FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1973 » No. 237/238
Alfred Kohlbacher

Stadt frißt Land

Grenzen der Regionalplanung

Die größte Teilung der materiellen und geistigen Arbeit ist die Trennung von Stadt und Land ... Mit der Stadt ist zugleich die Notwendigkeit der Administration, der Polizei, der Steuern usw., kurz des Gemeindewesens und damit der Politik überhaupt gegeben: Hier zeigt sich zuerst die Teilung der Bevölkerung in zwei große Klassen, die direkt auf der Teilung der Arbeit und den Produktionsinstrumenten beruht. Die Stadt ist bereits die Tatsache der Konzentration der Bevölkerung, der Produktionsinstrumente, des Kapitals, der Genüsse, der Bedürfnisse, während das Land gerade die entgegengesetzte Tatsache, die Isolierung und Vereinzelung, zur Anschauung bringt. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land kann nur innerhalb des Privateigentums existieren. Er ist der krasseste Ausdruck der Subsumtion des Individuums unter die Teilung der Arbeit, unter eine bestimmte, ihm aufgezwungene Tätigkeit, eine Subsumtion, die den einen zum bornierten Stadttier, den anderen zum bornierten Landtier macht und den Gegensatz der Interessenten beider täglich neu erzeugt ... Die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land ist eine der ersten Bedingungen der Gemeinschaft, eine Bedingung, die wieder von einer Masse materieller Voraussetzungen abhängt und die der bloße Wille nicht erfüllen kann ...

Karl Marx/Friedrich Engels:
Die deutsche Ideologie.
In: MEW, Bd. 3, S. 50
Autobett (1969)

1 Rand- und Landgebiete sind arm

  • Der in den industriearmen Landgebieten beschäftigte Lohnabhängige verdient um rund die Hälfte weniger als der Durchschnitt aller nichtlandwirtschaftlichen Lohn- und Gehaltsempfänger Österreichs.
  • Das Monatseinkommen eines österreichischen Industriearbeiters beträgt durchschnittlich 60% des Monatseinkommens eines Industrieangestellten. Im Bezirk Zwettl (Waldviertel) erhält der Industriearbeiter aber nur 28% des Industrieangestellteneinkommens.
  • Das Volkseinkommen je Einwohner liegt in den österreichischen Großstädten um mehr als ein Drittel über dem Bundesdurchschnitt. Das Volkseinkommen in den industriearmen Landbezirken unterschreitet den Bundesdurchschnitt um zwei Fünftel, das Mittel der Großstädte sogar um mehr als die Hälfte.
  • Die Pro-Kopf-Werte des gemeindeeigenen Steueraufkommens liegen in den überwiegend agrarisch strukturierten Gebieten etwa 25-50% unter dem Bundesdurchschnitt.
  • Die kommunalen Investitionen in die Infrastruktur erreichen in den Landgebieten (ohne nennenswerten Fremdenverkehr) nur etwa 60% des Bundesdurchschnitts.

Diese Zahlenvergleiche zeigen die relative wirtschaftliche Ohnmacht der Landgemeinden, die geringe Anziehungskraft des ländlichen Raumes auf privatwirtschaftliche Investitionen, das dürftige Angebot an Lebenschancen auf dem Lande. Und die Unterschiede wachsen mit dem weiteren Größerwerden der Ballungsgebiete.

Die Landbewohner wissen das. Ihre Reaktionen differieren nach dem Alter: Die Jungen wandern in die Städte, die Alten bleiben resigniert zurück.

Lösungen — sofern solche überhaupt angestrebt werden — bleiben innerhalb der Systemgrenzen und daher technokratisch: Regionale Wirtschaftsförderung, Steuererleichterungen, verbilligte Kredite und verlorene Zuschüsse für Unternehmungen, Gemeindezusammenlegungen, interkommunale Zusammenarbeit.

Die Erfolge sind nicht nur dürftig, sondern auch außerordentlich kostspielig. Die Regional- bzw. Kommunalwissenschaften haben bisher nicht mehr geliefert, als eben diese Befunde. Sie waren hierzulande nicht in der Lage, tiefergehende Analysen anzustellen, polit-ökonomische Zusammenhänge aufzudecken, die ökonomischen Gesetzlichkeiten zu demaskieren, nach denen Arme immer ärmer, Reiche aber immer reicher werden — auch im Raum. Eine wahrhaft bürgerliche Wissenschaft!

