FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 86
Tibor Hanák

Philosophie unter Kádár

Untersuchungen über die philosophische Aktivität in den kommunistischen Ländern werden oft mit der Bemerkung als überflüssig bezeichnet, daß die Philosophie in der deutschen Sowjetzone, in der Tschechoslowakei oder in Ungarn nur eine Lizenzausgabe der Sowjetphilosophie sei. Dabei wird nicht beachtet, daß diese Länder zumindest seit Stalins Tod ihre eigene Geschichte haben und über Persönlichkeiten verfügen, die ihrem Kulturleben — und damit auch ihrer Philosophie — eine eigene Prägung geben.

Während der Rákosi-Periode war die ungarische Philosophie tatsächlich bloß eine Übersetzung der Sowjetphilosophie. Im Jahre 1952 findet man z.B. unter 21 philosophischen Neuerscheinungen nur einen einzigen ungarischen Autor (Béla Fogarási), aber zwölf russische; ferner einen marxistischen Autor des übrigen kommunistischen Auslandes (Mao Tse-tung) sowie einen vormarxistischen Philosophen (Hegel); bei sechs Werken ist der Verfasser nicht genannt. Überdies stellen die meisten dieser Werke auch im östlich-marxistischen Sinn keine Facharbeiten dar und nur acht erreichen einen Umfang von mehr als hundert Seiten. [1]

1954 ist auch in der ungarischen Philosophie der Beginn eines Normalisierungsprozesses spürbar. Georg Lukács und sein Schüler Georg Nádor sind mit Werken vertreten, die später angegriffen werden. Das Fach bekommt einen nationalen Charakter, die Vergangenheit der ungarischen Philosophie wird nicht mehr so konsequent verschwiegen wie bisher. Dementsprechend treten die russischen Autoren zurück. Unter 36 philosophischen Neuerscheinungen sind 24 ungarische Verfasser zu verzeichnen, sechs russische, zwei marxistische Autoren des übrigen Auslandes, zwei vormarxistische und zwei Werke ohne Verfasserangabe. [2]

Im Jahr 1956 ist zwar keine organisatorische Umgestaltung der akademischen Philosophie zu verzeichnen und es erscheinen auch keine bedeutenden Forschungsarbeiten, aber die neue geistige Atmosphäre gibt den Philosophen bisher unbekannten Mut. Sie schlagen freilich einen entschieden mäßigeren Ton an als die Schriftsteller. Béla Fogarási, der 1959 verstorbene Vizepräsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, proklamiert in einer Rede über den XX. Parteikongreß der KPdSU die Parole „Näher zum Leben“, aber in dem darauffolgenden Satz identifiziert er das Leben mit dem „Aufbau des Sozialismus“. Lukács geht viel weiter. In der philosophischen Diskussion des Petöfi-Klubs (Sommer 1956) definiert er das „Prinzip der Parteilichkeit“ dahingehend, daß zwar die Ergebnisse der Wissenschaft die kommunistische Ideologie unterstützen, daß jedoch die Einwirkung der Ideologie auf die Forschung für diese tödlich sei. In seinem nächsten öffentlichen Vortrag, an der Politischen Akademie der Ungarischen Arbeiterpartei, wiederholt er seine — schon in dem Buch „Die Zerstörung der Vernunft“ angedeutete — These, daß der Gegensatz von Fortschritt und Reaktion zumindest in der Praxis und in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung an die Stelle des „abstrakten Gegensatzes von Kapitalismus und Sozialismus“ getreten sei.

Marxismus statt Philosophie

Dieser Satz, der dem westlichen Leser ziemlich nichtssagend scheint, wird damals als eine bedeutsame Erweiterung des kulturellen Horizonts interpretiert. Wenn nämlich die „fortschrittlichen“ und „friedliebenden“ Philosophen, Schriftsteller, Künstler nicht mehr mit den kommunistischen Philosophen, Schriftstellern und Künstlern identisch zu sein brauchen, so wird dadurch einer Reihe von Produkten des westlichen Geisteslebens der Zugang in die kommunistischen Länder geöffnet. Lukács selbst hat seine These nicht ganz so liberal verstanden wie seine Freunde damals und seine Gegner späterhin, nach der Niederwerfung der ungarischen Revolution. In einer Erklärung im „Szabad Nép“ vom 14. Oktober 1956 versichert er, daß im Philosophie-Unterricht von einem „vollkommen freien Wettbewerb der philosophischen Richtungen keine Rede sein kann“. Er fordert, daß die Bibliotheken „das Kennenlernen aller Richtungen der bürgerlichen Philosophie“ möglich machen sollen, verwirft jedoch die Übersetzung von westlichen Autoren, und „was den Philosophie-Unterricht betrifft, so muß er ohne Zweifel im marxistischen Geist vor sich gehen“.

