Umstände abschiebt, die sich zwar gegen ihn wenden, aber ihn doch indirekt dorthin bringen, wo er ja „unbewußt“ immer schon hinwollte. Wiederum findet Sartre eine sportliche Metapher: den Gleitflug!

Flaubert (noch stärker als der „Zwillingsbruder“ Baudelaire) verhält sich wie ein Gleitflieger, den die Luftströmungen tragen, der selten und zögernd reagiert, der sowenig wie möglich tut. Er fliegt nicht, er wird geflogen. Die Atmosphäre macht die Arbeit. Während ein Skifahrer jeden Moment darauf gefaßt sein muß, Tempo, Haltung, Richtung sekundenschnell zu korrigieren. Von außen sieht Flaubert wie Oblomow aus, eingeschüchtert und feminin, zu passiv, um das Unglück, das er in Romanen gestaltet, in Briefen bejammert, durch einen starken Entschluß zu „transzendieren“.

In Wahrheit trifft auch der Passive seine Wahl, nur überläßt er die Arbeit dem Zufall, den Ereignissen. Es handelt sich dabei um die masochistischen Arbeiten der Selbstzerstörung, des Sich-selbst-Quälens, Lösung des Rätsels „aktive Passivität“.

Aktiv ist diese Passivität, weil der Betroffene wie ein Regisseur sein Dasein inszeniert, das dann scheinbar automatisch abrollt. Ganz anders als im Essay über Baudelaire von 1946 kann Sartre ein Vierteljahrhundert später im Idiot der Familie den Werdegang Flauberts verständnisvoll von innen heraus erklären. Flaubert ist immerhin ein halber Existenzialist, der wenigstens die Absurdität der Existenz, wenn auch nicht die Möglichkeiten der Freiheit, verwirklicht habe.

Als Kind in der eigenen Familie ein Außenseiter, hat der Erwachsene diese Position konsequent beibehalten:

Da der Schlechtgeliebte nicht gefühlt hat, daß seine Geburt eine Erwartung erfüllte, kann er nicht verstehen, was er in dieser Welt soll.

(I. Band, p. 234).

Bekanntlich ist es grundlegend nicht die Welt, die verwundert, sondern unsere Anwesenheit auf der Welt, wenn unsere erste Kindheit sie nicht (fälschlich) gerechtfertigt hat. Gustave ist und bleibt bis zu seinem Tod verdutzt, was diesem überzähligen Tier, dem Menschen, nicht schlecht ansteht.

(I. Band, 290).

Hier liegt die Stärke Flauberts: sein Leben ist nicht „fälschlich“ legitimiert worden. Aber — und das ist der Haken — er hat es auch nicht aus eigener Kraft gerechtfertigt. Jedenfalls führte er ein eingeschränktes und ereignisarmes Dasein, von dem er selbst sagte: „Ich lebe wie ein ausgestopfter Bär.“ Mit 48 Jahren schreibt er an George Sand: „Bedenken Sie, daß ich in der gleichen sozialen Lage bin, in der ich mich mit achtzehn Jahren befand.“ Außer seiner Mutter und der alten Köchin, über die er 1876 die Erzählung Ein schlichtes Herz verfaßte, hat keine Frau mit ihm zusammengelebt.

Zwar zeigen auch andere Geistesfürsten dieses Jahrhunderts ähnliche masochistische Verhaltensweisen. Man denke an Gottfried Keller, ein Muttersöhnchen wie Flaubert, oder an Beethoven, dessen Heiligenstädter Testament die Verbitterung des französischen Romanciers früher und temperamentvoller der Welt ins Gesicht spuckt. Beide sind Männer ohne Frauen gewesen. Ebenso Flaubert: „Ich habe niemals Venus mit Apollo unter einen Hut bringen können.“ Entsagung, das Wort Goethes, galt in dieser Epoche als die Kehrseite eines kreativen Lebens.