2 Kapital konzentrieren, Proletariat agglomerieren

Mit der Ablösung des Feudalismus durch den Kapitalismus, mit der Befreiung von den ökonomischen, politischen und geistigen Fesseln des Feudalismus und der gewaltigen Entwicklung der Produktionskräfte wurde ein qualitativ neuer raumwirksamer Prozeß eingeleitet, der die ökonomischen und sozialen Unterschiede zwischen Stadt und Land enorm vertiefte und in der Folge die Gegensätze zwischen den Interessen und den Lebensweisen der Städter und der Landbewohner „produzierte“. Die Früchte der bürgerlichen Revolution ernteten nicht die Bauern und das städtische Proletariat, sondern die Bourgeoisie: Die von ihr verkündete Idee der Freiheit der Persönlichkeit realisierte sich als die Freiheit des kapitalistischen Wirtschaftens. Aus der Idee der Gleichheit aller Bürger wurde die Gleichheit der Warenbesitzer, aus der Idee der Brüderlichkeit der Kampf aller gegen alle. Es kam zu Großstadtagglomerationen, zu einem wachsenden Leistungs- und Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land, sowie zu einer gewaltigen Vergeudung und Zerstörung natürlicher Ressourcen, wie Boden, Luft, Wasser und Landschaft.

„Die Bourgeoisie hat die Produktivkräfte konzentriert und das Proletariat agglomeriert“ schrieben Marx und Engels im Hinblick auf das hypotrophe Wachstum Londons und anderer Industriezentren.

Der Durchbruch der kapitalistischen Produktionsweise und der Produktionsverhältnisse ist gekennzeichnet durch die Umwandlung einer flächenbezogen arbeitenden Agrargesellschaft zu einer standortbezogen arbeitenden Industriegesellschaft. Da Investitionen den höchsten Profit dort versprechen, wo die günstigsten strukturellen und Standortvoraussetzungen vorliegen, konzentrieren sich die industriellen Unternehmungen in zunehmendem Maße in den Ballungsgebieten. Die wirtschaftliche Tätigkeit in den Land- und strukturschwachen Gebieten wird eingeschränkt, die aus der Landwirtschaft freigesetzten Arbeitskräfte und die Arbeitskräfte aus den in den industriellen Problemgebieten stillgelegten Betrieben müssen dem Angebot an Arbeitsplätzen folgen.

Wirtschaftsstandorte sind produzierbare bzw. produzierte und vermarktbare Güter. Ihre Produktion vollzieht sich im wesentlichen über die „Verortung“ von Infrastrukturinvestitionen, d.h. mit dem Bau von Verkehrswegen und der Errichtung von Verkehrsverbindungen, mit dem Bau und dem Betrieb von Strom-, Gas- und Wasserleitungen, mit der Verfügbarmachung von Arbeitskräften sowie mit der räumlich gezielten Bereitstellung von Investitionsprämien und -krediten, Steuererleichterungen für die Wirtschaft und sonstiger Maßnahmen der staatlichen Wirtschaftsförderung.

Über die Höhe, sowie den räumlichen und zeitlichen Einsatz von Infrastrukturinvestitionen, sowie über den Umfang, die Art und die räumliche Widmung wirtschaftsfördernder Maßnahmen entscheidet heute beinahe ausschließlich der Staat. Er stellt die gewaltigen Mittel zur Realisierung der Infrastrukturinvestitionen zur Verfügung.

Das war nicht immer so. Durch die zunehmende Kapitalkonzentration und der Expansion der Märkte wuchsen die Anforderungen an die Infrastruktur in so hohem Maße, daß diese auf dem Wege der privaten Kapitalverwertung nicht mehr erfüllt werden konnten. In immer höherem Maße wurden die Staatsfunktionen an die Interessen der Kapitalverwertung angepaßt. Im besonderen übernahm der Staat jene Investitionen, die aus dem Bereich der privaten Betriebsführung und der Produktion entlassen wurden, weil sie nicht ‚‚rentierlich“ waren, die jedoch die weitere private Produktion überhaupt ermöglichen.

Die Rolle des Staates als Standortproduzent und als Träger der Infrastrukturinvestitionen ist jedoch eine widersprüchliche. Infrastrukturinvestitionen können entweder vorrangig als Voraussetzung der profitorientierten Kapitalverwertung durchgeführt werden, oder vorrangig den Entfaltungsmöglichkeiten des Lebens der Bevölkerung dienen (wobei noch immer die Frage offenbleibt, welchen Teils der Bevölkerung).

