FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1972 » No. 226/227
Adalbert Krims • Ben van Onna • Bernhard Suin de Boutemard

Religionsunterricht soll brav machen

Der Artikel „Wozu Religionsunterricht?“ von Adalbert Krims im Jänner-Heft 1972 des NF hat eine z.T. heftige Diskussion — vor allem in katholischen Schülergruppen — ausgelöst. Aus diesem Grunde führen wir in diesem Heft die Diskussion mit drei Beiträgen weiter. Der erste ist eine Analyse über die politische Funktion des Religionsunterrichtes, die von einem Autorenkollektiv des „Kritischen Katholizismus“ unter Federführung von Ben van Onna erstellt wurde. Der zweite Beitrag ist eine Entgegnung eines evangelischen Religionslehrers aus Osnabrück und Mitarbeiters mehrerer evangelischer Zeitschriften in der BRD, Bernhard Suin de Boutemard, auf den Krims-Artikel im Jänner-Forum. In einem dritten Beitrag antwortet Adalbert Krims auf diese Kritik.

I. Politisierung des Religionsunterrichts?

Das Grundgesetz der BRD zeigt den eigentlichen Standort des Religionsunterrichtes in aller Deutlichkeit auf. Laut Art. 7 Absatz 3 ist Religionsunterricht „ordentliches Lehrfach“ an den Schulen. Weiter heißt es: „unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft erteilt“. Die Bestimmung ist „widersinnig und undemokratisch. Undemokratisch, weil nur die beiden großen christlichen Konfessionen in der Lage sind, schulischen Unterricht zu besetzen. Widersinnig, weil die Grundsätze der Religionsgemeinschaften nur dann eingehalten werden können, wenn man ihnen Einfluß auf den Religionsunterricht und damit praktisches Aufsichtsrecht zugesteht“ (Dieter Dross in: Amos 3/69). Länderverfassungen, Konkordate, Schulordnungsgesetze, Einsichtnahmen usw. seitens der Kirche garantieren den beiden Großkirchen eine juristische Stellung, welche es ihnen ermöglicht, die vom Staat erwartete moralische Wirkung: die Schulung zu Gehorsam und Autoritätsgläubigkeit, ungetrübt zu betreiben.

So heißt es z.B. in den „Empfehlungen für Sexualerziehung in den Schulen der Kultusministerkonferenz vom 3.10.68“: „Der Religionsunterricht erklärt das theologische Verständnis der Geschlechtlichkeit des Menschen und die daraus abzuleitenden Forderungen an den Menschen.“ Weitaus die meisten Eltern und Lehrer nehmen diese Ordnungsfunktion anerkennend hin, auch wenn sie der Kirche gleichgültig oder ablehnend gegenüberstehen.

Wichtig ist hier nicht das öffentlich sanktionierte Moralmanagement der Kirche im allgemeinen, sondern der Kontext, in dem sie als Religionsunterricht an den Schulen abläuft. Die Schule ist neben der ordentlichen, d.h. autoritären Familie und den Massenmedien zu den wichtigsten Agenturen unserer Gesellschaft geworden. Sie überträgt das Wissen, das notwendig ist, damit das jeweilige Objekt der Sozialisation ökonomisch möglichst effektiv eingesetzt werden kann. Sie vermittelt bewußt und unbewußt die Richtigkeit und Unantastbarkeit des politischen und wirtschaftlichen Systems. Sie prägt Verhaltensnormen ein wie Unterordnung, ethische Werte in Form von Sexualunterdrückung, die der einzelne braucht, um seinen Mann im gesellschaftlichen Prozeß zu stehen. Man vergleiche nur das System von Gehorsam und Strafen, von Noten, Prüfungen, Versetzungen; vom demokratischen Sandkastenspiel der Schülermitverwaltung; von Lesen und Schreiben, bei dem eine heile Kinderwelt vorgetäuscht wird; von Rechnen, wo eingekleidete Aufgaben Waren und Preise, Zins und Zinseszins als Naturgegebenheiten voraussetzen; von Sexualkunde im Biologieunterricht, usw.

Zu diesem gefährlichen Unsinn verhält sich der Religionsunterricht als moralische Mitgift, als methaphysische Übertonung der erzwungenen Stabilisierung, von der sich ein Schüler durch die Abmeldung allein nicht befreit.

