FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1971 » No. 205/206
Lucio Magri

Räte in Italien

I. Antiquierte Räte?

Eine neue theoretische Reflektion des Räte-Themas wurde gefordert: Dieser Vorschlag hat bei den traditionellen politischen Kräften Skandal verursacht; wir wurden sofort als scholastische Wiederentdecker historisch überholter Erfahrungen katalogisiert, als Extremisten, die zum Angriff auf das allgemeine Wahlrecht blasen und plumpe Schemata des Klassenkampfes vorschlagen. Die „Prawda“, die sich nicht um Subtilitäten schert, hat uns vorgeworfen:

... dem zähen politischen Alltagskampf, dem Klassenkampf in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die revisionistische und zugleich anarchistische und extremistische Idee entgegenzustellen, die Macht im Produktionsbereich zu erobern, wofür es ratsam ist, die Aktivität der Partei und der Gewerkschaften in den Betrieben aufzugeben und alle Kraft auf die Schaffung sogenannter Arbeiterräte zu richten.

Im Zentralkomitee der PCI vom Oktober 1970 wurde die — erstaunlich ähnliche — Kritik auf eine immerhin etwas einsthaftere Weise vorgebracht:

  1. aß die Rätedemokratie (oder Sowjetdemokratie) eine jetzt historisch nicht mehr vorschlagbare Erfahrung darstellt, sei es, weil sie einer Gesellschaft, die so komplex ist wie die westliche, nicht angemessen ist, sei es, weil sie durch die späteren strategischen Arbeiten von Gramsci und von Togliatti absorbiert und überwunden ist;
  2. daß sie die ganze Thematik der gesellschaftlichen Allianzen und der politischen Superstruktur liquidiert, um auf ein fatal verkürztes Schema des Kampfes „Klasse gegen Klasse“ zurückzulenken;
  3. daß sie dazu bestimmt ist, eine autoritäre und repressive Struktur der revolutionären Gewalt hervorzubringen und damit das Ziel zu verfehlen, dem sie dienen soll.

Gut, wir behaupten gerade das Gegenteil. Wir meinen:

  1. daß die Rätethematik ein permanentes Element der marxistischen Revolutionstheorie ist;
  2. daß sie sich bisher niemals — weder theoretisch noch praktisch — voll entfaltet hat, weil sie angesichts der Epoche oder der Länder, in denen sie bisher Gestalt annahm, unausgereift war;
  3. daß sie in der Strategie der westlichen kommunistischen Parteien weder übernommen noch vermittelt, sondern schlicht unterdrückt worden ist;
  4. daß nur ihre Wiederaufnahme möglich macht, ernsthaft die Probleme der Schaffung eines historisch revolutionären Blocks in Angriff zu nehmen, die Macht im Westen zu erobern und dieser Macht die Eigenschaft eines „absterbenden Staates“ zu geben.

II. Die Massen entdecken die direkte Demokratie

In den letzten Jahren haben nicht wir die ‚‚Rätethematik“ wiedererfunden oder wiederentdeckt; wiedererfunden und wiederentdeckt wurde sie durch die Massen. In vielfältigen Kämpfen entwickelten sie eine Kritik an der parlamentarischen und repräsentativen Demokratie sowie an den politischen und gewerkschaftlichen Organisationen.

Die neuen Kampfmodelle sind durch demokratische Führung, Konzentration in den vitalen Produktionszentren und Massenbeteiligung charakterisiert, d.h. genau durch die Elemente, aus denen zu anderen Zeiten die ersten Räteerfahrungen entstanden.

Die Studentenbewegung von 1968 und die der Arbeiter von 1969 in Italien oder der französische Mai stellten nicht nur etwas Neues dar wegen der Inhalte und Ausmaße der Kämpfe, sondern auch wegen ihrer Struktur: weil sie einheitliche politische Massenbewegungen waren, geführt von unten, eine Herausforderung für die bestehende institutionelle Ordnung.

Einige Kräfte der Linken, die so bürokratisiert sind, daß sie in diesen Erfahrungen eine unmittelbare Bedrohung sehen, zögerten nicht, gerade gegen die neuesten Aspekte der Bewegung eine Haltung einzunehmen, die nur Verdammung und Bekämpfung bedeutete. Das aufschlußreichste Beispiel bleibt das der KPF im Mai 1968.

Angesichts dieser Initiative der direkten Demokratie hat die italienische KP zum Beispiel die Haltung eingenommen, sie nicht nur zu tolerieren, sondern in bestimmten Grenzen auch zu begünstigen. „Die wirkliche Aufgabe“, sagte selbst Ingrao in seiner Rede gegen uns, „besteht darin, einen neuen Typ der Macht aufzubauen, in dem sich die Kraft der Bewegungen der Basis verflicht mit dem Aufbau großer Massenorganisationen, mit einer neuen Beziehung zwischen Kultur und emanzipatorischem Kampf, mit der Eroberung von Mehrheitspositionen der Arbeiterklasse in den politischen Organen, die sich auf das allgemeine Wahlrecht stützen.“

Man behauptet also, es gäbe keinen Widerspruch zwischen der bestehenden institutionellen Ordnung, dem Parlamentarismus, der bestehenden Gestalt der Arbeiterbewegung (Gewerkschaft, Partei) und dem revolutionären Prozeß. Die neuen von unten kommenden Bewegungen können und müssen dazu dienen, diese Ordnung demokratischer zu machen, die Parteien zu transformieren, die Beziehungen zwischen Gewerkschaft und Massen zu erweitern.

