FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 125
Supreme Court of the United States

Regierende muß man beleidigen dürfen

Aus einem Urteil des US-Supreme Court

Zum erstenmal in seiner Geschichte befaßte sich der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Nordamerika mit dem Zusammenhang und Widerstreit von Meinungsfreiheit einerseits und Ehrenschutz öffentlicher Funktionäre anderseits. Er tat es, in der Sache „The New York Times Company gegen L. B. Sullivan, Polizeidirektor in Montgomery, Alabama, No. 39-40-Oktober 1963“, mittels einer Urteilsbegründung von 53 Druckseiten, die eine klassische Summe angelsächsischen Rechtsdenkens darstellen. Dies und die Aktualität des Themas in unserem Land rechtfertigt die Länge der nachfolgenden Auszüge.

Mehrheitsvotum des Gerichtshofes

Die Diskussion über öffentliche Angelegenheiten soll ohne Hemmungen, grob und gänzlich ungehindert sein; sie kann sehr wohl vehemente, ätzende und gegebenenfalls unerfreulich scharfe Angriffe auf die Regierung und öffentliche Funktionäre in sich schließen ... Der verfassungsrechtliche Schutz (der Pressefreiheit) darf nicht davon abhängig gemacht werden, ob die geäußerten Ideen und Meinungen populär, gesellschaftlich nützlich oder wahr sind ... Ein Maß von Mißbrauch ist mit dem rechten Gebrauch jeglicher Sache verbunden; und dies ist nirgendwo wahrer als auf dem Gebiet der Pressefreiheit ... Trotz der Wahrscheinlichkeit ihres exzessiven Mißbrauchs ist diese Freiheit, auf lange Sicht, unentbehrlich für die Aufklärung und das richtige Verhalten der Bürger einer Demokratie.

Falsche Behauptungen sind in einer freien Diskussion unvermeidlich; sie müssen Schutz genießen, wenn die Meinungsfreiheit jenen „Atemraum“ haben soll, den sie braucht, um zu überleben ... Gerichtliche Verurteilungen wegen falscher Behauptungen über die Amtsführung politischer Funktionäre widerspiegeln die veraltete Doktrin, daß die Regierenden nicht kritisiert werden dürfen ... Das öffentliche Interesse (an freier Diskussion) ist hier viel gewichtiger als das Interesse des schutzsuchenden öffentlichen Funktionärs oder irgendeiner anderen Einzelperson ...

Tatsachenirrtümer, insbesondre mit Bezug auf die geistige Verfassung und die Denkvorgänge eines Menschen, sind unvermeidlich ... Was immer dem Bereich der Klage wegen Ehrenbeleidigung oder Verleumdung hinzugefügt wird, wird dem Bereich der freien Diskussion entzogen. Daß eine Meinungsäußerung falsche Behauptungen enthält, ist noch kein Grund, sie zu unterdrücken. Vgl. hiezu J. St. Mill, „Über die Freiheit“:

Sophistische Argumentation, die Weglassung von Tatsachen oder Argumenten, die falsche Darstellung der Einzelheiten eines Vorgangs, die falsche Wiedergabe einer gegnerischen Meinung ... alles das geschieht ununterbrochen, und zwar im schwerstwiegenden Maße, im unanfechtbar guten Glauben und aus dem Mund von Personen, die weder als unwissend noch als unfähig bezeichnet werden und die eine solche Bezeichnung in vielerlei anderer Hinsicht tatsächlich nicht verdienen; daher ist es nur selten möglich, derlei falsche Darlegungen mit ausreichender Begründung und gutem Gewissen als moralisch schuldhaft abzustempeln; und noch viel weniger wäre es möglich, in diese Art von ungebührlicher Polemik von Gesetzes wegen einzugreifen.

Das Gleiche gilt von der Verletzung des Ansehens ... der richterlichen Beamten. Der Oberste Gerichtshof hat zu Recht erkannt, daß der Schutz der Würde und des Ansehens der Gerichte keine Rechtfertigung darstellt, auf Grund deren die Kritik am Richter oder an seiner Entscheidung als strafrechtlich verfolgbare Schmähung zu verurteilen wäre ... Dies gilt auch dann, wenn die kritische Äußerung „Halbwahrheiten“ und falsche Behauptungen in sich schließt ...

Die Kritik öffentlicher Amtsträger büßt ihren verfassungsgesetzlichen Schutz nicht schon deswegen ein, weil sie wirksame Kritik ist und daher das Ansehen dieser Amtsträger herabmindert. Weder Irrtümer in den Tatsachen noch ehrenkränkender Inhalt reichen aus, um jenen Schutzschild beiseite zu schieben, den die Verfassung vor die Kritik öffentlicher Tätigkeit gepflanzt hat ... Madison sagte: Die Zensurgewalt ruht beim Volk mit Bezug auf die Regierung, nicht bei der Regierung mit Bezug auf das Volk ... Die Presse hat die Freiheit, Verdienst und Statur öffentlicher Amtsträger jeder Art zu überprüfen, und diese Freiheit hat sie nicht bloß innerhalb der strikten Grenzen der Strafgesetze. Dies ist das Fundament der Pressefreiheit ... Die Absicht, öffentliche Funktionäre um ihr Ansehen zu bringen oder verächtlich zu machen, kann offenkundig nicht bestraft werden, ohne zugleich das Recht zu beeinträchtigen, diese öffentlichen Funktionäre und ihre Maßnahmen in aller Freiheit zur Diskussion zu stellen ...