Der staatliche und wirtschaftliche Druck auf die Schule, der durch die immer stärker werdende Frage nach qualifizierten Arbeitskräften hervorgerufen wird, verschont den Religionsunterricht nicht. Konnte die Kirche früher ihr theologisches Gebilde den Schülern als das Haus des lieblichen oder zornigen Vatergottes propagieren, wo die Kirche selbst eine relativ selbständige politische Einheit bildete, wird jetzt der Unterricht immer mehr selbst funktionalisiert, bekommt also die Aufgabe, den neuautoritären Druck moralisch zu verklären. Den Kirchen und den Kirchenbürokratien ist diese Umwandlung noch nicht ohne weiteres gelungen, ihre theologischen Kletterhöhen locken keinen Hund mehr hinter den Ofen her, ihre moralischen Imperative sind dem gesellschaftlichen Streß und Dreß noch nicht genügend angeglichen. Deswegen die heiße Diskussion in Kirchenverwaltungen, Theologenzirkeln und Laiengremien, in der Traditionalisten und Erneuerer die eigentliche Fragestellung unterschlagen.

Der Religionsunterricht wird isoliert, wie die anderen Schulfächer auch, mit didaktischen und methodischen Neuansätzen überschüttet. Die Abhängigkeiten im Dreiecksverhältnis: Staat (Grundgesetz usw.), Schule (Verhaltensnormen und moralische Tabus) und Kirche („mündiger“ Christ) werden nur selten und dann noch am Rande reflektiert. Allein der religiöse „Binnenraum“ scheint reformbedürftig.

Soll der Religionsunterricht „Lebenshilfe“ sein, so setzt er eine autoritäre Erziehungsmetaphysik als Basis des Unterrichtsprogramms und seiner Didaktik voraus. Religiöse Kindererziehung hat da bereits wichtige Vorarbeit geleistet. Unausgesprochen vollzieht sich die affektive Formung des Kindes auf Erweckung religiöser Gefühle und Schuldangst hin, um dem Kleinkind Gefühlsgehorsam für die göttliche und nicht weniger für die menschliche Autorität beizubringen.

Der Rahmenplan für die Glaubensunterweisung (vom 1. bis zum 10. Schuljahr), von den westdeutschen Bischöfen herausgegeben, hat in dieser seiner anthropologischen Grundlegung faschistoiden Charakter. Dem Kleinkind wird eine natürliche Religiösität „Urangst und Urvertrauen gegenüber geheimen Mächten“, zugeschrieben. Diese wird zum Anlaß genommen, das Kind in alle möglichen religiösen Vollzüge einzuüben, damit es sich aktiv identifiziert und seine Autonomie und Spontaneität nicht zur Geltung kommen. Sie soll in der Phase der sogenannten Pubertät die „Glaubenskrise“ überwinden helfen, indem Autorität und Tabu in das sich bildende Über-Ich hineinverlagert werden.

Der Rahmenplan entscheidet sich somit unreflektiert für eine dauernde Technik der Identifikation, die sich den durch die Familienerziehung bereits geschwächten Menschen zunutze macht und ihm in allseitiger Unmündigkeit hält.

Darauf baut der kirchliche Religionsunterricht auf, von daher definiert sich der sog. religionspädagogische Auftrag. Ideologisch präpariert durch den dogmatischen Spuk eines religiösen Apriori, durch verabreichte Sakramentenmagie, durch Unterordnung unter eine kleinbürgerliche Familienwelt, entfaltet sich dieser Unterricht im weiten Spektrum biblischer und dogmatisch-moralischer Vorstellungen. Hinter jedem Unterrichtsprogramm, sei es „orthodoxer“ wie auch gerade „liberaler“ Natur, steht ein pädagogisches Hintergrundinteresse, das allen Emanzipationsversuchen der Schüler zuwiderläuft.

Bezeichnend ist, wie sich mit dem Aufbau der BRD auch die Abwendung von der neuscholastischen Begriffskatechese langsam und stetig vollzog und das magisch-personalistische Modell der Theologie zur Stabilität des CDU-Staates und seiner Gehorsamsschulung wesentlich beigetragen hat. Die kritiklose Affirmation der christlich verbrämten Herrschaft entsprang nicht zuletzt einem wahnwitzigen Vertrauen.