Heute gelingt es in der Regel nur unter Zuhilfenahme vieler „Umwege“, die hohen Aufwendungen in die Infrastruktur aber auch die gewaltigen Mittel der Wirtschaftsförderung als im Interesse der arbeitenden Bevölkerung und insbesondere als Mittel zur Überwindung regionaler Disparitäten auszuweisen. Die Infrastruktursteuerung des Staates ist vornehmlich (und ‚‚rational“ begründet) nach dem Prinzip der „Bedarfsdeckung“ (Beseitigung regionaler Infrastrukturengpässe) und weniger nach dem Prinzip der ‚„Bedarfsweckung“ (Vorausinvestitionen zur Mobilisierung des regionalen Entwicklungspotentials) orientiert. Dies führt auf Kosten niederrangiger Standorte zu einer weiteren Aufwertung höherrangiger, zu weiterer Konzentration von Wirtschaft und Bevölkerung in eben diesen höherrangigen Standorten und auf Kosten der kleinen Kapitale in den peripheren und ländlichen Gebieten — zu höheren Profiten der großen Kapitale in den Metropolen.

In den peripheren niedrigrangigen Standorten des ländlichen Raumes sind aufgrund niedriger Grundrente und niedriger Arbeitslöhne kleine Kapitale noch profitträchtig. Werden nun beispielsweise zur Entlastung des angespannten Arbeitsmarktes in der Metropole (d.h. im Interesse der Kapitalverwertung) die Einzugsbereiche des öffentlichen Berufsverkehrs durch entsprechende Investitionen erweitert (Schnellbahnäste in die ländlichen Gebiete), so wird Arbeitskraft aus den kleinen ländlichen Orten von den großen Kapitalien der Zentren abgeworben, da diese aufgrund ihrer standortbedingten Produktivitätsvorteile höhere Löhne zahlen können. Gleichzeitig wächst auch die Wahrscheinlichkeit, daß — wegen der nun zusammenbrechenden kleinen Kapitalien und der damit verbundenen Einschränkung der Beschäftigungsmöglichkeiten in den peripheren Orten — bisher brachliegende Arbeitskräftereserven für die Verwertung in den großen Zentren erschlossen werden.

Bei uneingeschränktem Weiterwirken der wesentlichen ökonomischen Gesetz lichkeiten der Marktwirtschaft hat das Land wenig Chancen, und aller Voraus sicht nach werden die ökonomischen und sozialen Unterschiede zwischen Stadt und Land nicht überwunden.

3 Reformen

Nun konkret zu den Grenzen und Möglichkeiten einer Regionalpolitik, deren Ziele die schrittweise Überwindung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land und die Verwirklichung des „Gleichheitsprinzips im Raum“ sind.

Um es vorwegzunehmen: die Grenzen sind eng gesteckt, die Möglichkeiten bescheiden. Realismus ist am Platze. Zur Resignation besteht jedoch kein Anlaß.

Die sich in Österreich abzeichnenden Möglichkeiten einer systemverändernden sozialdemokratischen Reformpolitik im Bereich der Regionalpolitik können von großer Tragweite sein. Unter Inkaufnahme von beträchtlichen Widersprüchen und Konflikten scheint in den Bereichen Einkommen, schulische Ausbildung und Gesundheitswesen die Aufhebung der krassesten Unterschiede und Gegensätze zwischen Stadt und Land real möglich. Den neuen regionalpolitischen Bemühungen der Bundesregierung kommt zugute, daß eine Reihe von ausländischen Großunternehmungen Betriebsansiedlungen im ländlichen Raum bzw. in peripheren Gebieten (z.B. Region Aichfeld-Murboden) durchführen, um in den „Genuß“ des österreichischen Arbeitsfriedens (keine Streiks), des niedrigen Lohnniveaus und von besonders attraktiven Investitionsförderungen zu kommen. Diese Tendenz wurde auch durch die spezifische Problematik Wiens begünstigt. Die wirtschaftlichen und infrastrukturellen Engpässe Wiens (Arbeitskräftemangel, Verkehrsnotstand, räumliche Expansionshemmungen, Zurückbleiben des Wirtschaftswachstums in den letzten Jahren) führten zum Abzug und zur Verlagerung von privaten Investitionen (insbesondere nach Niederösterreich).