Nach der verlorenen Revolution hat es zunächst den Anschein, als ob die Entwicklung dennoch weiterginge und, wo nicht das freie Denken, so doch die verhältnismäßig freie Interpretation sich durchsetzen würde. Dafür sprechen einige wichtige Ereignisse im Bereich der Philosophie. Am 1. Februar 1957 wird das Institut für Philosophie als Bestandteil der Akademie der Wissenschaften ins Leben gerufen. Nach beinahe zehnjähriger Pause erscheint wieder eine philosophische Zeitschrift, „Magyar Filozófiai Szemle“ (Ungarische Philosophische Rundschau). Seit 1957/58 sind Psychologie und Logik an der Universität Budapest wiederum Wahlfächer. Im Frühjahr 1957 wird ein Ausschuß für Psychologie an der Akademie gegründet. Man veröffentlicht wiederum die für ungarische Verhältnisse bedeutenden Werke von Georg Lukács, Georg Nádor und Ágnes Heller.

Auch der Geist der Kritik lebt zunächst weiter. Er richtet sich vor allem gegen den organisatorischen Rahmen der ungarischen Wissenschaft. Nach Mitteilungen des Vorsitzenden im Ausschuß für wissenschaftliche Qualifikation, Elemér Vadász, werden 1957 mehrere der in den Jahren 1949 und 1950 ausgeschlossenen Mitglieder der Akademie rehabilitiert, und man protestiert offiziell gegen die derzeitige — auf dem sowjetischen Vorbild beruhende — Form der Akademie. Die erste Nummer der „Ungarischen Philosophischen Rundschau“ spiegelt den Reformgeist der Philosophen. Es wird zwar der Kampf gegen den Revisionismus verkündet, doch greifen die Artikel der Zeitschrift eher den Dogmatismus an. Im Vorwort werden zwar die revisionistischen Ansichten verurteilt, doch heißt es darin auch: „Die marxistische Richtung unserer Zeitschrift schließt nicht aus, daß wir Diskussionsbeiträgen Raum geben, in denen andere Meinungen vertreten werden, welche der Sache des Sozialismus und des Friedens dienen.“ [3]

In der zweiten Nummer der Zeitschrift macht sich freilich schon ein Ruck nach Links bemerkbar. Die „Parteilichkeit der Philosophie“ wird wiederum stärker betont. Ganz allgemein beginnen die Orthodoxen im Sommer 1957 mit der Rückeroberung ihrer Position an den Universitäten. Daß dies nicht ohne Schwierigkeiten vor sich geht, zeigt eine Bemerkung der „Népszabadság“ vom 20. Juli 1957, die darauf hinweist, daß die Lehrbeauftragten des marxistisch-leninistischen Instituts in Szeged, welche während der Revolution vertrieben worden waren, noch immer nicht zum Unterricht zugelassen seien. Ein Beschluß der Parteileitung vom Juni 1957 zielt auf die Wiederherstellung der vorrevolutionären Lehrordnung an den Hochschulen: „Der Unterricht des Marxismus-Leninismus an den Universitäten und Hochschulen muß wieder obligatorisch gemacht werden.“ Dazu kommt die Wiedereinführung des Russisch-Unterrichtes. Kurz darauf wird ein Lehrplan für den ideologischen Unterricht veröffentlicht, in dem die marxistische Philosophie eine noch größere Stundenzahl zugebilligt erhält als in der Rákosi-Periode. Als Neuerung wird der Unterricht in Geschichte der Philosophie eingeführt. Dadurch kommen die Studenten zwar mit nichtmarxistischen philosophischen Systemen in Berührung, aber der Lehrplan läßt keinen Zweifel darüber, daß der dialektische Materialismus als Gipfel aller Systeme dargestellt werden muß.