Personalität, Partnerschaft, Treue, Gehorchen kapitalistischer Arbeits- und Lebensmoral, versprachen Freiheit im Privatleben, um über die Unfreiheit am Arbeitsplatz hinwegzutrösten. Mit Hilfe existentialer Slogans gelang es der Kirchenbürokratie, die Entlastungsfunktion religiöser Bedürfnisse neu zu etablieren und sie in den Dienst klerikaler Bevormundung zu stellen. Was aus der Vielzahl der auf „gottmenschlicher Begegnung“ harrenden religiösen Pflichtübungen herauskommt, ist ein dumpfes Bewußtsein, welche das Gefasel von Personalität auf die durch ökonomische Abhängigkeiten korrumpierte Kleinfamilie überträgt und auf der ganzen Linie Schiffbruch erleiden muß. Gesellschaftliche Verhältnisse werden mit den Kategorien zwischenmenschlicher Betriebsamkeit verharmlost. Konflikte regredieren zu Anfragen an moralische Anstrengungen, mehr tätige Nächstenliebe zu üben. Aus unbewußten Vorwürfen und Aggressionen gegen die Herrschenden werden Selbstvorwürfe.

Leid und Not werden „angenommen“ (Christus gilt als Urbild dieses Gehorsams; „Dialog“ heißt das, oder „sich stellen unter das Gotteswort“), statt sie produktiv zu machen.

Was tun? Diejenigen, weiche den Religionsunterricht aus der öffentlichen Schule verdrängen wollen, führen meist „Bekenntnissätze“ an. Sie sehen im staatlich garantierten Unterricht Relikte eines Staatskirchentums, das Bekenntnis zum liberal-neutralen Staat und zur pluralen Gesellschaft mit Füßen getreten. Dieses Argument ersetzt aber keine gesellschaftliche Analyse dieses Sachverhaltes. Trennung von Staat und Kirche sind durch Gesetze und formale Vereinbarungen zwar formal zu regeln, aber nicht inhaltlich herbeizuführen. Dem steht die weitgehende Interessenidentität von Kirche und autoritärer Leistungsgesellschaft entgegen, etwa nach dem Einverständnis: laßt uns die Schule, wir bieten Glauben in zeitgemäßer Verpackung an, indem wir die „Sinnfrage“ systematisch befrieden.

In dem Maße, wie die kirchliche Bürokratie ihre machtpolitische Orientierung ohne Rekurs auf ein theologisches „Programm“ durchsetzen kann — diese Institution überdauert alle verbalen Proteste — in dem Maße, wie Glaubensverlust im „Fußvolk“ keine Entlarvung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse zur Folge hat, im gleichen Maße dürfen wir nicht der Versuchung erliegen, den Apparat in seinen Einflußzentren durch reformtheologische Impulse ändern zu wollen. Wo Religionsunterricht sich derart institutionalisiert hat, daß er nach dem Gesetz abzuhalten ist, werden strategische Momente für uns erstrangig. Wir müssen Konsequenzen aus der Tatsache ziehen, daß die Mehrzahl der Schüler kein religiöses Abhängigkeitsinteresse mehr mit dem Unterricht verbindet, wohl aber das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Orientierung und Veränderung gerade ihrer eigenen Situation.

Die bestehende Schule ist entscheidender Teil der Ausbeutung der Herrschenden. Unsere Kritik darf sich also nicht nur gegen die in der Schule wirksame Ideologie wenden, und ihr eine fortschrittliche Theorie entgegensetzen. Wir müssen die reaktionäre Praxis mit einer demokratischen Praxis beantworten. Es kann also nicht nur darum gehen, an der Schule aufklärerisch zu wirken, die Schule als Sozialisationsinstrument muß verändert werden.

Linke Lehrer, die die ihnen zugedachte Rolle als Manipulator und Unterdrücker verweigern, können dies allein nicht leisten, es kann nur gelingen, wenn sich die Lehrer auf die Seite derer stellen, die vor allem Objekt der Befreiung werden müssen: auf die Seite der Schüler. Darin liegt auch für die Lehrer selbst die Chance der Emanzipation.

