FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 88
Norbert Leser

Tradition und Revision

Nach dem Tod Benedikt Kautskys im April 1960 nannte ihn die sozialistische Monatszeitschrift „Zukunft“ den „letzten Marxisten des großen alten Stils“ — einen, für den sich kein Nachfolger finden lasse. In der Tat spiegelt der Werdegang Benedikt Kautskys, der in den beiden von ihm redigierten Programmen — der SPÖ und der SPD — seinen politischen Höhepunkt fand, neben einer individuellen Entwicklung die allgemeine Tendenz der sozialistischen Gesamtbewegung wider, welche sich — nach den mannigfaltigen Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte und insbesondere nach der Neubestimmung ihrer Position durch die Auseinandersetzung mit dem totalitären Kommunismus — in zunehmendem Maße von den Dogmen der marxistischen Orthodoxie abkehrte. Der „letzte Marxist des großen alten Stils“ wurde zum Nachlaßverwalter, der sein Amt mit Ehrfurcht und Verständnis versah, aber dort, wo es sein mußte, die Vergangenheit der Gegenwart und Zukunft opferte, restlos ergeben dem Idealbild einer Gesellschaftsordnung, die — wie das Parteiprogramm von 1958 in seiner Präambel formuliert — „die freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit“ zum Ziel hat.

Das linke Staatsdogma

Das Streben nach einer solchen Gesellschaftsordnung ist die Komponente der Kontinuität in der Gesamtentwicklung, die vom Hainfelder Parteitag 1888 zum Wiener Parteitag 1958 geführt hat. Aber sie vermag über die Diskontinuität der Formgebung dieses gleichbleibenden Willensinhaltes nicht hinwegzutäuschen. In den 70 Jahren seit Hainfeld haben sich gewaltige Änderungen auf gesellschaftlich-politischem Gebiet vollzogen, und was dem großen alten Karl Kautsky in Hainfeld als eine — der Wirklichkeit weit vorauseilende — Vision des erst zu erobernden Äons erscheinen mußte, das stand seinem Sohn Benedikt im Zenith seiner Lebenserfahrung als bereits erkämpfte, durch neue Aufgaben schon wieder in Frage gestellte Wirklichkeit vor Augen. Innerhalb zweier Generationen hat sich der Übergang des Sozialismus von einer Forderung an die Gesellschaft zu einem fest etablierten Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit vollzogen.

Die Einstellung der österreichischen Sozialdemokratie zum Staat stand unter dem Eindruck der Staatsauffassung des marxistischen „wissenschaftlichen Sozialismus“, während in der deutschen Partei die Lassalle’sche Staatsbejahung nachwirkte und in der Koalitionsfreudigkeit der Weimarer Republik ihren politischen Niederschlag fand. Trotz der 1901 erfolgten Korrektur des Hainfelder Programms, durch welche die Ablehnung des Parlamentarismus (als Form bürgerlicher Klassenherrschaft) eliminiert wurde, blieb die österreichische Sozialdemokratie der marxistischen Staatsauffassung treu, die Hans Kelsen später das „linke Staatsdogma“ nannte. In seinem Geschichtswerk „Die österreichische Revolution“ entwickelte Otto Bauer in Anlehnung an Engels’sche Gedankengänge zwar eine Auffassung, derzufolge das „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ eine sozialistische Mitwirkung an der Gestaltung des bürgerlichen Staates erlaubte, doch konnten ihm Hans Kelsen von rechts und Otto Leichter von links (im „Kampf“, Jahrgang 1924) mit Recht vorhalten, daß er sich in Widerspruch zur marxistischen Auffassung begeben habe — und dies bloß deshalb, um die Beteiligung der Sozialdemokraten an einer Nachkriegsregierung zu rechtfertigen.