Wir indessen meinen, daß der „Widerspruch“ besteht. Daß die kapitalistische Gesellschaft eine wirkliche Transformation der Macht in entscheidenden Zentren nicht erträgt. Daß — im Gegenteil — die repräsentativen Institutionen nur insoweit zu überleben vermögen, als sie sich von wirklicher Macht entleeren oder als sie bereit sind, sich als rein systemfunktionale Vermittlungsinstrumente zu verhalten. Und daß also die Entwicklung der neuen Machtbeziehungen in den Betrieben oder Schulen oder im Staatsapparat dazu dient, nicht mehr „vermittelbare“ Spannungen zu schaffen, die Neutralität der repräsentativen Institutionen zu entmystifizieren, eine allgemeine Krise des Staates und der Gesellschaft zu eröffnen.

Tatsächlich ist die Partei sich dessen bewußt. So fügte Ingrao in derselben Rede sofort hinzu: „Wir betrachten das nicht als eine Summe, sondern im Sinne einer Dialektik: in dem Sinne, daß ein Wachstum der Bewegungen von unten der Klassengewerkschaft und den lokalen gewählten Organen die Eroberung der Interventionshebel auf bestimmten gesellschaftlichen Ebenen erleichtert.“

Also eine Dialektik als Einbahnstraße. In dem Sinne, daß die Bewegungen von unten so gedacht und geführt werden sollen, daß sie im bestehenden institutionellen Rahmen effektiv „vermittelbar“ sind: Die neuen betrieblichen Organe sollen Transmissionsorgane zwischen Gewerkschaft und Arbeitermasse sein, sollen sich also innerhalb der Logik des Verhandelns von Verträgen bewegen. Die Studentenbewegung soll sich ihrer institutionellen Aufgabe einer Bewegung für die demokratische Reform der Schule zuwenden. Die Ziele jedes Kampfes sollen auch innerhalb des bestehenden Systems rational sein und etwas einbringen.

Hier liegt der wirkliche Streitpunkt. Wenn wir wieder eine Reflektion über die Rätethematik vorschlagen, dann meinen wir damit gerade: Ist es notwendig, für die Schaffung von einheitlichen Massenbewegungen zu arbeiten — mit Kampfzielen, die unmittelbar die kapitalistische Macht in Frage stellen, mit eigenen und autonomen Formen der Organisation? Ist es notwendig, in diesen Erfahrungen etwas zu sehen, was über den Druck der Basis zur Wiederbelebung der bestehenden Institutionen hinausgeht, das heißt in ihnen den Ort der Bildung eines neuen historischen revolutionären Blocks, Zellen einer neuen Staatsmacht zu sehen?

III. Die Räte wurden abgewürgt

Diese Fragen sind es, denen die kommunistische Führungsgruppe nicht bereit ist sich zu stellen. Diese Thematik ist es, die ihr als der tote Buchstabe einer zurückliegenden Tradition erscheint, während sie im selben Augenblick, vielleicht ohne sich dessen bewußt zu sein, die gleichfalls „veralteten“ Formulierungen Kautskys paraphrasiert.

Und sie hat gute Gründe dazu: denn all das würde eine tiefgehende Korrektur von Theorie und Praxis des „italienischen Weges zum Sozialismus“ implizieren, das Wieder-zur-Diskussion-Stellen einer Strategie, die das Problem der Revolution als „qualitativen Sprung“ unterdrückt oder es auf den Moment verschiebt, in dem die staatliche Macht von einer Partei erreicht wird, die das „Ideal“ einer radikal verschiedenen Gesellschaft in sich aufbewahrt hat, obwohl sie sich bis dahin „im Inneren des Systems“ bewegte.

Wenn wir nun über die theoretische Diskussion hinaus die realen historischen Erfahrungen betrachten, erscheint dieses Faktum noch offensichtlicher. Die Räteerfahrungen der zwanziger Jahre wurden eingegrenzt und schnell erstickt sowohl da, wo die Revolution niedergeschlagen wurde, als auch da, wo es ihr gelang, sich die Macht zu erhalten. Und in allen Fällen war der eigentliche Grund dieses Scheiterns verbunden mit der Unreife des revolutionären Prozesses.

Kann man mit einigem Ernst behaupten, die Rätethematik sei gebunden an eine besondere, zurückliegende historische Phase der Arbeiterbewegung, sie sei ein nebensächliches Element der marxistischen Revolutionstheorie?

Womit das ewige Argument sozialdemokratischer Polemik übernommen wird, daß in den Fundamenten des Leninismus — in dem Bruch, den die Räte mit der bürgerlichen Demokratie vollzogen — die Wurzel aller folgenden Schwierigkeiten der Weltrevolution liegt.

Oder ist nicht vielmehr das Gegenteil wahr: daß die Rätethematik allein in der Lage ist, die Kernpunkte der marxistischen Revolutionstheorie jenseits der Alternative von Reformismus oder Jakobinismus anzugehen?