Aber Keller hat in Zürich politische Karriere gemacht, von den vielen Wohnungswechseln Beethovens zehrt jetzt der Wiener Fremdenverkehr. Flaubert hingegen hauste — zwischen 1844 und 1880 — immer am selben Fleck, in einem Gebäude, das er nur 1875 wegen des Bankrotts seiner Nichte kurz verlassen mußte. Die naturalistischen Autoren nach 1871, an der Spitze Zola, pilgerten zu ihm wie zum Imperator der französischen Literatur. Er hat sein Renommée nach Kräften ignoriert. Obwohl eine Schauspielernatur (Sartre erklärt es), spielte Flaubert nie eine Rolle in der Öffentlichkeit.

Die einzige Liebesgeschichte von Dauer, seine Beziehung mit Louise Colet, fand ein spießerhaftes — aber typisches — Ende. Der normannische Riese hatte nicht den Mumm, Louise, die vor der Gartentür in Croisset wartete, der Mutter vorzustellen. Die Muse hat sich dafür mit einem Schlüsselroman gerächt. In der Versuchung des heiligen Antonius — der Heilige, das ist Flaubert — stellt er sich selbst 1874 als einen übergeschnappten Einsiedler dar, der nichts tut, außer von Illusionen, Depressionen, Angst- und Wunschträumen überfallen zu werden.

Louise Colet,
die „Muse“ Flauberts, umsonst vor der Gartentür wartend

So sieht ihn auch Sartre. Der Biograph hat nichts anderes gemacht, als die Texte noch einmal und ganz genau zu lesen, um die fromme Sage der Literaturgeschichte vom Märtyrer des Romans zu zerstören. Aber Flaubert hat doch etwas getan? Sind nicht seine Bücher seine Taten? Hat er sich nicht im Werk gerechtfertigt? Ein Jahrhundert nach seinem Tod könnte er den Triumph feiern, daß seine Prosa der Träume mehr denn je gelesen wird, während die Poesie des Fortschritts, von Victor Hugo prophezeit, Schiffbruch erlitten hat. Darum geht es eben. Sartre, der Mann des Engagements, ergreift die Partei Victor Hugos, eines wahrhaft Engagierten, gegen den Repräsentanten der absoluten Kunst.

Verfälschung der Perspektive

Das erste und letzte Wort Flauberts war die Unpersönlichkeit. „Der Mensch ist nichts, das Werk ist alles“: ein Grundsatz Flauberts, den sein existenzialistischer Biograph systematisch auf den Kopf stellt. „Je persönlicher man ist, um so schwächer ist man“: Dieses Bekenntnis zur strengen Unpersönlichkeit wird von Sartre wie eine Perversion beurteilt.

Im Idiot der Familie wird das Werk aus der Person erklärt, tatsächlich geht es in Sartres Biographie nur um das Werk. Der Biograph rekonstruiert die Persönlichkeit des Romanciers, weil er mit seinen Romanen ein sachliches — ein moralisches und politisches — Problem auszutragen hat. Unter der Unpersönlichkeit verstand Flaubert keineswegs die Tugenden der Bescheidenheit (Sartre hält ihn für größenwahnsinnig) oder der Objektivität, also einen Verzicht auf Vorurteile, der von einem Realisten schließlich erwartet werden darf.

Er hat sich übrigens gar nicht für einen Reporter von Realitäten gehalten. Das Stilmittel, auf das Flaubert den größten Wert legte, war die „Verfälschung der Perspektive“. Ein Trick, den man heute Verfremdung nennen würde. Sartre, der von „Derealisierung“ spricht, empfindet diese literarische Methode — die Methode Brechts! — offenkundig als unmoralisch. Wer „derealisiert“, also Wirkliches in Unwirkliches verwandelt, nimmt eine rein ästhetische, passive, letztlich unpolitische Haltung ein.