In eine solche Strategie gehört auch der Religionsunterricht hinein, zumal er verglichen mit den Leistungszwängen der anderen Fächer und aus mangelnder Kontrolle der Kirchenverwaltung einen Schon- bzw. Freiraum darstellt, der politisch ausgenützt werden kann. Die Schüler bewältigen ihre mehr oder weniger gesteuerte klerikale Vergangenheit nicht dadurch, daß man sich außerhalb des Unterrichts (durch Abmeldung) effektiv entlädt und in einen Antiklerikalismus steigert. Der Religionsunterricht soll zum Forum der Auseinandersetzung gemacht werden, das ausgeht von den Fragen und Bedürfnissen der Schüler (Sexualität, Ehe und Familie; Schulkonflikte besonders an den höheren Schulen; Situation der Lehrlinge in dem Berufsschulunterricht).

Folgende Schwierigkeiten müssen wir theoretisch und praktisch zu überwinden versuchen:

  1. Die Sprachbarrieren, eher Problem der Lehrer als das der Schüler.
  2. Das Problem der Tarnung nach der einen und Offenheit nach der anderen Seite.
  3. Die Gründung eines wirksamen Syndikats linker Religionslehrer gegen Maßnahmen von seiten der Staat- und Kirchenbürokratie.
  4. Wie können wir die zunächst frustrierenden Erkenntnisse, die die Schüler in unserem Unterricht über ihre eigene Situation erhalten, umsetzen in befreiende Aktionen.
  5. Die Bildung entsprechender Schülerkollektive.
Ben van Onna, Bochum

II. Boykott — Alternative zum Religionsunterricht?

Die Forderung von A. Krims nach Boykott des Religionsunterrichts beruht auf der Analyse der Wirkung des gegenwärtigen Religionsunterrichts. Einerseits wirke der Religionsunterricht systemstabilisierend und diene der „ideologischen Abstützung der bestehenden Ordnung“, andererseits seien seine theologischen Lehrinhalte „irrelevant“. Diese Irrelevanz ergibt sich für Krims daraus, daß „subversive“ Inhalte in ein autoritär strukturiertes System integriert, nur noch „die ideologische Abstützung, die Letztbegründung des Systems, seiner Normen und Werte“ zu leisten vermögen. Religionsunterricht als Relikt des „schulischen Staatskirchentums“ legitimiere „autoritäre Strukturen durch ähnliche Werte, wie sie in verschärfter Form auch im Militär gelten (z.B. Gehorsam, Tradition, Pflicht, Ordnung, Disziplin, Rangunterschied). Diese Werte, die in gewisser Weise als Sekundärtugenden eine relative Bedeutung haben mögen, werden absolut gesetzt und als primäre Prinzipien für das Verhalten vermittelt“.

Krims zählt dann die Gründe auf, warum seiner Meinung nach „eine Gegenstrategie im Rahmen des schulischen Religionsunterrichts ... schwer möglich ist“. Darum fordert er „den Aufbau eines christlich-kritischen Gegenunterrichts“ außerhalb der Schule bei gleichzeitigem „organisierten Boykott (Abmeldung und so weiter) des systemstabilisierenden staatlich-schulischen Religionsunterrichts“.

Der Ansatz, den Krims für seine Analyse des Religionsunterrichts wählt, ist ein systemtheoretischer — in den er die Theoreme der legitimierenden und protestativen Funktion der Religion aus der marxistischen Religionskritik aufnimmt. Systeme, so lehrt diese soziologische Theorie, haben das Ziel, ihren Bestand zu erhalten. Zu diesem Zweck integrieren sie Störfaktoren so, daß diese ihre das System bedrohende Funktion verlieren. Über die Kompetenzabgrenzung durch staatskirchenrechtliche Abmachungen wird der Religionsunterricht als Teilsystem in das Gesamtsystem angegliedert. Oder aber das Teilsystem wird — immer dem systemtheoretischen Ansatz Krims folgend — zu einer marginalen Funktion gezwungen. Wenn also Krims als Lösung dieses Dilemmas Abschaffung oder Boykott des Religionsunterrichts fordert, dient er nur den Interessen des Gesamtsystems. Der von Krims gewählte analytische Rahmen führt notwendigerweise in eine Aporie, aus der Krims dann auch nicht herauskommt, wenn er das Gegenmodell eines Religionsunterrichts außerhalb der Schule entwickelt.

Darüber hinaus läßt er mit seiner Gegenstrategie gerade die im Stich, die unter den Pressionen und der Brutalität der autoritären Schulstruktur leiden.