Sittenlehre statt Logik

Der obligatorische Philosophie-Kursus an den Universitäten leidet unter dem Umstand, daß die Studenten ohne philosophische Vorkenntnisse sind. In den Mittelschulen wird nichts dergleichen gelehrt. Psychologie und Logik sind nur im Curriculum der Lehrerbildungsanstalten enthalten. Auf Grund der Beschwerden der Philosophieprofessoren, daß die Studenten die einfachsten Termini der Logik nicht kennen, sind Bestrebungen im Gange, den Unterricht der Logik an den allgemeinen Gymnasien wieder einzuführen. Dem ungarischen Kulturministerium ist es jedoch wichtiger, die weltanschauliche Bildung der Mittelschüler zu fördern. Die „neue sozialistische Sittenlehre“ wird 1958 probeweise an mehreren Mittelschulen eingeführt. Dem Vorsitzenden des Pädagogischen Institutes in Budapest, Sándor Nagy, zufolge, erhalten die Schüler der letzten zwei Klassen im Rahmen dieser sozialistischen Sittenlehre einen systematischen Unterricht in materialistischer Philosophie.

Ende 1957 beginnt die offene antirevisionistische Kampagne unter den Wissenschaftlern. Auf einer Großkundgebung der Akademie der Wissenschaften verkündet ihr Präsident, István Rusznyák, Professor der Chirurgie: „Begreiflicherweise wird die Akademie aus dem Verhalten der Akademie-Mitglieder während und nach der Konterrevolution die entsprechenden Konsequenzen ziehen.“ [4] Diese Bemerkung richtet sich vor allem gegen Georg Lukács und seinen Kreis, wie aus den folgenden Ereignissen ersichtlich wird. [5] Leiter des Angriffs auf Lukács ist dessen Schüler József Szigeti, damals stellvertretender Unterrichtsminister, heute Vorsitzender des Philosophischen Instituts. Er wirft Lukács in erster Linie vor, daß er die Theorie des Klassenkampfes nicht verstanden und „demokratische Illusionen“ verkündet habe. Lukács sei ein Vertreter der „ideologischen Koexistenz“ zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Weltauffassung. In Wahrheit hat gerade Lukács diese Koexistenz für unmöglich gehalten und den Kampf gegen die nicht-marxistischen Ansichten gefordert. Er wollte bloß die richtige Wahl der Kampfmittel und wies bürokratische sowie polizeiliche Eingriffe zurück: „Die bürgerliche Ideologie wird nicht von selber zusammenbrechen; die bürgerliche Philosophie, die bürgerliche Wirtschaft ist in eine ideelle Krise geraten, aber wir müssen sie stürzen; stürzen, aber nicht mit von der Roten Armee geliehenen Waffen, sondern mit den Waffen des Marxismus-Leninismus, des wahren Wissens und der Sachkenntnis.“ [6]

Wer Mut hat ...

Im folgenden Jahr 1958 wird Lukács von den führenden marxistischen Zeitschriften des In- und Auslands erneut angegriffen. Das ungarische Philosophische Institut kritisiert seine Tätigkeit und seine Ansichten in zwei Sitzungen (21. Oktober und 3. November 1958). Wir erfahren aus den Berichten über diese Diskussion, daß man Lukács seine „demobilisierende und pseudohumanistische Lehre“ vorhält und ihn einer „abstrakt-ideologischen, antimarxistischen Auffassung“ sowie eines „maßlosen Subjektivismus“ beschuldigt. Ob er sich verteidigt, ist den Berichten nicht zu entnehmen. Daß er nicht ohne Verteidigung bleibt, ergibt sich aus dem folgenden Satz: „Einheitliche Meinungsäußerung charakterisierte die Diskussion, ausgenommen den Beitrag István Hermanns, weicher den Mitarbeitern des Instituts gegenüber eine eigene Meinung in der Beurteilung der politischen und philosophischen Ansichten von Georg Lukács vertrat.“ [7]