Verfremdung bedeutet eben Distanz, nicht das Engagement des Aktiven, der im Handeln seine Freiheit aufs Spiel setzt. Eine Szene in der Education sentimentale, die Barrikadenkämpfe im Paris des Februar 1848, stellt die Derealisierung am Beispiel der Hauptfigur dar:

Gellendes Geschrei, ein Hurragebrüll des Triumphs erhob sich. Die Menge flutete dauernd hin und her. Frédéric, eingeklemmt zwischen zwei Volkshaufen, konnte sich nicht rühren; auch fesselte ihn das alles und amüsierte ihn sehr. Die Verwundeten, die umfielen, die Toten, die hingestreckt waren, sahen nicht wie wirkliche Verwundete und wirkliche Leichen aus. Ihm war, als sei er Zuschauer eines Schauspiels.

Also exakt die Formel der aktiven Passivität: Man ist dabei, ohne wirklich teilzunehmen. Man beobachtet, aber man engagiert sich nicht. Das ist die Zuschauerhaltung, die reine „Augenbeziehung“, wie sie Sartre so herb an Flaubert tadelt. Darum kann dieser Romancier über Politik schreiben (er hat es oft getan), ohne ein wirklich politischer Autor zu sein. Er ist sogar — so klagt ihn Sartre an — der Wegbereiter einer massiven Entpolitisierung der Intellektuellen im 19. Jahrhundert gewesen.

Flauberts Stil geht ins exakte Detail. Dafür wird er auch heute noch bewundert. Er hatte dabei jedoch immer einen allgemeinen Gedanken im Hinterkopf, eine Idee über den Zustand von Welt und Menschheit. Jedes beschriebene Detail im Text wird zur Allegorie, zum Bild eines Gedankens, den der Text verschweigt. Es handelt sich, wie Sartre formuliert, um „Bilder von Wörtern, die sich auf Bilder von Dingen beziehen“. Oder kürzer: um eine „Ermordung des Realen“.

Auf diese Weise manipuliert dieser Schriftsteller seine Leser. Sie lesen naiv, was nie geschrieben wurde. Eine Methode, die Flaubert im Lauf von Jahrzehnten mühsam erlernte. Sartre bemerkt, bereits in den literarischen Versuchen des Teenagers stecke das ganze Werk der Reife. Zwei Fassungen der Education sentimentale, die 20 Jahre auseinanderliegen. Drei Versionen der Versuchung des heiligen Antonius, die sich über das halbe Leben verteilen.

Flaubert hat sich im Kreis gedreht, immer um denselben Punkt, um seine absurde, vereinsamte, nie akzeptierte Existenz, die ihn zur Pose eines außerhalb des Lebens stehenden Beobachters verdammte (tatsächlich hat er bloß außerhalb von Paris gewohnt). Er hat aber Kapital daraus geschlagen. Das Interessanteste am Idiot der Familie ist der Nachweis Sartres, wie sich der „Minderwertigkeitskomplex“ Flauberts allmählich in einen literarischen Stil verwandelt — was laut Sartre allerdings gegen den Stil spricht.

Flaubert zerfleischt das Innenleben seiner Heldin Madame Bovary
(Karikatur 1857)

Mörder des Realen

Jedenfalls ist es ein „filmischer“ Stil. Marcel Proust hat ihn knapp und treffend definiert: „Was bis zu Flaubert Aktion war, wird Impression. Die Dinge haben ebensoviel Leben wie die Menschen.“ Ein Beispiel dafür ist jener Absatz in der Madame Bovary, wenn die junge Emma den Landarzt, ihren späteren Ehemann, ins Haus führt.

Ein unsichtbarer Beleuchter hebt die Gebrauchsgegenstände auf einem normannischen Bauernhof des 19. Jahrhunderts durch optische Reflexe hervor, die bewegliche Kamera fährt vom Freien in einen geschlossenen Raum, der Regisseur ordnet kunstvoll die Kulissen. So gewinnt der Zuschauer — pardon, der Leser — den Eindruck, er habe in diesem bäuerlichen Mädchen eine tüchtige Hausfrau vor sich. Aber nicht eine Frau, die ihr Kind vernachlässigen, ihren Mann betrügen, das Vermögen verschleudern und sich dann grauenhaft umbringen wird.