Die Alternative zum konventionellen Religionsunterricht in der Schule ist nicht: Kein Religionsunterricht in der Schule. Die Alternative ist auch nicht die Emigration aus der Schule. Solange es die paratotale Instanz Schule gibt, würde ich Religionsunterricht in der Schule fordern. Mehr noch: Wenn es ihn noch nicht gäbe, man müßte ihn erfinden.

Diese Forderung ergibt sich aus den theologischen Prämissen, die Krims zu Beginn seines Aufsatzes formuliert. Ich unterstelle dabei, daß ich ihn richtig verstanden habe, wenn er zur theologischen Grundlegung des Religionsunterrichts sagt: „Von seinem Selbstverständnis her hat Religionsunterricht etwas mit christlicher, kirchlicher Verkündigung an der Schule zu tun ... Nehmen wir nun an, diese Verkündigung hätte etwas mit Befreiung (Evangelium), mit Liebe unter Brüdern (Gleichen) usw. zu tun, also mit der grundsätzlichen Relativierung des Erreichten, Bestehenden zugunsten des Möglichen, Zukünftigen, Neuen, zugunsten von mehr Freiheit und Gerechtigkeit unter den Menschen.“

Zwar vermisse ich in diesen für meine Begriffe eindimensionalen Gedankengängen die analytische Kraft theologischen Denkens in der Dialektik von Gericht und Gnade, Gesetz und Evangelium. Zudem legt sich die Vermutung nahe, daß Welt und Reich Gottes undialektisch gesehen werden und darum für die reale und gegenwärtige Situation des Kreuzes kein Ort ist. Ich nehme aber einmal an, Krims hätte bei der Kürze seiner theologischen Ausführungen die Dialektik von Gesetz und Evangelium, von Welt und Reich Gottes mitgedacht, weil er fragt: „Wie ist es gelungen, einen solchen Unterricht, der unter den gegebenen Bedingungen, in dem oben skizzierten Schulsystem, zwangsläufig subversiv werden müßte, in diesem System zu etablieren?“ Aber zu meiner Überraschung beantwortet Krims die Frage nach den Ursachen gar nicht, sondern fragt weiter: „Da der Religionsunterricht aber offensichtlich keine subversive Kraft in der Schule darstellt, muß nach der eigentlichen Funktion dieses Unterrichts gefragt werden.“ Die Frage nach der Wirkung verdrängt bei Krims die Frage nach der Ursache.

Das hängt mit der Wahl des strukturfunktionalen Konzepts zur Analyse und Strategieentwicklung des Religionsunterrichts zusammen. Sein systemtheoretischer Ansatz bringt ihn um die Möglichkeit, zumindest die Richtung einer Antwort auf seine Frage nach der Ursache des Versagens zu entdecken.

Die Ursache, warum Religionsunterricht „sich in der autoritären Schule systemstabilisierend“ auswirkt, liegt meiner Meinung nach in der Abwesenheit einer christologisch — und nicht nur religiös — begründeten Theorie und Praxis. Nur so ist es denkbar, daß die Aussagen des Magnificat in ihr Gegenteil verkehrt werden konnten: Die Gewaltigen werden nicht vom Thron gestoßen, die Hungrigen gehen leer aus, und die Reichen akkumulieren Kapital.

Wenn aber der Religionslehrer Gott mehr lieben würde als Angst vor Instanzen des Systems zu haben, klagt Krims, dann würden ihn die Sanktionen und Disziplinierungen „von oben“ treffen. Wer wollte darin Krims widersprechen. Aber wo ist dem Christen verheißen, daß es ihm in der Nachfolge eo ipso gutgehen müßte? Damit ich nicht mißverstanden werde, ich empfehle nicht das Martyrium. Aber ich erlaube mir nicht, es auszuschließen, indem ich mich auf eine systemexterne Position zurückziehe.

Die von Krims vorgeschlagene Gettoposition für einen Religionsunterricht außerhalb der Schule halte ich nicht nur für strategisch verkehrt. Sie ist auch christologisch nicht zu begründen. Denn wenn Religionsunterricht den Anspruch und die Barmherzigkeit Jesu vermitteln will, dann muß die Stellung des Religionsunterrichts zugleich unvermischt und ungetrennt vom Schul- und Gesellschaftssystem bestimmt werden. In dieser durch die Christologie bestimmten Grenze sind allein Freiheit und Gerechtigkeit nicht nur für den Schüler gewährleistet. Denn eine Verwischung der Grenzen zwischen Welt und Reich Gottes oder eine undialektische Trennung beider Reiche schaffen gerade die autoritären und entmündigenden Strukturen, die Krims zu recht angreift.