Die ansatzweisen Erfolge der österreichischen Regionalpolitik der letzten Zeit sind jedoch gefährdet:

  • Die sich immer mächtiger aufdrängende Notwendigkeit zur internationalen Koordination der Gewerkschaftsarbeit im Hinblick auf die Strategien multinationaler Konzerne wird auch den ÖGB zu solidarischen Aktivitäten zwingen, die in Widerspruch zur Ideologie der Sozialpartnerschaft geraten könnten. Damit wird die Bereitschaft internationaler Konzerne, in Österreich zu investieren, merklich abnehmen.
  • Die relativ höhere Bereitschaft von Unternehmungen, angesichts der angespannten Arbeitsmarktsituation in den Ballungsgebieten nun auch im ländlichen Raum zu investieren, kann durch die weitere Hereinnahme von ausländischen Arbeitskräften rasch abnehmen.
  • Was Regionalpolitikern recht sein mag, alarmiert die Wirtschaftspolitiker in den Ballungsräumen, die Steuerabgänge fürchten müssen. Es werden von den Metropolen nicht geringe Anstrengungen unternommen, um den regionalen Ausgleich zwischen Stadt und Land zu verhindern und die Wirtschaft von den zentralörtlichen und sonstigen Vorteilen in den Metropolen zu überzeugen.

Für eine folgerichtige, schrittweise Weiterführung systemverändernder sozialdemokratischer Reformansätze im Bereich der Regionalpolitik sind zuerst erforderlich:

  • Überwindung der eklatanten regionalpolitischen Abstinenz der verstaatlichten Industrie durch vermehrte und gezielte Betriebsneugründungen in den wirtschaftsschwachen Landgebieten.
  • Selektive staatliche Wirtschaftsförderung durch eine konsequente Bevorzugung von Investitionen in den Entwicklungsgebieten, die mit der Schaffung neuer Hochlohnarbeitsplätze verbunden sind.
  • Konsequente Bevorzugung solcher Infrastrukturinvestitionen in Stadt und Land, die unmittelbar der Befriedigung der primären Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung und der emanzipatorischen Entfaltung der Lebensformen dienen (Kommunikation, Vielfalt der sozialen Kontakte, Bildung, Gesundheit).
  • Regionaler Kosten-Ertrags-Ausgleich im Rahmen eines funktionsteiligen Leistungsverbundes zwischen Verdichtungsräumen und Landgebieten. Für die heute von den Landgebieten bereitgestellten Schutz-, Sozial- und Versorgungsleistungen (Erholungsfunktionen, intakter Naturhaushalt etc.) existiert kein Markt, der kostendeckende Preise garantiert. Kosten-Ertrags-Ausgleich hätte in Zukunft die Erfüllung von außerland- bzw. außerforstwirtschaftlichen Schutz- und Sozialfunktionen sicherzustellen.

Selbst die Durchsetzung dieser ersten Schritte wird auf erheblichen Widerstand privatkapitalistischer Interessen, insbesondere bestimmter Fraktionen des Kapitals stoßen. Es wird daher von großer Bedeutung sein, inwieweit es der Arbeiterbewegung gelingt, eine organisierte Gegenmacht zur Durchsetzung dieser regional-politischen Strategien zu bilden. Eine konsequente Problematisierung regionaler Wohlstandsdisparitäten, der „Ungleichheit im Raum“ sowie eine gezielte „Politisierung“ der Regional- und Kommunalpolitik sind nicht mehr aufschiebbare Erfordernisse für den Beginn einer Basismobilisierung.

Eine solche Basismobilisierung wird realistischerweise mittelfristig die wesentlichsten Grundwidersprüche des Systems nicht aufheben können („Die größte Teilung der materiellen und geistigen Arbeit ist die Trennung von Stadt und Land ...“). Trotzdem kann sie den soliden Kern bilden für eine Schwächung der herrschenden ökonomischen Gesetzlichkeiten in diesem Sektor.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1973
, Seite 25
Autor/inn/en:

Alfred Kohlbacher: 1935 als Sohn proletarischer Eltern in Salzburg geboren. Studium der Architektur an der TU Wien. Wissenschaftliche Arbeiten im Österreichischen Institut für Raumplanung und im Institut für empirische Sozialforschung. Hochschulassistent an der TU Wien. 25 Jahre Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt. Seit der Pensionierung: Aktivist in der Dritten Welt-Bewegung, Friedensarbeit und politisch aktiv in der SPÖ. Zeichnet seit Kindheit. Karikaturist. Buchillustrationen und zahlreiche Ausstellungen, auch von Landschafts- und Städtebildern.

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