Seit dem 7. Kongreß der Internationale unterdrückte in den dreißiger Jahren die Strategie der Volksfront die Thematik der Räte als der entscheidenden Institution des revolutionären Prozesses. Man übte Selbstkritik, um einerseits den Kampf um unmittelbar zu erfüllende Forderungen, andererseits die politisch-parlamentarische Dimension zu entdecken. Zwar hörte man zumindest bis zur zweiten Nachkriegszeit nicht auf, die Hypothese einer kommenden Sowjetrevolution zu überlegen — aber in der stalinistischen Epoche hatte dieser Begriff eine völlig andere Bedeutung: die Sowjets wurden konzipiert als „Massenorganisation“, als Transmissionsriemen der Partei, in der gleichen Art wie die Gewerkschaften oder die Frauenorganisationen.

Der „revolutionäre Sprung“ wurde nicht nur dauernd verschoben auf eine Zukunft mit ungewissen Konturen, sondern er reduzierte sich letztlich auf die Eroberung der staatlichen Macht durch die Partei.

IV. Räte und Parlamentarismus

Nun, vielleicht war das die einzige mögliche Strategie in einer defensiven Phase des Klassenkampfes, als die Verteidigung des ersten sozialistischen Staates das Hauptproblem war und die Formen der Führung dieses Staates keinen realen Spielraum für die Probleme der „direkten Demokratie“ erlaubten. Aber man sollte sich zumindest des Preises bewußt sein, der hier bezahlt wurde, das heißt der Tatsache, daß in dieser Strategie die Untersuchung des Problems einer sozialistischen Revolution im Westen tatsächlich beiseite geschoben wurde.

Und es ist in der Tat kein Zufall: jedesmal wenn die Volksfrontpolitik vor der Notwendigkeit stand, eine offensive Phase des Klassenkampfes einzuleiten, erlitt sie schnelle und desillusionierende Niederlagen. Im Zentrum dieser Niederlagen stand immer der Widerspruch zwischen der politisch-sozialen Krise, die sich überstürzte, und der Leerstelle einer realen Alternative auf der Ebene der Massen, die in der Lage gewesen wäre, die Herausforderung des Systems durchzustehen. Daher die Zerbrechlichkeit und Isolierung der politisch-parlamentarischen Koalitionen, die zunächst mächtig erschienen und dann, im Augenblick der Wahrheit, kläglich scheiterten.

Als Reaktion auf diese Leerstelle, mit der das Eingeständnis der Niederlage umgangen werden konnte, bot sich nur die illusionäre Alternative eines Wendepunktes, von der von außen kommenden bewaffneten Macht unterstützt. Es ist deshalb kein Zufall, daß sich die Volksfrontstrategie im Bewußtsein der Massen verband mit dem messianischen Vertrauen in die UdSSR als dem Element von außerhalb, ohne das der revolutionäre Sprung schwer denkbar war.

Nach dem Krieg entwickelten sich in Italien Institutionen neuen Typs: die Komitees zur nationalen Befreiung; die Betriebsräte mit weitgehender De-facto-Macht; die Landkomitees im Süden. Es handelte sich nicht um reine Produkte eines bestimmten Teils politischer Gruppierungen noch um reine Klasseninstitutionen: sondern um politische und soziale Einheitsorgane.

Niemals, nicht einmal für einen Moment, dachten die KPI oder die anderen Linksparteien daran, die Entwicklung dieser Erfahrungen voranzutreiben, um die Alternative zwischen dem Aufstand (wie in Griechenland) und der schlichten Wiederherstellung der parlamentarischen Legalität zu vermeiden. Die Arbeiterorgane im Betrieb wurden entweder zu Instrumenten der Zusammenarbeit zwischen den Klassen für den „Wiederaufbau“ oder zu Instrumenten der Unterstützung der Partei; die Komitees zur nationalen Befreiung wurden ohne weitere Umstände auf dem Altar der Koalitionsregierung geopfert.

Und das alles nicht nur wegen der Vorsicht, die von den internationalen Machtverhältnissen bestimmt wurde, sondern in der Überzeugung, daß die Bourgeoisie, einmal festgenagelt im Bereich der parlamentarischen Institutionen, nicht in der Lage sein würde, die eigene Macht wiederherzustellen, und daß es im übrigen für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ausreicht, daß die Partei die Vorherrschaft über den repräsentativen Staat erringt.

Diese Entscheidung führte nicht nur zu einer historischen Niederlage, deren Folgen wir jetzt noch bezahlen, sondern hat die neuesten und fruchtbarsten Elemente der kommunistischen Strategie ausgehöhlt.

Das Konzept des historischen Blocks ist bis jetzt im Grunde unwirksam geblieben: die sozialen Bündnisse des Proletariats wurden als Konvergenzen verletzter Interessen und deshalb im allgemeinen mit heterogenen Kräften gebildet, von denen einige konservativ sind, an Stelle einer antikapitalistischen Interesseneinheit im Verlauf eines kohärenten politischen Kampfes. Die politischen Konvergenzen nahmen den Charakter eines Dialogs zwischen den bestehenden Organisationen an, die sich immer mehr mit der Macht verflochten und immer mehr bürokratisierten, statt über ihre immerwährende Neubildung und Neustrukturierung im Kontakt mit dem Massenkampf zu entstehen.

So ist die „Strategie der Reformen“ auf dem Papier geblieben: sie reduzierte sich auf eine Reihe von Bewegungen auf der institutionellen Ebene gegen das Überleben archaischer Bereiche in der Ökonomie und sozialen Struktur. Niemals gelang es, eine organisierte Massenbewegung zu schaffen noch eine Strategie des Angriffs auf das System.