Nicht bloß die Theoretiker der Partei — allen voran der ultra-orthodoxe Hüter der Marx’schen Staatsauffassung, Max Adler — hielten die Unterstützung des Staatsapparates für unvereinbar mit sozialistischen Prinzipien, auch die große Masse der Vertrauensleute und Mitglieder der Partei war der selben Meinung. Das Ausscheiden der Sozialdemokratie aus der Regierung erfolgte im November 1920 aus geringfügigem Anlaß, doch in Übereinstimmung mit den Wünschen der breiten Massen der sozialistischen Gefolgschaft. Obwohl es müßig ist, im Hinblick auf abgeschlossene historische Perioden die Schuldfrage zu stellen, so kann doch das Vorherrschen der marxistischen Staatsauffassung als Komponente einer Entwicklung verstanden werden, deren Resultat die blutige Realität des Februar 1934 war. Freilich muß der Gerechtigkeit halber sogleich hinzugefügt werden: wenn diese Einstellung zum Staat eine Mitschuld der österreichischen Sozialdemokratie am Zerbrechen der Ersten Republik konstituierte, so war es eine unter den damaligen Voraussetzungen so gut wie unentrinnbare Schuld. Die Ablehnung der Koalition hatte die Autorität der Klassiker des Marxismus und die vehemente Unterstützung der Anhängerschaft für sich — so daß dem Wort Otto Bauers „Es ist besser, mit der Arbeiterschaft zu irren, als gegen sie recht zu behalten“ hier ein Anwendungsfall erwuchs. Dazu kam, daß die Einhaltung der demokratischen Spielregeln durch den bürgerlichen Gegner als selbstverständliche Voraussetzung angenommen wurde. Die Zukunft lehrte, daß diese Annahme ungerechtfertigt war und daß die vom Linzer Programm als Abwehrformel gegen die heraufziehende Bürgerkriegssituation konstruierte Vorstellung von einer Art defensiver Revolution sich nicht in die Praxis umsetzen ließ.

An jedem Zipfel des Staates

Die Sozialistische Partei, die sich als Nachfolge-Organisation der alten Partei fühlt, ist in ihrer Staatsauffassung nicht zu den Traditionen der Zwischenkriegszeit zurückgekehrt. Sie hat den Renner’schen Appell beherzigt, der in der Ersten Republik (aus vielen Gründen) ungehört verhallte: sie hat den Staat an jedem erreichbaren Zipfel gepackt und in den Dienst der Arbeiterschaft gestellt. Was durch die eiserne Notwendigkeit der Besetzung und des Wiederaufbaus erzwungen wurde — die Zusammenarbeit der beiden antagonistischen Lager der Ersten Republik —, ging langsam, aber sicher in das Bewußtsein der Parteiöffentlichkeit ein. Auch die Theoretiker gaben der Zusammenarbeit jenes Imprimatur, das in der Ersten Republik noch nicht möglich gewesen war. So distanzierte sich Oscar Pollak schon 1946 (im April-Heft der „Zukunft“) von der marxistischen These, daß der Staat „absterben“ werde, und stellte späterhin (im April-Mai-Heft 1959) fest, daß vielmehr die Arbeiter ein Teil des Staates geworden seien. Die Marx-Engels’sche These, daß der Staat nichts weiter als das Macht- und Vollzugsorgan der herrschenden Klasse darstelle, sei durch den geschichtlichen Prozeß der Hinführung der Arbeiterklasse zum Staat korrigiert, wenn auch nicht widerlegt.

Die veränderte Haltung der Sozialisten zum Staat geht so weit, daß es nicht an Stimmen fehlt, die vor der sozialistischen „Koalitionsgesinnung“ — vor dem Gefühl, bedingungslos zum Staat und zum bürgerlichen Koalitionspartner zu gehören — eindringlich warnen. Aus der veränderten Stellung zum Staat folgt tatsächlich nicht, daß die Koalition in ihrer gegenwärtigen Form die einzig mögliche Form des Regierens in Österreich ist. Der Kampf um die Gewinnung der staatlichen Macht kann von den Sozialisten gewiß innerhalb oder außerhalb der Regierung geführt werden, aber die Perspektive ist in jedem Falle die des zielbewußten Gebrauches der staatlichen Macht, nicht mehr die utopische von deren Überwindung und Abschaffung.

