MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 48
Erica Fischer

Sozialismus mit weiblichem Antlitz?

Ende November trafen im schwedischen Göteborg 120 Frauen zur alljährlichen Konferenz des Europäischen Forums Sozialistischer Feministinnen zusammen, um über „Frauen in sich verändernden Wirtschaften“ zu beraten. Das Interesse der linken Feministinnen aus mehr als 20 Ländern konzentrierte sich auf die Sowjetunion.

Leningrad; in der Gemäldesammlung der Eremitage
Bild: Votava

Trotzkisten, Maoisten, Grüne, Sozialdemokraten, versprengte Linke, heimatlose Stalinisten und den Verlockungen des Kapitalismus erliegende Bürger realsozialistischer Länder ein Wochenende lang friedlich vereint beim Reden, Zuhören, Ratschen, Essen, Trinken und Tanzen — das ist unvorstellbar. Für die Frauen aus aller Herren Länder war das in Göteborg kein Problem: teilweise, weil wir voneinander zu wenig wußten, teilweise, weil auch viele autonome Feministinnen gekommen waren, teilweise, weil die gemeinsame Sorge um die Zukunft der Frauen Trennendes unerheblich erscheinen ließ, teilweise, weil wie stets auf feministischen Tagungen zu wenig Zeit blieb für Diskussion und Streit.

Zeit für Streit ...

... zwischen linken Feministinnen aus dem Westen mit ihrer 20jährigen Kampferfahrung gegen Kapitalismus und Patriarchat und den jungen Sozialwissenschaftlerinnen, die sich eben erst aus den verkrusteten Strukturen ihres realsozialistischen Patriarchats lösen, hätte sich gelohnt. So bleibt bloß die Erinnerung an hektische Viertelstunden beim vegetarischen Mittagessen im feministischen Paradies der Göteborger Frauenhochschule, an ein hastig zwischen zwei Vorträgen eingeschobenes Interview in der Bibliothek, an ein Gespräch spät nachts beim Fest, an dem wir uns bei unzähligen Plastikbechern Rotwein ausweglos in Systemvergleiche verstrickten.

Meine neuen sowjetischen Freundinnen Natalia und Anastasija konten nicht verstehen, was Maria, eine Ex-Trotzkistin aus Madrid, und ich gegen den Kapitalismus haben, Hinweise auf Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, Armut, gigantische Einkommensunterschiede, Ellbogengesellschaft ließen sie kalt — all dies gibt es in der Sowjetunion zuhauf, wir im Westen könnten uns wenigstens was kaufen um unser Geld. Geeinigt haben wir uns schließlich in einem nicht unerheblichen Punkt: Patriarchalisch geht es hier wie dort zu, Diese Erkenntnis, zwar nicht neu, aber in ihrer konkreten Auswirkung auf unser Leben immer wieder erneut empörend und elektrisierend, half uns über die systemübergreifenden Kommunikationsbarrieren hinweg.

Perestroika — schlimm für Frauen?

Was Natalia Zacharova und Anastasija Posadskaja, beide Sozialwissenschaftlerinnen am Bevölkerungswissenschaftlichen Institut der Akademie der Wissenschaften in Moskau, über die Lage der Frauen in der Sowjetunion berichten, klingt anders, als uns Frau stellvertretende Ministerin für Kultur der Russischen Sowjetrepublik peinlich unhinterfragt in der MONATSZEITUNG vom Dezember zynisch weismachen will. Davon, daß die Frauen „alles, was sie wollten, erreicht“ haben, kann keine Rede sein. Im Gegenteil: die ökonomischen Reformen der Perestroika machen alles nur noch viel schlimmer.

Straffung der ineffizienten Verwaltung und Rationalisierungen im Bereich schwerer körperlicher Arbeit setzen vor allem Frauen frei. Leistungsgerechte Löhne vergrößern die Einkommenskluft zwischen Männern und Frauen. Die Forderung nach voller Auslastung der Maschinen hat dazu geführt, daß Frauen heute mehr Nachtarbeit leisten als Männer — ein eindeutiger Bruch der Arbeitsschutzbestimmungen für Frauen. Der neu entstandene informelle Sektor bietet Frauen Teilzeitarbeitsplätze, die häufig sozial nicht abgesichert sind. 44% der Industriearbeiterinnen arbeiten unter extrem gesundheitsgefährdenden Bedingungen.

In der traditionell weiblich dominierten Textilindustrie ist die Sterblichkeitsrate um nahezu ein Viertel höher als in anderen Branchen. Die neuen Armen der UdSSR kennen wir im Westen nur zu gut: Arbeitslose, Teilzeitarbeitende, Rentnerinnen, Frauen im informellen Sektor, Frauen auf Mutterschaftsurlaub, alleinerziehende Mütter. Im Zuge der neuen Markteuphorie gibt es kein Geld für sozialpolitische Maßnahmen. „Je autonomer die Betriebe ihre wirtschaftlichen Entscheidungen treffen, desto patriarchaler wird der Charakter ihrer Personalpolitik, desto geringer die persönliche Autonomie der Arbeiterinnen“, sagt Natalia. Soziologinnen, die vor dem sozialpolitischen Ausverkauf warnen, werden als Marxistinnen verschrien.