Schließlich hat sich die „neue Partei“ in Wirklichkeit zur Addition zweier Parteien entwickelt — eine militante, stark zentralisierte Avantgarde und eine kaum politisierte und kaum teilnehmende Masse —, was in sich eine Beziehung der repräsentativen Demokratie wiederholt.

V. Räte und reifer Kapitalismus

Entscheidend ist die Frage, ob die Entwicklung des modernen Kapitalismus mit den neuen Charakteristika, die er in der Gesellschaft hervorbringt, eine Auf- oder Abwertung bedeutet für die Rätethematik.

Gerade die komplexe Schichtung der Gesellschaft des fortgeschrittenen Kapitalismus, das wachsende Gewicht der ökonomisch privilegierten Mittelschichten, die extreme Vielfalt der Einkommen und des sozialen Orts im Innern derselben lohnabhängigen Masse machen eine parlamentarische Lösung schwierig. Auf der Ebene unmittelbarer Forderungen sind alle diese Interessen nur schwer untereinander zu vereinbaren, und noch weniger sind sie in einem kohärenten Programm der gesellschaftlichen Entwicklung zu vereinbaren. Daher die offenbare Tendenz zur Vervielfältigung korporativer Pressionen, deren sich die politischen Parteien einerseits zu bedienen versuchen, durch die sie aber andererseits fortwährend erpreßt werden.

Ist es also möglich, einen Block revolutionärer gesellschaftlicher Kräfte zu schaffen, wenn nicht die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen über eine politische Massenerfahrung und eine unmittelbare Beteiligung den Horizont der Forderungen überschreiten und miteinander zu vereinende politisch-soziale Subjekte werden?

Oder ist es nicht vielmehr wahr, daß gerade wegen des Fehlens dieses Elements, wegen der bestehenden Leere zwischen gewerkschaftlichem Kampf und politischer Sythese der „historische Block“ fortwährend oszilliert zwischen einem Pulk sich ausschließender Interessen und einer rein „idealen“ Synthese?

In allen Ländern des Westens stürzt das repräsentative System in eine radikale Krise: die Wahlen sind symbolische Riten, die dem Wähler die formale Wahl überlassen zwischen Kandidatenlisten und Programmen, auf die er keinen Einfluß hat, die sich untereinander ähneln und von denen jeder weiß, daß sie nichts zu bedeuten haben. Die Parlamente haben nirgendwo reale Macht, und hätten sie welche, sind sie doch paralysiert durch ein auszehrendes Spiel der Gleichgewichte. Die lokalen Wahlorgane sind vollkommen verändert durch einen Mechanismus der Gesellschaftsentwicklung, der sie überholt und überragt.

Diese Krise wird überall flankiert von einem neuen Totalitarismus, der verbunden ist mit der Konzentration der wirtschaftlichen Macht, mit den Erfordernissen einer Technologie, die das System programmiert, mit den ideologischen Entscheidungen, die die Massenmedien auferlegen, mit den Fesseln der internationalen Integration.

Das kommt nicht „trotz“ des allgemeinen Wahlrechts zustande, sondern ist Erscheinungsform und Konsequenz eines institutionellen Systems, dessen Wesen die Trennung ist des Politischen vom Gesellschaftlichen, die Isolierung des Individuums in der abstrakten Figur des Staatsbürgers.

Welchen Sinn hat es, in diesem politischen System den Gegenpol zum Totalitarismus zu sehen, während es doch dessen Bedingung und Garantie ist?

VI. Räte und Parteien

Die Partei oder der Block mehrerer Parteien — ist der Deus ex machina, der es ermöglichen soll, eine Gesamtheit widersprüchlicher Interessen in einen kohärenten historischen Block zu transformieren und zu vermitteln; die Partei ist es, die der repräsentativen Demokratie eine reale Bedeutung geben soll.

Im ganzen Westen hat sich das Gewicht, die bestimmende Kraft der großen Parteien Schritt um Schritt vergrößert, sie okkupieren große Teile der Machtpositionen in der Gesellschaft und teilen sich die Beute des Staates. Aber ihr Wachstum ist verbunden mit einem Prozeß der Bürokratisierung, mit ihrer Transformation in Gruppen- und Wahlmaschinen, die sich immer mehr von einem präzisen Inhalt an Vorstellungen, von klaren Klassenbegriffen entleeren. Sie werden so immer mehr zu Apparaten der Programmierung eines sozialen Mechanismus, den sie weder modifizieren wollen noch modifizieren können.

Ist die Wurzel all dessen nicht gerade die Leere, die sich auftat zwischen einem nur auf Forderungen beschränkten sozialen Kampf und einem politischen Kampf, der es hinnimmt, sich in der Abstraktheit und Allgemeinheit parlamentarischer Dialektik zu bewegen, um dann zur reinen Logik der Macht zu pervertieren?

VII. Räte und sozialer Kampf

Tatsache ist, daß die Revolution im Westen nicht stattfinden wird, wenn nicht in der Gesellschaft eine reale Alternative zum kapitalistischen System — als Weise des Produzierens, des Konsumierens, des Denkens — fortschreitend Gestalt gewinnen wird; eine Alternative, die in ihren positiven Inhalten definiert ist, das heißt als Programm der Transformation der Gesellschaft, als Machtblock, der in der Lage ist, es auszuführen.