Die in der Zeit des gemeinsamen Abwehrkampfes gegen den Nationalsozialismus entstandenen Kontakte zwischen gläubigen Katholiken und Sozialisten waren die personelle und geistige Grundlage für eine Annäherung zwischen Kirche und Sozialismus. Nach 1945 kam hiezu die veränderte Position der kirchlichen Hierarchie, welche — im Gegensatz zu ihrer streng parteilichen Haltung in der Ersten Republik — nun von direkten Eingriffen in die Gewissensentscheidung der Wähler Abstand nahm und heute in vieler Hinsicht als vorbildlich neutral bezeichnet werden kann. Auch die Abwehr der kommunistischen Ideologie und Praxis ließ Sozialisten und gläubige Menschen einander näherrücken. Und wenn den wahltaktischen Überlegungen in diesem Zusammenhang auch ein nicht zu unterschätzender Anteil zukommt, so wäre es doch zu billig, den geistigen Konfrontationsprozeß, der sich da vollzogen hat, einfach damit abzutun. Selbst die rein taktischen Bemühungen entwickeln überdies durch die Berührung mit der Sphäre des Religiösen eine Eigengesetzlichkeit, die sich nicht mehr auf Tageszwecke beschränken läßt.

In der Ersten Republik war die Einstellung der Sozialdemokratie gegenüber Religion und Kirche entweder mitleidige Geringschätzung oder glattes Unverständnis. Die Freidenkerorganisation fand Sympathien weit über die Zahl ihrer tatsächlichen Mitglieder hinaus. Der Kampf gegen das bürgerliche Gesellschaftssystem, welches mit dem Klerikalismus eng verknüpft war und im Prälaten Ignaz Seipel seinen Repräsentanten gefunden hatte, ließ die Bauer’sche Unterscheidung zwischen Religion, Kirche und Klerikalismus nicht wirksam werden, sondern begünstigte das Generalurteil von der Religion als „Opium des Volkes“. Der Sozialismus der Ersten Republik trug selbst religiöse Züge. Er absorbierte das sonst von der Kirche befriedigte religiöse Gefühl und stellte es in den Dienst seiner irdischen Glückseligkeitsvorstellung. Jede metaphysische Orientierung mußte ihm daher als Schmälerung seiner Erfolgs-Chancen scheinen. Ohne diese religiösen Impulse, die wir nachträglich als „Ersatzreligion“ bezeichnen können, wäre der Sozialismus nie groß geworden und hätte die Masse seiner Anhänger nie zu Opfer und Hingabe veranlassen können.

Schon in der Ersten Republik gab es jedoch — abgesehen von einem kleinen, der Partei zeitweise angegliederten „Bund religiöser Sozialisten“ — bedeutende Einzelerscheinungen, die sich nicht zum philosophischen Materialismus bekannten. Friedrich Adler war ein Anhänger des von Lenin in Acht und Bann getanen Empiriokritizismus Mach’scher Prägung. Max Adler, der in politischen und staatsrechtlichen Fragen so links wie möglich stand, war ein Anhänger der nichtmaterialistischen Kant’schen Erkenntnistheorie und würdigte die „unabhängige Bedeutung“ der Religion, welche im marxistischen Denkschema nichts weiter ist als „die phantastische Widerspiegelung in den Köpfen der Menschen derjenigen äußeren Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen“. Trotz diesen Einzelerscheinungen und der Unterscheidung Otto Bauers zwischen philosophischem und historischem Materialismus bestimmte die atheistische und positivistische Tradition die Haltung der Partei. Otto Bauer deklarierte in seiner Schrift „Sozialdemokratie, Religion und Kirche“, daß die Freidenker als zahlenmäßig kleine Gruppe, ähnlich den Alkoholabstinenten, die Rolle einer Avantgarde hätten, wenn es auch falsch sei, jene abzustoßen, die sich von der Religion noch nicht lösen konnten. Die allgemeine Auffassung war demnach, daß die fortschreitende gesellschaftliche Entwicklung den religiösen Vorstellungen ohnehin zu Leibe rücken und sie überflüssig machen würde.