Das von Lukács geleitete Institut an der Universität Budapest wurde, wie man hört, geschlossen. Seine Schüler haben seit Ende 1957 keine philosophisch-ideologischen Arbeiten veröffentlicht. Georg Nádor soll Bibliothekar in einer jüdischen Kirchengemeinde sein. Ágnes Heller wurde wegen ihrer „revisionistischen Ansichten in der Ethik“ kritisiert; ihre Lehre sei „eine Anwendung der antimarxistischen politischen Konzeption des Georg Lukács auf das Gebiet der Ethik.“ [8]

... ist kein Philosoph

Seit dem Ende des Jahres 1957 ist das philosophische Leben in Ungarn wieder recht ärmlich geworden. Wenn man die Bibliographien durchsieht, findet man unter dem Titel „Philosophie“ nur Lehrbücher, Skripten für die Parteiseminare und ideologische Artikelsammlungen, meist aus dem Russischen übersetzt. Es erscheinen jährlich höchstens ein bis zwei Bände in der „Klassiker-Reihe“. Die ungarischen Verfasser sind, wie zu Zeiten Rákosis, fast gänzlich verschwunden. Die Rezensionen in der „Ungarischen Philosophischen Rundschau“ befassen sich zwischen 1958 und 1960 (insgesamt 10 Nummern) mit 38 Werken, darunter nur drei von ungarischen Philosophen. Es sind dies ein Werk von Paul Sándor über die aristotelische Logik, die 4. Auflage der Logik von Béla Fogarási und eine Arbeit von Imre Bán über einen ungarischen Nachfolger von Descartes. Demgegenüber wurden insgesamt 19 Werke russischer Autoren besprochen, die in Ungarn nach der Revolution erschienen sind.

In der August-September-Nummer 1960 der ideologischen Zeitschrift „Tarsadalmi Szemle“ wurden die Thesen der philosophischen Arbeitsgemeinschaft der Partei „Über den gegenwärtigen Stand und die Aufgaben der philosophischen Front“ veröffentlicht, bezeichnenderweise unter dem Titel „Für Leninsche Parteilichkeit der Philosophie“. Statt einer Förderung des selbständigen Denkens sanktionieren diese Thesen alles, was nach der Revolution im Interesse der „ideologischen Einheit“, d.h. gegen die Revisionisten, unternommen wurde. Lukács und sein Kreis sowie Bála Fogarási („wegen Überbetonung der Gefahren des Dogmatismus und des Persönlichkeitskultes“) werden feierlich verdammt und die Philosophie wird den „Geboten des Parteidienstes“ unterstellt. Die Arbeitsgemeinschaft, spottend ihrer selbst, fordert „neue philosophische Werke von höherem Niveau, neue philosophische Diskussionen und neuen wissenschaftlichen Mut“.

Was den Mut betrifft, steht es mit der ungarischen Philosophie so, daß jene, die den Mut zum Philosophieren haben, keine Philosophen sein dürfen, und jene, die Philosophen sein dürfen, keinen Mut zum Philosophieren haben.

[1Bibliographia Hungarica, Jg. 1952.

[2Bibliographia Hungarica, Jg. 1954.

[3„Magyar Filozófiai Szemle“, Jg. 1., 1957. Nr. 1. Zum Geleit.

[4„Magyar Tudomány“ (Die ungarische Wissenschaft), Bd. III. 1958. Nr. 1-2. S. 28.

[5Vgl. George Steiner: Georg Lukács und sein Teufelspakt, FORVM VII/76 und 77.

[6„Aufbau“ Berlin, 1956. S. 773.

[7„Magyar Filozófiai Szemle“, Jg. II. Nr. 3-4. S. 448.

[8„Magyar Filozófiai Szemle“, Jg. IV. Nr. 1. S. 35.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1961
, Seite 50
Autor/inn/en:

Tibor Hanák: Flüchtete 1949 aus Ungarn und promovierte 1955 an der Universität Innsbruck mit einer Dissertation über die Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus. Er war Mitarbeiter an der italienischen „Enciclopedia Filosofica“ sowie Professor für Philosophie und ungarische Literatur am Ungarischen Gymnasium Innsbruck. Neben seiner Tätigkeit für verschiedene ungarische Publikationen in der Emigration arbeitete er an einem Buch über die ungarische Philosophie seit 1945.

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