FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1984 » No. 367/370
George Wald

Rekonstruktion der Gesellschaft

In seinem Vortrag an der Universität Wien stellte der amerikanische Nobelpreisträger Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Macht- und Güterverteilung und dem Raubbau an der Umwelt her.

Das Problem ist, daß nach 3 Billionen Jahren des Lebens auf diesem Planeten und nach vielleicht 10.000 Jahren der Zivilisation, die 200 Jahre der industriellen Revolution die menschliche Rasse in das Zeitalter der Auslöschung gebracht haben.

Die gesamte Entwicklung dieser letzten 200 Jahre hat die Form einer Exponentialkurve. Exponentionales Leben beinhaltet eine ganze Menge von Dingen, etwa das Wachstum der menschlichen Bevölkerung, die industrielle Verschmutzung, den Gebrauch von fossilen Brennstoffen, die Rüstung und die Information. Alle diese Dinge sind exponential gewachsen. Man könnte diese Kurve in den Himmel zeichnen, nach dem Mond greifend, und wäre dem Jahre 2000 sehr nahe. Sollte die menschliche Rasse die Kurve nicht verflachen oder zumindest deren Anstieg stoppen können, (zum Beispiel Rüstungsstop) ist es schwer vorstellbar, wie sie überleben und das Jahr 2000 überschreiten kann.

Sie alle kennen die Phrase Konterrevolutionär — ich möchte sie bewußt verwenden. Einige der zuvor erwähnten Entwicklungen sind Konterrevolutionär und ich möchte nun über deren unvorhersehbare Konsequenzen sprechen.

Das größte Ereignis in der Geschichte des Lebens auf diesem Planeten war die Entwicklung der Photosynthese. Was geschah, als das Leben in den Ozeanen begann? Über viele Zeitalter hinweg waren organische Moleküle aus nur 4 von 92 natürlichen Elementen gebaut, nämlich aus Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff und Stickstoff. 99 Prozent des Lebens sind aus diesen Stoffen gemacht. Über lange Zeit haben diese Elemente in der Atmosphäre zusammengearbeitet und bildeten Moleküle, die kontinuierlich in die Meere absanken. Diese „neuen Lebewesen“ mußten sich von etwas ernähren — von organischen Molekülen im Meer. Die jedoch waren auch nur in begrenzter Anzahl vorhanden und so wäre das Leben auf der Erde zugrunde gegangen, hätte nicht der Prozeß der Photosynthese die Energie der Sonne verwendet und damit zwei Abfallstoffe — nämlich Kohlendioxid und Wasser — verbunden und daraus Zucker gemacht.

Alle Lebewesen (aus Stickstoff) aus dem Meer müssen „essen“. Wir haben kürzlich eine neue Landwirtschaft entwickelt und sind sehr stolz auf sie, weil sie gar so produktiv ist. Sie basiert völlig auf dem Gebrauch von Petroleum. Ich rede von der Petrol-Landwirtschaft. Tatsächlich ist in meinem Heimatland der größte Erdöl-Verbraucher nicht das Transportwesen oder die Industrie, sondern die Landwirtschaft.

Das heißt: Der Prozeß der Evolution wird wiederholt — wir bekommen unsere Nahrung nicht frei vom Sonnenlicht, sondern sind abhängig von fossilen Brennstoffen.

Ohne sie wäre heute die Landwirtschaft, also die Nahrungserzeugung, nicht mehr denkbar.

Das hat viele unvorhergesehene Konsequenzen:

  1. Die gesamte Petro-Landwirtschaft ist vom energetischen Standpunkt aus gesehen ein schlechter Handel. Die Nahrung, die produziert wird, enthält nur ein Fünftel der Energie, die für ihre Herstellung aufgewendet wird.
  2. Bis vor kurzem lebten die meisten Menschen auf dem Land. Die Arbeit wurde durch menschliche (oder tierische) Kraft getan.

In der Petro-Landwirtschaft wird die Arbeit durch Maschinen verrichtet, gesteuert von nur ganz wenigen Arbeitern.

Auf der ganzen Welt ersetzt das „Agri-Business“ die kleinen Bauern — das treibt die Menschen weg vom Land. In meiner Heimat etwa, in den USA, waren die meisten Leute Farmer. Heute sind nur mehr zwei bis drei Prozent in der Landwirtschaft tätig.

