FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1976 » No. 276
Günther Nenning

Perverseln is xund

Dieser Text sollte gleichzeitig erscheinen mit dem Artikel der „Kleinen Kommune“, Wien: „Wir vögeln nicht mehr“, NF Juli/August 1976. Er steht aber auch für sich allein ganz gut da, als prinzipieller, sei‘s auch grober Versuch von Verbindung zwischen Sexualität und Ökonomie, Theorie und eigenem Leben. G. N.

I

Der Mensch ist nicht normal. Was normal ist, kann man beim Tier feststellen, indem man Zoologen, Tierpsychologen, Behaviouristen losschickt und die beobachten es und kommen zurück und sagen: so und so verhält sich dieses und dieses Tier, und zwar immer, das ist „so“ bei diesem Tier. Beim Menschen ist nichts „so“.

Seine Ausstattung mit unabänderlich vorgeprägten, von starren biologischen „Gesetzen“ gesteuerten Verhaltensweisen und Handlungsabläufen ist ärmlich, verglichen mit der des Tieres. Jedes Tier „weiß“ in allen wichtigen Situationen, wie es sich zu verhalten hat, der Mensch weiß es in fast keiner. Er lernt es erst — aus seiner gesellschaftlichen Umgebung. Die Ausrüstung, die er braucht, um zu überleben, kommt nicht hauptsächlich aus der Biologie, sondern aus der Kultur.

Das Tier ist ein Tier, der Mensch ist ein Kulturtier. Das ist seine Kläglichkeit und seine Glorie. Zieht man kleine Menschen und kleine Schimpansen gemeinsam auf, ist es ein Jammer, um wieviel besser sich der kleine Schimpanse zu helfen weiß und wie verloren so ein kleiner Mensch ist. Dann aber dreht sich’s um. Der junge Schimpanse wird unvermittelt ganz „alt“: in allem und jedem starr und festgelegt, durch seine Biologie. Jeder Zoologe, der sich auskennt mit Schimpansen, kann dessen Verhalten voraussagen.

Der junge Mensch hingegen wird ein Mensch — soweit er nicht durch bürgerliche Erziehung daran gehindert und verkrüppelt wird, aber der Mensch ist zäh, er hält sogar das aus. Weil er biologisch nicht festgelegt ist und durch „Erziehung“ auch nicht völlig und dauerhaft niedergeschraubt werden kann — eben darum hat er ungeheure Möglichkeiten der Entfaltung. Er kann immer anders und immer neu. Der Mensch ist ein Abenteurer.

Natürlich gilt das nicht einfach mit Blick auf unseren bürgerlich verkrüppelten Menschen, sondern mit Blick auf den Menschen — in der Fülle seiner Geschichte, in der Fülle seiner diversen Kulturen, in der Fülle seiner künftigen, jetzt schon ablesbaren Möglichkeiten.

Der Mensch kann dieses und jenes und ein Drittes und immer nochmals anders, und je genauer man ihn sich anschaut, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Kulturen, desto hoffnungsloser wird es, festzusetzen: das ist „normal“.

Die Hoffnungslosigkeit, den Menschen festsetzen zu können, ist die große Hoffnung aller Menschenfreunde. Damit verglichen ist dann alle Sexualmoral armselig, finsterbrauig, unmenschlich. Ein viel besser geeigneter Gegenstand für Sexualmoral, als es der ewig sich wandelnde Mensch ist, ist das biologisch festgelegte Tier. Da kann man sagen: das ist normal und das nicht, und das läßt sich exakt feststellen, und welches Tier nicht normal ist, das wird von der „Natur“ ausgemerzt, überlebt nicht.

Sexualmoral ist immer tierisch ernst. Sie weiß nichts vom Humor der menschlichen Geschichte und Kultur: was hier so ist, ist anderswo gegenteilig: was jetzt so ist, war gestern umgekehrt und wird morgen nochmals anders sein. Sexualmoral heißt immer: sich fürchten vorm Anderssein. Der Moralprediger ist ein Angsthase.

Zum Glück bringt Moral nichts Dauerhaftes zustande. Wir entgleiten ihren Händen rascher und rascher. Der Mensch ist schlüpfrig.

II

Das Tier ist normal. Der Mensch ist pervers. Alles, was das Tier macht, muß notwendig sein, alles, was der Mensch macht, kann frei sein. Der Mensch ist ständig auf dem Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit. Diesfalls: aus dem Reich der Genitalität in das Reich der Sexualität.

Denn das heißt ja „sexuelle Befreiung“: Fortschritt aus der Genitalsphäre, wo man Kinder kriegt, wenn man nur hintupft, in die frei schweifende Sexualsphäre, wo jede körperliche, jede geistige Berührung frei ist und bleibt.