Nicht die systemtheoretische Zuordnung von Religionsunterricht als Staatskirchentum in der Schule, sondern die theologische Insuffizienz der Theologen und ihrer Instanz Kirche macht den Religionsunterricht zu einer Sozialisationsagentur des „hidden cirriculum“ ihrer Systemumwelt. Krims schlägt als Alternative einen Religionsunterricht vor, der von einer kritischen Theorie her konzipiert ist. Andere wollen ihn normentheoretisch oder als Sinndeutung, und wieder andere informations- und kommunikationstheoretisch konzipieren. Das bleiben alles nur Varianten des bereits vorhandenen und seine gesellschaftliche Nützlichkeit erweisenden Religionsunterricht.

Die Alternative „eines kritischen Gegenunterrichts“ zum herrschenden Religionsunterricht wäre erst ein durch die Dialektik von Gesetz und Evangelium bestimmter Religionsunterricht. Erst dann könnte von „kritischer Verkündigung“ gesprochen werden.

Bernhard Suin de Boutemard, Osnabrück

III. Gegen theologischen Idealismus

In Österreich gibt es kaum eine öffentliche Diskussion über den Religionsunterricht (RU). In einigen Kirchenblättern und bei Diözesansynoden wird versucht, mit dogmatischer Apologetik verlorenes Terrain wettzumachen und den RU als „erstes Schulfach auf dem Zeugnis“ in seiner Bedeutung zu stärken. Doch selbst diese — auf anderen Gebieten noch deutlicher zu erkennende — Sammlung des konservativen Katholizismus hatte in bezug auf die Diskussion um den RU kaum Breitenwirkung. Während in der BRD gerade sozialistische Lehrer und Schülerkollektive das Fach Religion sehr stark in ihre Diskussionen und Aktionen einbeziehen, gibt es in Österreich höchstens ein stillschweigendes Anwachsen der Abmeldeziffern unter fortschrittlichen Schülern — jedoch kaum eine politisch-ideologische Auseinandersetzung oder koordinierte Aktionen.

Sicherlich ist auch die Nichtbeschäftigung mit dem RU, die stille Emigration eine Methode — ebenso wie die Nichtbeschäftigung mit der Kirche und die stille Emigration aus ihr eine Methode ist. Der gesellschaftliche Einfluß von RU (bzw. Kirche), die politischen Implikationen und deren theologisch-ideologische Verschleierung bleiben dadurch jedoch weiter wirksam. Durch das Rechtsliegenlassen, das Ignorieren gesellschaftlicher Realitäten werden diese nicht abgeschafft — sie bleiben als Realitäten bestehen und üben weiterhin ihren Einfluß aus. Wer die Funktion des RU — oder weitergesteckt: der Kirche — im Kapitalismus begriffen hat, kann beim Ignorieren nicht stehenbleiben, sondern wird sich gezwungen sehen, diese Erkenntnis in die politische Praxis einzubeziehen. Dabei ist es im ersten gleichgültig, ob der philosophische Ausgangspunkt eine radikale, prinzipielle Religionskritik oder eine auf das Evangelium bzw. religiöse Anschauungen rekurrierende Haltung ist, die von daher zu einer Kritik bzw. Ablehnung der gegenwärtigen Funktion von Kirche kommt. Entscheidend ist nur, daß diese Rolle politisch analysiert wird.

In bezug auf den RU bedeutet dies: es muß vorerst das Funktionieren der Schule für den Kapitalismus analysiert werden, um von dort aus nach dem Beitrag des RU innerhalb dieser Schule zu fragen. Gleichzeitig muß der RU in den größeren Zusammenhang der Kirche gestellt und die ideologische Funktion der Kirche als — metaphysisch überbauter — bürgerlicher Institution bestimmt werden. In eine solche politische Kritik können dann durchaus auch theologische Argumentationen miteingebaut werden, die von der „subversiven Tradition“ der Propheten, des Evangeliums und der Ketzer ausgehen. Eine rein theologische Kritik muß jedoch zu einer idealistischen Verkennung jener gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten kommen, denen die Kirche als Institution der bürgerlichen Gesellschaft und der Religionsunterricht als Bestandteil des Schulsystems unterworfen sind.