Die sozialistischen Revolutionen, die wir bis heute kennen, haben unter völlig anderen Bedingungen stattgefunden: in weitgehend vorkapitalistischen Gesellschaften, deren Kapitalismus nicht in der Lage war, eine Entwicklungsperspektive anzubieten, und in denen deshalb eine revolutionäre Minderheit, die sich auf den Marxismus berief, aber vorwiegend Kräfte und Forderungen aktivierte, die noch weit entfernt von einer klaren proletarischen Qualifikation waren, die politische Macht eroberte und die Wirtschaft nach Eigentumsmodellen und mit Funktionsmechanismen organisierte, die noch ziemlich unausgereift waren — um das Hauptgewicht auf die Verfolgung von Zielen zu legen, die anderswo der Kapitalismus erreicht hatte oder dabei war, zu erreichen.

In diesen Ländern war die Revolution eher ein politisches als ein soziales Faktum; ihr Protagonist war eine ideologisch bewußte Avantgarde, ihr entscheidendes Instrument die Partei, ihr grundlegender Gesichtspunkt der Kampf um die staatliche Macht. Es ist kein Zufall, daß diese Art Revolution im Westen niemals stattfinden konnte. Hier hat das kapitalistische System nicht nur viele jener Ziele, die in den unterentwickelten Ländern die Triebfedern der modernen Revolutionen sind, schon erreicht; sondern über die konstante Entwicklung des Einkommens, die Vielfalt der Vermittlungsinstrumente, die internationalen Beziehungen der Ausbeutung ist es in der Lage, der Mehrheit irgendeine Möglichkeit des Überlebens und oft die partielle Lösung unmittelbarer Probleme anzubieten.

Die Revolution kann nicht entstehen aus der Auflösung des Systems; aus der Paralysierung der Produktion; sie kann nicht Ergebnis der Krise, der Verzweiflung, der elementaren Revolte sein. Sie kann sich nur als positive historische Alternative durchsetzen, als Vorschlag einer gesellschaftlichen Ordnung, die in der Lage ist, nicht nur mehr zu produzieren und besser zu verteilen, sondern auch auf andere Art andere Güter zu produzieren, um eine andere Art des menschlichen Zusammenlebens zu ermöglichen.

Die Überwindung des Kapitalismus als gesellschaftliche Produktionsweise (die Kritik der entfremdeten Arbeit, der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, des individualistischen Konsummodells, des Staates) muß real in dem Moment beginnen, in dem die Revolution stattfindet. Alles in allem muß also die Revolution dahin kommen, vor allem ein sozialer Prozeß zu sein.

Die notwendige Bedingung dieser Art von Revolution besteht im objektiven Reifegrad für den Sozialismus im Westen; also in der Tatsache (die für jede marxistische Analyse grundlegend ist), daß die kapitalistische Entwicklung die für den Übergang zu einer höheren Gesellschaft notwendigen Kräfte und Bedingungen schafft. Und es ist diese Prämisse, die heute anfängt, Wirklichkeit zu werden.

Wenn man aufmerksam die neuesten Kampfbewegungen, die den kapitalistischen Westen erschüttert haben, betrachtet, dann ist ihre neueste und grundlegendste Eigenschaft: das Problem der Revolution, die Systemkritik entstehen nicht mehr vorwiegend aus einer ideologischen Entscheidung, sondern aus der Dynamik des sozialen Kampfes, aus der Bewußtwerdung eines bestimmten Zustandes, aus der Entdeckung seiner Wurzeln, aus dem allgemeinen Bewußtsein, das daraus entsteht.

Alles das ist offensichtlich in dem Kampf der Arbeiter, der objektiv dahin tendiert, den Horizont der reinen Verhandlungen zu überschreiten, um im Betrieb die kapitalistische Macht in Frage zu stellen und um unmiittelbar die Wege der eigenen Vergesellschaftung zu suchen.

VIII. Räte und Sozialismus

Aber es ist die gleiche Realität des Systems und der Bewegung, die sich ihm zu widersetzen sucht, die uns erkennen läßt, wie diese objektive „Reife“ eines neuen gesellschaftlichen Systems im Westen in keiner Weise die Wiederaufnahme reformistischer oder evolutionistischer Konzeptionen des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus begründen kann. Mehr denn je erscheint stattdessen der Sozialismus als ein qualitativer Sprung, als eine Kritik und Umwälzung des unmittelbar gesellschaftlich Gegebenen.

Wegen seiner branchenüberschreitenden und internationalen Verbindungen ist das bestehende System ein sehr starres Kontinuum, das zeitlich und räumlich weit vorprogrammiert ist, unveränderlich gegenüber einzelnen Reformen oder partiellen Eroberungen, die nicht sein allgemeines Gleichgewicht in eine Krise versetzen.

Aber vor allem konditioniert das System immer stärker die produktiven Kräfte (Wissenschaft, Technik, Bedürfnisse, berufliche Fähigkeiten), was verhindert, daß sich im Inneren der bestehenden Gesellschaft eine reale Alternative bildet, das heißt Vorstellungen, Kräfte, Hilfsquellen, Fähigkeiten der Leitung, die, wenn sie einmal von der Konditionierung durch die bestehenden rechtlichen Ordnungen befreit sind, sich organisch nach einem neuen Mechanismus organisieren könnten.