Gleichgültig, ob eine Zeitung eine Reihe von behördlichen Maßnahmen gegen sie (wegen Beleidigung öffentlicher Funktionäre) finanziell überleben kann oder nicht: der Druck der Angst und Einschüchterung trifft jene, die der Kritik der Öffentlichkeit ihre Stimme geben sollen, und schafft jedenfalls eine Atmosphäre, in der die freie Meinungsäußerung nicht überleben kann ...

Der verfassungsgesetzliche Schutz falscher Behauptungen, die im guten Glauben geäußert wurden, ist daher von entscheidender Bedeutung ... Eine Gesetzesnorm, die den Kritiker öffentlicher Amtsführung zwingen wollte, für die Wahrheit aller seiner Tatsachenbehauptungen Garantie zu leisten, würde zur „Selbstzensur“ führen ... Unter einer solchen Gesetzesnorm würden potentielle Kritiker der öffentlichen Amtsführung möglicherweise davon abgehalten werden, ihre Kritik zu äußern, obgleich sie diese Kritik für wahr halten, ja obgleich diese Kritik wahr ist, jedoch von solcher Art, daß die Kritiker daran zweifeln, ob diese Wahrheit gerichtlich erweisbar ist und ob sie den damit verbundenen kostenmäßigen und sonstigen Aufwand auf sich nehmen können oder wollen ... Eine solche Gesetzesnorm erstickt die Lebendigkeit der öffentlichen Diskussion und beschränkt deren Vielfalt.

Der verfassungsgesetzliche Schutz (der Pressefreiheit) bedeutet nach Ansicht des Obersten Gerichtshofes eine Norm, welche dem öffentlichen Funktionär das Verbot auferlegt, Klage zu erheben wegen ehrenrühriger falscher Behauptungen betreffend seine öffentliche Amtstätigkeit — es sei denn, er beweist den bösen Willen hinter solchen Behauptungen ...

Auch eine falsche Behauptung kann als wertvoller Beitrag zur öffentlichen Diskussion angesehen werden, da die Wahrheit im Zusammenstoß mit dem Irrtum desto deutlicher aufgefaßt und desto lebhafter eingeprägt wird.

(J. St. Mill, „Über Freiheit“)

...

Derartige Zeitungsartikel sind durch die Verfassung privilegiert, obgleich ihr hauptsächlicher Inhalt aus unwahren Tatsachenmitteilungen und Ehrenkränkungen des klageführenden öffentlichen Funktionärs bestehen mag. Der Nachweis, daß die Veröffentlichung aus bösem Willen erfolgte, müßte vom klageführenden öffentlichen Funktionär erbracht werden ...

Die öffentliche Diskussion ist für Staat und Gesellschaft derart wesentlich, die daraus entspringenden Vorteile sind derart groß, daß sie die Unbequemlichkeit mehr als aufwiegen, welche ein öffentlicher Funktionär auch als Privatperson dadurch erleiden mag, daß seine öffentliche Amtsführung diskutiert wird; der Schaden, den das Ansehen solcher Personen dadurch nehmen kann, muß hinter dem öffentlichen Wohl zurücktreten, obgleich dieser Schaden bisweilen groß sein mag ...

Minderheitsvotum des Richters Black

Der gesetzliche Schutz gegen Ehrenkränkung öffentlicher Funktionäre bedeutet nichts weniger als die Bedrohung der Existenz jener Art von Presse, die ... genügend Mut hat, öffentliche Amtsträger zu kritisieren ... Verurteilungen dieser Art stehen dann allen Zeitungen oder Rundfunkstationen ins Haus, welche es wagen, Kritik an öffentlichen Funktionären zu üben ... Dieser Technik der Schikanierung und Bestrafung einer freien Presse wären, sobald sich gezeigt hat, daß sie durchführbar ist, keine Grenzen gesetzt ...

Nach meiner Meinung hat die Bundesverfassung diese tödliche Gefahr für die Presse auf dem einzigen Weg abgewehrt, der hiefür offen steht, wenn man die freie Presse nicht der Vernichtung überlassen will: die Bundesverfassung hat der Presse absolute Immunität garantiert für jegliche Kritik der Amtsführung öffentlicher Funktionäre ...