Dieser Sprung ist erst vollends möglich, seit es nicht mehr ums Kinderkriegen geht (Pille usw.), sondern um die Menschen, die’s schon gibt und die glücklich sein wollen, dürfen, können.

Es ist erst ein Anfang, ein vielfach blockierter und verklemmter. Das sexuelle Abenteuer der Menschheit beginnt erst.

Am Anfang seiner Geschichte ist der Mensch kaum weniger festgebunden an die Fortpflanzung als das Tier. Eine ungeheuerliche, groteske Fruchtbarkeit ist nötig, um die Tiere am Leben zu halten. Die „Natur“ arbeitet wie ein General, der 100.000 Mann in die Schlacht schickt: Ein paar Tausend werden schon übrig bleiben.

Der Mensch hat die Natur korrigiert. Zwischen dem Zwang zum ununterbrochenen Kinderkriegen, um zu überleben, und der Freiheit, biologischen „Fortpflanzungstrieb“ umzufunktionieren in individuelles Glück, liegt eine Übergangsperiode, in der die Fortpflanzungsideologie, nutzloser Überbau der einstigen Fortpflanzungsnotwendigkeit, noch hartnäckig fortlebt, sie wird aus bestimmten Interessen daran gehindert, von selber auszusterben — eine Übergangsperiode, in der anderseits junge bürgerliche Avantgarde (Kommunebewegung als Teil der Studentenbewegung usw.) längst daran ist, neue sexuelle Formen und daran geknüpft: neue Wohn- und Lebensformen durchzuexperimentieren.

Diese neuen Formen werden sich durchsetzen. Es wird nicht bei der gegenwärtigen blödsinnigen Fortpflanzungsrate der Menschheit bleiben, die ein Übergangsprodukt ist aus realem medizinischem Unterbau (Gesundheitsvorsorge, niedrige Säuglingssterblichkeit, Geburtenkontrolle) und überlebender Fortpflanzungsideologie.

Das Kinderkriegen wird sich aufhören. So gut wie. Statt Kinder, weil der König Soldaten braucht oder der Kapitalismus eine industrielle Reservearmee oder die Krankenkasse Beitragszahler, wird es nur noch Wunschkinder geben — das heißt: viel, viel weniger als jetzt.

In diesen historischen Zusammenhang gehört der Text der „Kleinen Kommune“ Wien, „Wir: vögeln nicht mehr“, der im NEUEN FORVM im Juli/August-Heft 1976 erschien.

III

Die Verabsolutierung von sexuellen Praktiken ist Sexualmoral und geht in die Irre: ändert sich die Gesellschaft, ändert sich die Moral. Die Gesellschaft hat sich meist schon geändert, und Tante Moral schnauft hinterdrein mit wackelndem Zeigefinger.

Moraltanten gibt es zur Rechten wie zur Linken. Sexualmoral ist nicht nur die gute alte Theorie des Apostel Paulus: Am besten ist gar nicht vögeln, wenn man’s aber nicht aushält, so mit der eigenen Frau. Sexualmoral ist auch die neulinke Theorie der sechziger Jahre: Viel und durcheinander vögeln macht die Welt gesund. Sexualmoral ist auch die Theorie der „Kleinen Kommune“: Nichtvögeln macht die Welt gesund. Hier ist man wieder beim Apostel Paulus.

Sexuelle Praxis: wie oft, mit wem und wie — ist die Antwort auf zweierlei gesellschaftliche Fragenkomplexe:

  1. Wieviel Kinder brauchen wir, um zu überleben?
  2. Wer in der Gesellschaft oben ist, ist auch beim Vögeln oben.

Zu a) Wie oft und mit wem? Nomadenvölker haben Ernährungs- und Wasserprobleme, sie können nicht viel Kinder brauchen. Auch unter Einrechnung der hohen Kindersterblichkeit stehen sie eher auf der Bremse: wenig vögeln und nur mit der eigenen Frau, erschwerte Scheidung, erschwerte Wiederverheiratung, spät heiraten, bis dahin hat die Frau Jungfrau zu bleiben. Nomadenvölker sind „sittlich hochstehend“.

Primitive Ackerbaukulturen können gar nicht genug Kinder haben. Bei niedriger Technologie (z.B. Feldbau mit einfacher Hacke) sind auch bei günstigem Klima sehr viel Leute nötig. Daher wird viel gevögelt, durcheinander gevögelt, Jungfräulichkeit zählt nicht, es wird früh geheiratet, Scheidung und Wiederverheiratung sind kein Problem. Religion, Literatur, Gesang, Spiel, Tanz, alles „Brauchtum“ steckt voll Sex, Geilheit, Obszönität. In der Religion dieser Völker wird ununterbrochen gevögelt: orgiastische Fruchtbarkeitskulte, Tempelprostitution, Anbetung des männlichen und weiblichen Geschlechtsteils. Diese Völker sind „ausschweifend und sittlich verroht“.