Ein gutes Beispiel einer solchen idealistischen Verkennung bietet die Kritik von Bernhard Suin de Boutemard in diesem Heft an meinem Artikel „Wozu Religionsunterricht?“. Suin de Boutemard unternimmt den Versuch, den RU theologisch zu reformieren. Er erkennt zwar, daß sich gegenwärtig der RU systemstabilisierend auswirkt, sucht jedoch die Ursachen ausschließlich „in der Abwesenheit einer christologisch — und nicht nur religiös — begründeten Theorie und Praxis“. Der Ausweg liegt daher bei ihm in einem frommen Wunsch: „Wenn aber der Religionslehrer Gott mehr lieben würde als Angst vor Instanzen des Systems zu haben ...“ Daß solch religiös guter Wille politische Blindheit nicht ausgleichen kann, beweist die Kirchengeschichte kontinuierlich. Wenn man nicht zur Frage nach dem Klassencharakter der Institution Kirche vorstößt, wird man sich immer im nachhinein über „politische Verfehlungen“ der Kirche (z.B. im Dritten Reich) wundern, ohne sie erklären zu können. Bestenfalls wird man die vorübergehende Abwesenheit des der Kirche als Beistand verheißenen Heiligen Geistes beklagen.

Von seiner theologisch-idealistischen Position aus versteht Suin de Boutemard auch gar nicht meine polemische Frage: „Wie ist es gelungen, einen solchen Unterricht, der unter den gegebenen Bedingungen in dem oben skizzierten Schulsystem zwangsläufig subversiv werden müßte, in diesem System zu etablieren?“ Er glaubt, ich sei die Antwort nach den Ursachen schuldig geblieben. Diese ergibt sich jedoch aus der Bestimmung des Klassencharakters der Kirche: da eben die Kirche eine Institution im Interesse der herrschenden Klasse ist und keine prophetisch-subversive im Interesse der Unterdrückten, ist auch der RU als eines der ideologischen Instrumente dieser Institution von seiner Grundkonzeption her nicht subversiv, sondern eine willkommene Ergänzung und Abstützung des Schulsystems dieser Gesellschaft.

Sicherlich kann die Forderung nach „Abschaffung oder zumindest Boykott des staatlich-schulischen Religionsunterrichts“ nicht die einzige Konsequenz aus obigem Befund sein. Ich habe daher auch schon in meinem Artikel „Wozu Religionsunterricht?“ auf die Notwendigkeit von Gegenstrategien innerhalb des gegenwärtigen RU hingewiesen (vgl. dazu den Beitrag des „Kritischen Katholizismus“ in diesem Heft. Den dort gemachten Anregungen — Organisierung sozialistischer Religionslehrer, Bildung von Schülerkollektiven usw. — kann ich mich vollinhaltlich anschließen.). Auch der von mir vorgeschlagene „außerschulische Gegenunterricht“ ist als eine unter möglichen Strategien gedacht. Zugleich verstehe ich ihn jedoch auch als Perspektive einer „kritisch-politischen Verkündigung“ nach der Abschaffung des staatskirchlichen RU.

Der Spielraum des einzelnen Religionslehrers, im RU andere Inhalte zu vermitteln, ist allerdings in Österreich noch geringer als in der BRD. D.h. jedoch nicht, daß deswegen bei uns sozialistische Religionslehrer (deren es ohnehin nur sehr wenige gibt) von vornherein das Feld räumen sollten.

Adalbert Krims, Wien

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1972
, Seite 57
Autor/inn/en:

Adalbert Krims:

Geboren 1948 in Freistadt, Oberösterreich. Ehemals katholischer Religionslehrer und Diözesanjugendführer in Linz, Angestellter des Wiener Instituts für Entwicklungsfragen, Sekretär der Paulusgesellschaft‚ Mitbegründer der Aktion Kritisches Christentum, ab 1970 Redakteur des FORVM und Obmann des Vereins der Redakteure und Angestellten des NEUEN FORVMs.

Ben van Onna:

Bernhard Suin de Boutemard:

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