Abbau der Arroganz

Auch heute ist es nur eine Minderheit von Sozialisten, die sich zur „unabhängigen Bedeutung“ der Religion im Sinne Max Adlers bekennen. Die antireligiösen und antikirchlichen Ressentiments wirken noch kräftig nach. Immerhin gibt es innerhalb der Masse sozialistischer Mitglieder und Wähler eine beachtliche Gruppe, die — ohne der „Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Katholiken“ anzugehören — eine Bindung an Religion und Kirche mit ihrer sozialistischen Überzeugung vereinbaren. Diese Tatsache hat in Verbindung mit den zweifellos vorhandenen taktischen Erwägungen zu einer Veränderung des Parteiklimas geführt, die auch im Parteiprogramm ihren Niederschlag gefunden hat. Bekannten sich frühere Programme zu der Formel „Religion ist Privatsache“, die für religiöse Menschen einen herablassenden Unterton hatte, so stellt das Programm 1958 ausdrücklich fest: „Sozialismus und Religion sind keine Gegensätze. Jeder religiöse Mensch kann gleichzeitig Sozialist sein.“

Der historische Reduktionsprozeß der sozialistischen Prätentionen und die Öffnung für Anhänger verschiedener Weltanschauungen dauern seit dem Zusammenbruch des Faschismus an; in der Frankfurter Grundsatzerklärung der Sozialistischen Internationale vom Jahre 1951 haben sie ihren ersten Ausdruck gefunden. Aber diese Umwälzung wird im Bewußtsein der breiten Massen von Mitgliedern und Wählern nur langsam nachvollzogen. Das Programm 1958 war der Versuch, dem Prozeß der geistigen und politischen Neuorientierung Rechnung zu tragen. Er gelang nur unvollständig. Wesentliches ist offen geblieben, und dies nicht nur, weil dieses Programm einer Kompromißsituation entstammt, sondern auch, weil die Erfahrungen der eigenen Vergangenheit noch immer nicht verarbeitet sind. Noch immer fehlt die große, von einem Mitgestalter dieser Vergangenheit geschriebene Auseinandersetzung mit ihr. Die Ereignisse, die zum tragischen 12. Februar 1934 und zur Zerstörung der Ersten Republik geführt haben, sind vielleicht zu sehr mit persönlichen Erinnerungen und Interessen heute noch tätiger Funktionäre verquickt. Der alte Grundsatz der Arbeiterbewegung „Aussprechen, was ist“ hat solcherart vor der eigenen Vergangenheit noch keine Gültigkeit erlangt.

Aber mit welchem Grad der Bewußtheit und Rückbeziehung auf die eigene Vergangenheit sich der Entwicklungsprozeß auch vollzogen hat und noch vollziehen mag, so viel steht fest: die alte sozialistische Vorstellung vom messianischen und universellen Charakter der politischen Heilsbotschaft ist auf realistische Proportionen reduziert worden. Der Himmel auf Erden wird vom Sozialismus nicht mehr in Anspruch genommen. Dafür hat sich der Sozialismus unter Einkalkulierung der menschlichen Schwäche und Begrenztheit (die er in den Perioden vor seiner Verwirklichung nicht so unmittelbar zu spüren bekam) der bescheidenen irdischen Realität mit desto größerer Energie und mit weithin sichtbarem Erfolg angenommen. Seiner wachsenden Entfremdung vom Weltanschaulichen entspricht eine zunehmende Nähe zum Staat und seinen praktischen Problemen. Unter diesem Gesichtspunkt mag die Entwicklung von Hainfeld bis heute wie ein großer Umweg erscheinen. Es ist aber ein Umweg, dessen sich die österreichische Partei nicht zu schämen braucht. Er bestätigt nur die alte Wahrheit, daß man das Unmögliche wollen muß, um das Mögliche zu erreichen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1961
, Seite 135
Autor/inn/en:

Norbert Leser: Geb. 1933, studierte Jus und, als Schüler des katholischen Ideologiekritikers August Maria Knoll, Soziologie in Wien, Politologie an der London School of Economics, Lehrauftrag für Ideengeschichte des Marxismus an der Universität Salzburg, seit 1970 Professor für Politische Wissenschaften ebendort. Förderungspreis der Stadt Wien. Zweimal Theodor-Körner-Preis. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. N. L. war Mitherausgeber des „Neuen FORVM“.

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