Der Sozialismus ist nicht die neue Gesellschaft, die im Inneren der alten entsteht (wie es bei der bürgerlichen geschah): er ist eine mögliche Alternative, die real nur mit einem dialektischen Sprung werden kann, mit der Umwälzung und Infragestellung des ganzen gesellschaftlichen Universums. Der Bildungsprozeß eines alternativen historischen Blocks stellt sich nicht dar als Selbstbehauptung einer gegebenen gesellschaftlichen Wirklichkeit gegen ein sie fesselndes System, sondern als Infragestellung dieser Wirklichkeit in jedem Bereich, als Entwicklung einer dialektischen Polarität im Innern eines ambivalenten und widersprüchlichen produktiven Universums.

Zum Beispiel überschreitet der Kampf der Arbeiter den gewerkschaftlichen Rahmen nicht, um die Leitung des kapitalistischen Unternehmens durch Arbeiter zu fordern: sondern um die kapitalistische Arbeitsorganisation, eine am Ausbeutungsprinzip orientierte Technologie, die hierarchische Struktur des Unternehmens, die vom Profit und vom Markt bestimmte gesellschaftliche Arbeitsteilung in Frage zu stellen.

Der Kampf der Studenten will weder die Effizienz der Ausbildung wiederherstellen, noch will er allein das Klassenmonopol beim Recht auf das Studium kritisieren, sondern er stellt die Inhalte der bürgerlichen Kultur in Frage, das heißt der Kultur als Quelle des sozialen Privilegs und der mit ihr verbundenen Arbeitsteilung.

Wenn sich also nicht in jedem Bereich der Gesellschaft ein politischer Massenkampf, eine permanente und organisierte Bewegung entwickelt, durch die die Arbeiterklasse und ihre Bündnispartner aus ihrer eigenen gesellschaftlichen Unmittelbarkeit herauskommen, eine dauernde Alternative der Macht schaffen, ein System von Bündnissen realisieren, ein alternatives Model erarbeiten, dann ist die Revolution nicht möglich. Der Kern der westlichen Revolution besteht in der Schaffung einer einheitlichen, antikapitalistischen und politischen Massenbewegung, die das System auf der Ebene seiner sozialen Strukturen angreift: in den Fabriken, den Schulen, der Stadt, den Berufen usw.

Die traditionelle Strategie, die mit politisch-ideologischem Verbalradikalismus eine Kampfbewegung übertüncht, die in ihren Inhalten systemimmanent, graduell und auf Forderungen beschränkt bleibt, wird immer unfähig sein, eine allgemeine Krise des Systems heraufzubeschwören, und noch unfähiger, für die Krise eine positive Lösung anzubieten.

IX. Räte als Massenbewegung

Daher die neue, volle Bedeutung der Rätethematik. Wie können diese politischen Massenbewegungen wachsen und sich stabilisieren? Gerade wegen des von uns Gesagten kann die Bewegung nicht ewig in einem formlosen, spontanen Zustand verbleiben.

Kann die Gewerkschaft diese Aufgabe übernehmen, ohne sich selbst aufzugeben oder vielmehr ohne dauernd die Logik des Bewegungsprozesses zu unterdrücken, indem sie sie dauernd in einen Verhandlungsrahmen zurückholt? Kann es die Partei, ohne sofort die Einheit der Bewegung zu zerstören, sie für den eigenen Kampf um die Macht zu benutzen und also ihren Reichtum und ihre Selbständigkeit zu kompromittieren?

Die Erfahrung hat schon das Gegenteil bewiesen. Das Bestreben, im betrieblichen Kampf alles auf die gewerkschaftliche Führung zurückzulenken, ist schon jetzt dabei, die Tendenz des Arbeiterkampfes zur Politisierung und Verallgemeinerung abzutöten.

Die einzige Lösung für dieses Problem, das für die westliche Revolution zentral ist, scheint uns in den Räten zu liegen: in der selbständigen Strukturierung der Massenbewegung, die sich eine eigene Organisation, eigene Institutionen gibt: die Räte, als Organe unmittelbarer Demokratie, kontrolliert von unten, Ausdruck der Gesamtheit der kämpfenden Masse und deshalb einer sozial homogenen Gruppe.

X. Räte als Gegenmacht

Offensichtlich bieten sich heute die so konzipierten und gerechtfertigten Räte nicht als schlichte Neuauflage vergangener Theorien und Erfahrungen an.

Einerseits erscheinen sie merklich verschieden von dem, was sie im Denken Lenins und vor allem in der Praxis der russischen Revolution waren, den Sowjets. Die Sowjets waren in der Tat vor allem politische Organe des Kampfes um die Staatsmacht in einem Moment, in dem die Gesellschaft in akuter Krise war: Weder wollten sie sein, noch waren sie Instrumente der Schaffung einer Massenbewegung, die in einem bestimmten Bereich des sozialen Lebens Schritt für Schritt eine Kritik der bestehenden Struktur erarbeitete und sich in die Lage versetzte, für sie eine Alternative zu schaffen und zu beherrschen. Als die Sowjets nach der Revolution dieses hätten werden müssen — Führungsorgane der sozialistischen Gesellschaft, wirkliche Basiszellen der neuen Staatsmacht —, da gerieten sie in Krise.