Sie nötigte ihn in die Küche, wo ein tüchtiges Feuer brannte. Ringsum kochte das Essen für das Gesinde in großen und kleinen Töpfen. An den Innenwänden des Kamins trockneten feuchte Kleidungsstücke. Die Schaufel, die Feuerzange und das Mundstück des Blasebalgs, alle von kolossaler Größe, funkelten wie blanker Stahl, während an den Wänden eine Unmenge von Küchengerät hing; darin spiegelte sich ungleichmäßig die helle Flamme des Herdfeuers, vereint mit den ersten Sonnenstrahlen, die durch die Fensterscheiben fielen.

Ein Stück realistischer Prosa? Ein Muster sorgfältigen Beobachtens? Nein, Sartre hat recht. Das sind „Bilder von Wörtern, die sich auf Bilder von Dingen beziehen“. Also eine „Ermordung des Realen“, eine gehässige „Zerstörung des Seins“, das auf irreführende und falsche Symbole reduziert wird. Flaubert betont die Lichteffekte, in denen sich die Gegenstände auflösen und ihre kompakte Wirklichkeit verlieren. Schwerlich läßt sich von Realität reden, wo alles funkelt und spiegelt, wo das Optische ein Eigenleben führt.

Eine Technik der Zeichenverschiebung. Bis zum bitteren Ende sieht Charles Bovary seine Frau nur so, wie er sie beim ersten Mal gesehen und in der Erinnerung behalten hat: in der Küche mit dem lodernden Feuer, den großen und kleinen Töpfen, im Licht des Sonnenaufgangs. Gebannt von diesem einmaligen und strahlenden Bild (wie im Kino der Zuschauer vom Schattenspiel auf der Leinwand), wird er auf Dauer blind und taub gegenüber den Orgien in seiner nächsten Umgebung.

Flaubert schreibt, als ob er durch den Sucher einer Kamera geblickt hätte. Die Versuchung des heiligen Antonius von 1874 liest sich heute wie ein Drehbuch. Sartre bemerkt, daß Flaubert beim Beobachten imaginiert. Soll heißen: er bauscht auf, was er sieht — die Kunst eines guten Photographen. (Flauberts Freund Maxime du Camp ist ein bekannter Photograph gewesen.) Genau das Künstliche und Technische dieser „Augenbeziehung“ mißfällt Sartre.

Auch das ist ein Aspekt der Unpersönlichkeit. Gibt eine Kamera nicht ein anschauliches Modell für die Verhaltensweisen der aktiven Passivität ab? Die Kamera ist passiv, weil sie lediglich reproduziert. Indirekt ist sie aber auch aktiv, weil sie einen Ausschnitt aus dem realen Zusammenhang herausreißt. Worum sich Flaubert krampfhaft am Schreibtisch bemüht hat, gehört heutzutage zur Routine der Filmarbeit. OFF und ON: ein Unterschied, von dem die Suggestionen des Kinos leben. Alles, was wichtig ist, bringt das Bild, alles, was im Bild ist, erscheint wichtig. Hingegen verpaßt das wirkliche, persönliche Wahrnehmen mit Augen und Ohren oft genug das Wichtigste. Nur die Kamera läßt sich nicht ablenken. Sie ist unbeirrbar unpersönlich.

Voraussetzung ist freilich, daß die Szene künstlich arrangiert ist. Schon der zwanzigjährige Flaubert hat das gewußt. In der ersten Version der Education sentimentale von 18485, einem zu Lebzeiten des Verfassers unveröffentlichten Jugendwerk, wird eine Theorie des Kameraauges aufgestellt. Jules, ein großartig leidender Künstler, entdeckt, es komme darauf an, „den richtigen Standpunkt zu wählen. Das Licht darf nicht zu grell vom Himmel herabfallen, und die Schatten dürfen nicht zu dunkel sein. Alles hängt von der Perspektive ab“.