Meinungsfreiheit bedeutet als Minimum: daß die Bürger und die Presse die Freiheit haben, öffentliche Funktionäre und öffentliche Angelegenheiten straflos zu kritisieren ... Die Ausübung dieses Rechtes auf dem Weg über Ehrenbeleidigungsparographen bestrafen, heißt die öffentliche Diskussion dort beschränken oder verhindern, wo sie am allernötigsten ist. Diese Nation kann, so vermute ich, in Frieden leben ohne Ehrenbeleidigungsprozesse auf Grund der öffentlichen Diskussion der Amtsführung öffentlicher Funktionäre. Hingegen bezweifle ich, ob irgendein Land in Freiheit leben kann, dessen Bürger physischem oder finanziellem Schaden ausgesetzt sind, wenn sie ihre Regierung, deren Amtsführung, deren Amtsträger kritisieren.

Die repräsentative Demokratie hört in dem Augenblick zu existieren auf, in dem die öffentlichen Funktionäre ihrer Verantwortlichkeit gegenüber den Wählern, gleichviel auf welche Weise, sich entziehen; und dies geschieht, sobald die Bürger, gleichviel auf welche Weise, davon abgehalten werden können, mündlich, schriftlich oder durch Veröffentlichung ihre Meinung kundzutun über die öffentliche Amtsführung oder die öffentlichen Amtsträger. Das bedingungslose Recht, sich über öffentliche Dinge nach Belieben zu äußern, ist meines Erachtens die Minimalgarantie, welche die verfassungsgesetzlich verankerte Meinungsfreiheit darbietet.

Minderheitsvotum des Richters Goldberg

Nach meiner Meinung gewährt die verfassungsgesetzlich verankerte Meinungsfreiheit dem Bürger und der Presse das absolute und an keinerlei Bedingungen geknüpfte Privileg, öffentliche Amtsführung zu kritisieren, und zwar trotz dem Schaden, der aus exzessivem Mißbrauch dieses Rechts erfließen kann ...

Unserer Verfassung liegt die Theorie zugrunde, daß jeder Bürger seine Meinung sagen und jede Zeitung ihre Ansichten veröffentlichen kann, soweit es sich um Dinge von öffentlichem Interesse handelt, und daß Meinungsäußerungen oder Veröffentlichungen dieser Art nicht deshalb unterdrückt werden dürfen, weil jene, welche die Regierungskontrolle ausüben, solche Äußerungen oder Veröffentlichungen für dumm, ungerecht, falsch oder böswillig halten. In einer demokratischen Gesellschaft muß, wer an Stelle der Bürger in vollziehender, gesetzgebender oder richterlicher Funktion handelt, jedenfalls erwarten, daß seine öffentlichen Handlungen kommentiert und kritisiert werden. Solche Kritik darf, meines Erachtens, von den Gerichtshöfen nicht mit einem Maulkorb versehen werden, weil öffentliche Funktionäre dies unter der Etikette „Ehrenbeleidigung“ fordern ...

Ehrenbeleidigung, begangen an der Regierung, gibt es in unserer Verfassung nicht; dann aber gibt es auch keine Ehrenbeleidigung, begangen an den Regierenden ... Wollte man festsetzen, daß solche Kritik, sei sie auch falsch und sogar böswillig, vor Gericht verantwortet werden muß, so wäre dies die Wiederherstellung der längst außer Gebrauch gekommenen Doktrin, daß die Regierten die Regierenden nicht kritisieren dürfen ...

Daraus folgt nicht, daß die Verfassung ehrenkränkende Äußerungen schützt, die sich auf das private Verhalten öffentlicher Funktionäre oder privater Bürger beziehen ... Rein private Ehrenkränkung hat mit den politischen Zwecken einer Gesellschaft, die sich selbst regiert, sehr wenig zu tun. Die Festlegung von gerichtlicher Verantwortlichkeit für private Ehrenkränkung bedeutet keine Einschränkung des Rechtes auf öffentliche Meinungsäußerung ...

Hingegen wird die lebendige und kraftvolle, von der Presse und den Bürgern geübte Kritik der herrschenden Regierung bald zum Schweigen gebracht werden, wenn die Regierenden, statt auf solche Kritik zu antworten, sich an regierungsfromme Gerichte wenden können, um die Kritik ihrer öffentlichen Amtsführung zu unterbinden.

Daß die Verfassung dem Bürger und der Presse ein absolutes Privileg zur Kritik der öffentlichen Amtsführung gewährt, hat nicht zur Folge, daß der öffentliche Funktionär ohne Verteidigung gegen haltlose Behauptungen oder absichtliche Verdrehungen bleibt. Unter unserem Regierungssystem sind Gegenargumente und Erziehung die Waffen zur Aufdeckung solchen Mißbrauchs, nicht hingegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit ... Der öffentliche Funktionär hat überdies ganz gewiß den gleichen, wenn nicht weit besseren Zugang zu den Massenkommunikationsmitteln als die meisten übrigen Staatsbürger.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1964
, Seite 249
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Supreme Court of the United States:

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