Statt dessen müssen die Räte, wie sie die westliche Revolution heute erfordert, sich von Anfang an als Instrument des Wachstums einer gesellschaftlichen Gegenmacht konzipieren, als Organe der Erarbeitung von alternativen Inhalten und Lösungen, als Instrumente zur Herausbildung neuer Leitungsfähigkeiten.

Aus dem entgegengesetzten Grund erscheinen sie aber auch merklich verschieden von den Arbeiterräten des „Ordine Nuovo“. Gramsci gab den Räten die Aufgabe, im Gegensatz zum bestehenden Staat die soziale Vorherrschaft der Arbeiterklasse zu stärken und zu behaupten. Aber er gründete diese Hypothese auf die Tatsache, daß sich nunmehr die Arbeiterklasse als „produktive“ Klasse der Kapitalistenklasse, die inzwischen auf eine parasitäre und gesellschaftlich überflüssige Funktion reduziert sei, entgegenstelle. Die Arbeiterräte sollten genau diese von den Arbeitern interpretierte Positivität und Fülle der produktiven Kräfte ausdrücken: dieses „Bewußtsein der Produzenten“: sie tendierten deshalb fatal zu einer Konzeption der Selbstverwaltung, die das Problem der staatlichen Macht, des politischen Kampfes, des revolutionären Bruchs zur Zweitrangigkeit verurteilte.

Die Räte als Organe einer antikapitalistischen Massenbewegung müssen heute im Gegenteil gerade von der Kritik und der Bekämpfung des „Bewußtseins der Produzenten“ ausgehen, nicht „die Fabrik und die gegenwärtige gesellschaftliche Arbeitsteilung“ ausdrücken, sondern die Klassenkritik an der Fabrik und an der gegenwärtigen gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Ihre Perspektive ist nicht die Selbstverwaltung der bestehenden ökonomisch-sozialen Struktur, denn diese Struktur ist nicht selbst zu verwalten; sondern die Zerschlagung dieser Struktur und Ersetzung durch andere Strukturen.

Aus diesen Gründen sind sie nicht Ausnahmeinstrumente zur Übernahme der Macht, sondern permanente Organe zur Schaffung einer Alternativgesellschaft.

Es geht um eine Massenbewegung, die die kapitalistische produktive Macht und Organisation an ihren Wurzeln bekämpft. Eine Bewegung, die nicht die bestmögliche Lösung jedes Problems auf Grund der vom System vorgegebenen Gesamtdaten sucht, sondern statt dessen, ausgehend von den konkreten Forderungen einer gesellschaftlichen Gruppe, das System selbst in Frage stellt, einen für die Gesellschaft fatalen Zustand der wachsenden Krise herstellt.

Es ist nicht wahr, daß die Gesellschaft besser funktioniert, mehr produziert usw., wenn die kapitalistische Macht im Betrieb oder der selektive Charakter der Schule in Frage gestellt wird. Keine Gesellschaft kann sich in einer Situation des realen Widerspruchs zwischen den sie beherrschenden Prinzipien entwickeln. In einer Situation der allgemeinen Krise des Systems löst sich der ganze institutionelle Apparat auf:

  • die Repressionsmittel und die bürokratische Struktur manifestieren ohne weitere Verschleierung ihre reale Abhängigkeit von der realen Macht (der Klassenherrschaft) und nicht von der formalen Macht (dem allgemeinen Wahlrecht);
  • die politischen Gruppierungen sehen sich grundlegenden Entscheidungen gegenüber, die ihre klassenpluralistischen Widersprüche aufbrechen.

Die Mechanismen der Wahlen und die parlamentarischen Gleichgewichte sind unter diesen Umständen niemals autonome Elemente, die entscheiden. Sie ratifizieren nur ein Machtverhältnis, das sich schon in der Gesellschaft hergestellt hat, das Resultat einer Partie, die schon mit anderen Instrumenten gespielt ist.

Der französische Mai hätte uns lehren müssen, wie naiv die Hoffnung ist, eine akute Krise zu schaffen, sie aber nicht bis zu Ende zu führen und die Lösung der Wahlkonfrontation zu überlassen: das einzige Ergebnis, das sich daraus ergab, war der konservative Rückschlag.

XI. Räte und Wahlen

Schon in dieser Richtung ist klar, daß es einen Antagonismus zwischen einer antikapitalistischen Massenbewegung und traditionellen repräsentativen Institutionen gibt: wenn man die Karte der Systembekämpfung bis zum Ende ausreizt, wenn man auf die revolutionäre Krise hinarbeitet, dann müssen andere und weniger mystifizierte Formen der politischen Mitbestimmung und der Organisation des allgemeinen Wahlrechts geschaffen und zur Vorherrschaft gebracht werden. Die Entscheidung fällt nicht notwendigerweise zwischen allgemeinem Wahlrecht oder beschränktem Wahlrecht oder gewaltsamer Diktatur: es ist die zwischen der einen oder anderen Form des allgemeinen Wahlrechts. Wie wählt man, um welche Organe zu wählen, die wie kontrolliert werden, um welche Macht auszuüben?