Feminismus kontra Mutterkult

Natalia Zacharova und Anastasija Posadskaja haben vor kurzem am Bevölkerungswissenschaftlichen Institut ein „Center of Gender Studies“ eröffnet, in dem sie eine Bibliothek für feministische Literatur aufbauen und im Geiste des, wie sie scherzen, „wissenschaftlichen Subjektivismus“ Patriarchatskritik betreiben wollen. Sie sind der Meinung, daß die sowjetische Gesellschaft reif für den Feminismus ist. Vorerst sind Frauen in der öffentlichen Debatte in erster Linie Prostituierte, die sich auf Kosten ihrer Freier bereichern, und minderjährige Mütter, die ihre Kinder in Kinderheimen verkommen lassen.

Die sozialen Bedingungen, die zu solchen Verhältnissen führen, bilden kein Diskussionsthema. Gleichzeitig macht sich unter dem Deckmantel der Regimekritik ein penetranter Mutterkult breit — propagiert von Leuten wie dem Dichter Jewgenij Jewtuschenko —, der die Mütterlichkeit der sowjetischen Frau preist und sie von allen gesellschaftlichen Pflichten befreien möchte. Die Aufgabe der früher für die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen reservierten Quotierungen hat überdies bei den letzten Wahlen zum Volkskongreß zu einer Halbierung der einst 33prozentigen Frauenvertretung geführt. Der Trend wird sich auf lokaler und regionaler Ebene fortsetzen.

Das europäische Forum sozialistischer Feministinnen in Göteborg

Privates bleibt privat

In der UdSSR gibt es nicht einmal Ansätze einer „Vergesellschaftung des Reproduktionsbereichs“, so wie sie Alexandra Kollontai vorschwebte. Vor etwa zehn Jahren ergab eine empirische Studie, daß Frauen, die heute in der UdSSR mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen stellen, täglich bis zu 16 Stunden arbeiten. Sexualaufklärung gilt als Privatsache, Verhütungsmittel sind rar, erst allmählich entwickelt sich eine öffentliche Debatte. In der Moldauischen Sowjetrepublik gab es bei einer Demonstration ein Transparent, das die Miliz aufforderte, den Gummi ihrer Schlagstöcke für die Erzeugung von Kondomen zur Verfügung zu stellen. Immer noch ist Abtreibung die wichtigste Verhütungsmethode. Sieben Millionen mal im Jahr. Auf eine Geburt kommt eine Abtreibung. Und was für Abtreibungen!

„Es ist Vivisektion“, sagt Valentina Konstantinova, die von einem „Sozialismus mit weiblichem Antlitz“ träumt. Sie selbst kann die Zahl ihrer Abtreibungen nicht nennen. Sechs oder acht werden es schon gewesen sein. Nur einmal kam sie, gegen Bezahlung eines nicht unerheblichen Betrags, in den Genuß einer Narkose.

Aufbau feministischer Strukturen

Zusammen mit Natalia und Anastasija hat Valentina eine „informelle“ Frauengruppe gebildet: LOTOS — „Liga zur Emanzipation von Geschlechtsstereotypen“. Als Valentina an der Sozialwissenschaftlichen Akademie des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei eine Dissertation über die feministische Bewegung Großbritanniens schreiben wollte, mußte ihr Professor erst einmal tief Luft holen. Könnte es nicht die „demokratische Frauenbewegung“ sein, könnte sie nicht wenigstens „feministisch“ zwischen Anführungszeichen setzen, bat er vergebens. Valentina konnte nicht.

Perestroika und Glasnost machen es möglich: Es darf in der UdSSR wieder quer gedacht, gelesen, diskutiert und geschrieben werden. Angeregt durch Reisen in die USA und nach Finnland will Valentina Konstantinova in Moskau ein Haus für geschlagene Frauen eröffnen. Um die öffentliche Resonanz auf ein solches Projekt zu testen und die Unterstützung der Frauen zu mobilisieren, will sie über die einschlägigen Erfahrungen westlicher Feministinnen in der Frauenzeitschrift „Robotnica“ schreiben. Auflage: 22 Millionen.

Valentina, Natalia und Anastasija sind nicht die ersten Feministinnen in der Sowjetunion. Schon 1980 verfaßten einige Russinnen eine feministische Schrift — den Frauenalmanach. Er wurde in den Westen geschmuggelt und in mehrere Sprachen übersetzt. Die Berichte über die Zustände in sowjetischen Abtreibungskliniken lösten damals bei Feministinnen weltweit Entsetzen aus. Die Autorinnen mußten emigrieren. Die Forscherinnen am Bevölkerungswissenschaftlichen Institut konnten den aufsehenerregenden Almanach erst kürzlich lesen — als Geschenk westlicher Feministinnen.

Das „Center of Gender Studies“ in Moskau ist vorläufig auf Bücherspenden aus dem Ausland angewiesen. In den USA hat sich um Marilyn French eine Unterstützerinnengruppe gebildet. Bücher in allen Sprachen sind willkommen!

Adresse:

Bevölkerungswissenschaftliches Institut,
Akademie der Wissenschaften
Center of Gender Studies
z.Hd. Dr. Anastasija Posadskoja
Krasikova 27, Moskau 117218, UdSSR

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1990
, Seite 38
Autor/inn/en:

Erica Fischer:

Freie Autorin, Buchübersetzerin (aus dem Englischen) und Journalistin in der Bundesrepublik Deutschland, seit Ende 1995 in Berlin.

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