Der Partisanenmarschall und der Philosoph der Revolte:
Sartre bei Tito 1960
Bild: afp/Votava

Passiv-Film

Eine Theorie des literarischen Lehrlings, die der Meister dann ins Werk umgesetzt hat. Eine geschickte Kameraführung gibt dem Arrangement den Anschein von Realität. Ein Beispiel ist die Episode mit der Droschke in der Madame Bovary. Emma und Léon rasen in einem Mietwagen — „verschlossener als ein Grab und schlingernd wie ein Schiff“ — durch das sommerliche Rouen. Im Bild sind nur die mysteriöse Kutsche, der entsetzte Kutscher, die verblüfften Kleinstädter, die gar nicht begreifen, was da vorgeht.

Sartre kritisiert diese Szene als einen sinnlosen formalistischen Bravourakt. Warum nicht auf die Vorgänge im Innern der Droschke anspielen? Kommt nicht in Frage! Dem Leser wird die einseitige, also verfälschende und verfälschte Perspektive einer Kamera aufgezwungen, die lediglich das zeigt, was der Autor im vorhinein ausgerechnet hat.

Flaubert beweist damit seine Macht, die Hauptfiguren aus dem Bild zu werfen, ohne den Gang der Handlung zu unterbrechen. Was man sieht, ist einen Moment lang eine nackte Frauenhand „unter der kleinen gelben Leinengardine“. Die Kamera ist passiv, sie beobachtet aus der Distanz, ohne aktive menschliche Neugier. Niemand greift ins Geschehen ein. Der Wagen wird nicht angehalten, die Wagentür nicht aufgerissen. Eben der unpersönliche Abstand, eine abstrakte „Augenbeziehung“, die der Existenzialist verurteilt. Die Leute auf den Straßen sind so verdutzt, wie Sartre es von Flaubert behauptet. In Rouen ist das Kameraauge des Romanciers — wie Frédéric Moreau 1848 auf den Pariser Barrikaden — nichts als „Zuschauer eines Schauspiels“.

Über die zweite, die „richtige“ Fassung der Education sentimentale aus dem Jahr 1869 konnte Marcel Proust sagen, das Werk sei „der lange Bericht eines Lebens, ohne daß die Leute gewissermaßen aktiv an der Handlung teilnehmen“. In genereller Form drückt dies die Lebensweisheit Flauberts aus: „Man schafft sein Schicksal nicht, man erliegt ihm.“ Sartre stellt dagegen das Credo des Existenzialismus auf: „Man muß handeln, um zu sein.“

Aktivität wäre also das unbedingt Gute. Vielleicht läßt sich aber auch etwas zur Ehrenrettung des Passiven sagen? Möglicherweise hat Flaubert etwas erraten, das die Theorie der Freiheit ins Wanken bringen könnte.

(Wird fortgesetzt)

Sartre über Flaubert

Jean-Paul Sartre: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 bis 1857. Aus dem Französischen übersetzt von Traugott König. Mit einer Lebenstafel und einer Chronologie der französischen Geschichte 1830 bis 1880. „das neue buch“, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg. 5 Bände, jeder Band DM 32, öS 246,40

  • 1.Band: Die Konstitution, Jänner 1977, 662 Seiten
  • 2. Band: Die Personalisation 1, November 1977, 474 Seiten
  • 3. Band: Die Personalisation 2, Februar 1978, 696 Seiten
  • 4. Band: Elbehnon oder Die letzte Spirale, November 1978, 396 Seiten
  • 5. Band: Objektive und subjektive Neurose, Jänner 1980, 739 Seiten

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1980
, Seite 25
Autor/inn/en:

Friedrich Geyrhofer:

Geboren am 03.09.1943 in Wien, gestorben am 16.07.2014 ebenda, studierte Jus an der Wiener Universität, war Schriftsteller und Publizist sowie ständiger Mitarbeiter des FORVM.

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