XII. Räte und Demokratie

Aber hier gibt es noch einen tieferliegenden Grund, der dazu zwingt, die Räte als Organe eines neuen sich bildenden Staates zu konzipieren: die Tatsache, daß ohne eine neue staatliche Struktur diesen Typs die sozialistische Gesellschaft fatal zum Totalitarismus neigt. In einer sozialistischen Gesellschaft ist eine politische Macht, die in den Formen der repräsentativen Demokratie organisiert ist (Wahlen einmal alle soundso viele Jahre auf der Grundlage allgemeiner Programme, das isolierte Individuum als politisches Subjekt, formale Konzentration der Macht in einer repräsentativen Körperschaft), dazu verurteilt, noch mystifizierter und mystifizierend zu sein als in einer kapitalistischen Gesellschaft.

Alle wirklichen Entscheidungen, vor allem die Programmierung des ökonomischen Plans, werden dem Wähler wie dem Parlament entgehen: beide sind unfähig und unvorbereitet, sie zustande zu bringen. Die wirkliche Macht wird von einer zentralisierten Struktur, von einer aufgeklärten Minderheit übernommen werden: der herrschenden Partei (oder den Parteien) und der Technokratie. Hinter dem Schleier der Volkssouveränität, der Wahlen, des Parlaments werden alle gesellschaftlichen Kollektive reduziert zu beratenden Instrumenten oder Transmissionsriemen des Willens einer Minderheit.

Sicher, wenn man sagt, die Räte müßten Organe eines neuen, sich bildenden Staates werden, dann benutzt man bewußt eine unzureichende und widersprüchliche Definition. Sie sind mehr, das heißt Organe und Instrumente einer Klasse, die tendenziell nicht die eigene Herrschaft behauptet, sondern sich selbst und jede Form der Herrschaft abschafft; sie sind weniger, denn bis zu dem Augenblick, in dem eine unmittelbare gesellschaftliche Leitung uneingeschränkt möglich ist, kann von seiten der Räte eine Delegierung an eine abgetrennte und darüberstehende politische Macht nicht vermieden werden.

Solange es noch eine staatliche politische Macht geben wird, werden die Räte sie nicht vollständig in sich aufsaugen und aufnehmen können; wenn sie statt dessen unmittelbar und vollständig die Führung der Gesellschaft übernehmen können, werden sie keine staatlichen Organe mehr sein, weil es den Staat nicht mehr geben wird.

Sicher, eine politische Konstitution, die in den Räten die eigene fundamentale Zelle besitzt, ist nicht klassenneutral: sie privilegiert die politische Macht derjenigen, deren gesellschaftliche Lage es erleichtert, sich an den Räten zu beteiligen, Vorkämpfer der Auseinandersetzung zu sein. Es ist eine „ungleiche“ Konstitution gegenüber der Bourgeoisie als Klasse. Aber kann man im Ernst behaupten, die repräsentative Demokratie sei gegenüber dem Proletariat als Klasse nicht ungleich?

XIII. Für eine autonome Rätebewegung

In Italien und im Westen haben sich in den letzten zwei Jahren einige einheitliche Massenbewegungen entwickelt, die die traditionelle Konstellation des gewerkschaftlichen und des politischen Kampfes tendenziell aufheben. Das heißt: Sie lehnen einen Massenkampf ab, der an den Grenzen der Aktion für Verhandlungen innehält oder der nur ein rein parlamentarisches, auf die Wahlen ausgerichtetes Ziel verfolgt. Es sind politische Bewegungen, die unmittelbar in der gesellschaftlichen Struktur deren allgemeines konstitutives Prinzip angreifen: die Klassenteilung und die Ausbeutung der Arbeit.

Es ist die gemeinsame Anstrengung der Linksparteien, diesen Druck auszunutzen, aber indem er in die traditionellen Kanäle zurückgelenkt wird.

Auch viele Minderheitengruppen, wenn nicht alle, verfolgen im Grunde den gleichen Weg: sie wollen die Krise, die sich zwischen Massenbewegung, Gewerkschaft und Partei aufgetan hat, einfach ausnutzen, um eine neue Gewerkschaft oder eine neue Partei ins Leben zu rufen.

Wir meinen statt dessen, daß diese Strategie an der Wurzel bekämpft werden muß. Die Massenbewegungen, die spontan angewachsen sind, bieten eine außerordentliche Gelegenheit, um die Strategie der westlichen Revolution neu zu formulieren. Sie können und müssen stabile und dauernde Form annehmen, sich in andere Bereiche der Gesellschaft ausdehnen, sich eine eigene Organisation geben, die eigene Einheit schaffen, als gesellschaftliche Alternative zum System wachsen.

Alles in allem ist also die Rätethematik nach unserer Meinung nicht nur eines der Elemente der gegenwärtigen Reflexion über die revolutionäre Strategie; sie ist der Schlüssel, der dazu zwingt, die gesamte revolutionäre Strategie zu überdenken, neue Analysen der kapitalistischen Gesellschaft aufzubereiten, neue Organisationsformen zu erproben.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1971
, Seite 1155
Autor/inn/en:

Lucio Magri:

Lucio Magri ist mit Rossana Rossanda Herausgeber der italienischen Zeitschrift „Il Manifesto“, die links von der KPI steht und, 1968 gegründet, rasch eine Auflage von mehr als 50.000 erreichte. Unterdessen gibt es eine gleichnamige politische Gruppierung, die in der italienischen Arbeiterbewegung zunehmende Bedeutung gewinnt.

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