Diese Entwicklung setzt sich auch in die Dritte Welt fort. In den unterentwickelten Ländern werden die Menschen sogar doppelt so rasch in die Städte getrieben wie in den Industrienationen — etwa vier Prozent pro Jahr (gegenüber 1,7 Prozent). In den Städten aber gibt es für diese Menschen keine Arbeit mehr. Und es gibt nichts, was hilfloser ist als ein Arbeiter in der Stadt ohne Arbeit.

Die UN schätzt die Zahl der Personen, die man als „chronisch hungernd“ bezeichnen kann, auf 800 Millionen Menschen.

Man muß sich vergegenwärtigen, was 800 Millionen hungernder Menschen bedeuten. Das ist die Bevölkerung der USA, der UdSSR, Japans, Deutschlands, Englands, Frankreichs und Italiens zusammen und für jeden, der in diesen aufgezählten Ländern ißt, gibt es einen in der Dritten Welt, der hungert.

Es war nicht sehr viel, was diese Menschen hungern machte. In der Sahara, dem Horn von Afrika, in Bangladesh, dort sterben die Leute an Hunger. Und auch in Lateinamerika. Es ist eine schreckliche Situation, ausgelöst durch die Einführung der Petro-Landwirtschaft.

Was wir heute erleben, ist die damals nicht vorhergesehene Konsequenz der industriellen Revolution vor zweihundert Jahren. Heute kann man von der urbanen Revolution sprechen, die UN schätzt, daß etwa die Hälfte aller Menschen bis zum Jahr 2000 in Städten leben werden.

Das ist eine gewaltige Revolution, die für eine Unzahl von Menschen enorme Probleme mit sich bringt.

Heute stehen wir an der Schwelle zur dritten Revolution, zur technischen, zur Computer- und Roboterrevolution. Die Menschen der mittleren Klasse sind entzückt, denn sie sehen darin eine neue Industrie mit neuen Jobs, neue Berufe.

Die meisten von ihnen jedoch übersehen, daß das eigentliche Ziel der Computertechnologie und der Roboter ist, die Arbeiter zu ersetzen. Wir sind mit einer Entwicklung konfrontiert, die drauf und dran ist, die Arbeiter aus den Fabriken und Büros zu vertreiben. Genauso, wie sie zuvor vom Land vertrieben worden sind.

Selbst wenn wir glücklicherweise der Katastrophe eines nuklearen Krieges entgehen sollten, sehen wir in eine Zukunft, wenn wir nicht umkehren, in der es keine Arbeit gibt, weder für Farmer, noch für Fabriksarbeiter, noch für Büroarbeiter.

Sie alle werden auf der Suche nach Jobs sein, die es nicht gibt.

Vom Ansatz her ist das keine Attacke gegen die Technologie an sich. Ich möchte nur eine alte Frage neu stellen: Technologie für wen?

Technologie könnte das Leben reicher und leichter für die Menschen machen. Vorausgesetzt, sie würde für diesen Zweck verwendet. In unserer jetzigen Gesellschaft ist Technologie allerdings nur dazu da, den Profit einzelner Gruppen, einzelner Menschen, die meiner Ansicht nach jetzt schon zu reich und zu mächtig sind, noch zu vermehren.

Würde Technologie dazu verwendet, das Leben der gewöhnlichen Leute einfacher zu machen, es weniger schwer zu gestalten, könnte ich sie als Fortschritt sehen.

Letzten Endes würde dies eine Rekonstruktion der Gesellschaft bedingen, die — wie ich glaube — heute auf die Wünsche einer winzigen dominierenden Elite ausgerichtet ist, darauf, auf sie mehr Macht und Wohlstand zu konzentrieren. Und dies in einer Zeit, wo Macht und Wohlstand vereint ist wie nie zuvor in der Geschichte.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1984
, Seite 18
Autor/inn/en:

George Wald:

Geboren 1906 in New York City, gestorben 1997 in Cambridge. Schwerpunktmäßig auf dem Gebiet der Physiologie tätiger US-amerikanischer Biologe, der für seine Erforschung der Funktion von Vitamin A den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 1967 erhielt.

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