Unsere ursprüngliche alpine Kultur war etwa von dieser Art. Viele Kinder waren für den Bauern eine ökonomische Notwendigkeit, kostenlose Arbeitskräfte. „Auf dem Land“ wimmelte es von unehelichen Kindern. Produktion von unehelichen Kindern hieß „Fensterln“. Eine gute Heirat war eine, wo er fünf Kinder mitbringt und sie sieben Kinder, und zu alledem sagte die alpine Variante des katholischen Christentums ja. Das steckt hinter dem beliebten Geschwafel von der „Sinnenfreude des barocken Katholizismus“: Ökonomie ist stärker als „christliche“ Sexualmoral.

b) Wie? Mein Lateinprofessor war Romantiker. Bei Ovid, Catull schaut in den Liebesgedichten sie immer herunter auf ihn. Das ist, weil die Augen der Geliebten wie die Sterne sind, und die Sterne sind oben, erklärte uns der Gute.

In Wahrheit handelt es sich um das, was die Moraltheologie coitus more paganum nennt: Frau oben, Mann unten, zum Unterschied von: coitus more Christianum, Mann oben, Frau unten. In der antiken Welt wirkte noch soviel nach vom alten Mutterrecht, daß die Frau oben war (übrigens auch in der alten indischen, chinesischen, japanischen Kulturtradition). In der christlichen Kultur, diesfalls stammend aus der semitischen, sehr stark vaterrechtlichen, ist der Mann oben.

Symbolträchtiger ist nur noch, was der Moraltheologe nennt: coitus more bestiarum, von hinten. Die Frau als Sexualtier, Gesicht spielt keine Rolle, allzuviel Berührung beschmutzt, perfekte Gleichung Frau ist gleich Fut.

Lösung der „Kleinen Kommune“: wenn soviel abscheuliche Herrschaftsverhältnisse hineinspielen ins Vögeln, dann hören wir einfach auf damit.

IV

Denn nicht nur das Oben-Unten-Verhältnis der Gesellschaft wird beim Vögeln widergespiegelt, sondern auch die Produktions- und Konsumtionsweise:

Viel arbeiten, viel leisten, immer der beste sein — das heißt beim Vögeln: es oft und viel tun und in allen Stellungen, irrsinnig gut und irrsinnig potent sein, immer einen Ständer haben. Das wird man los, wenn man sagt: wir tun’s überhaupt nicht, was soll’s?

Vielkonsumieren, sich alles leisten, glücklich sein durch Konsum — das heißt beim Vögeln zusätzlich für die Frau: Orgasmus kriegen, einen nach dem andern, glücklich sein durch Orgasmus, verpaßt vom Mann. Das wird man los, wenn man’s überhaupt nicht mehr tut.

Potenz-, Erektions-, Orgasmusprobleme, sehr häufige Probleme also — das fällt alles weg. Nach Art der „Kleinen Kommune“ kann man den idiotischen Leistungsdruck loswerden, wie er im Sexuellen modern ist als Widerspiegelung der schwindelhaften Leistungs-, Konsum-, Genuß- und Glücksgesellschaft.

Insgesamt ist es aber eine Scheinlösung, Therapie inmitten einer kranken Gesellschaft — die krank bleibt, auch wenn man nicht mehr vögelt. Die „Kleine Kommune“ kämpft auf einem Nebenkriegsschauplatz. Ihre Lösung ist wie in dem Herrenwitz: Ehemann entdeckt Ehefrau mit Liebhaber im Wohnzimmer auf Sofa. Soll mir das nächste Mal nicht mehr passieren, sagt Ehemann und räumt Sofa aus Wohnzimmer.

Vor der Gesellschaft kann man nicht davonlaufen. Nicht einmal der symbolhaften Übertragung des Oben und Unten der Gesellschaft auf das Vögeln kann die „Kleine Kommune“ entgehen. Sie dreht das Oben-Unten um, der Mann soll unten sein, die Frau oben.

Denn die Begründung, dies soll so sein, weil der Mann „schwerer“ ist, ist natürlich Pseudobiologie. Mindest ebensooft ist die Frau schwerer als der Mann. Richtig ist: der Mann wiegt schwerer in der Gesellschaft.

V

Wenn man sagt: Beim Vögeln widerspiegeln sich die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse — so hat man recht. Wenn man sagt: Deswegen vögeln wir nicht mehr — so hat man unrecht, weil:

  1. jene gesellschaftlichen Verhältnisse schon in den Details des Nichtvögelns genauso wieder durchschlagen, siehe oben, und weil:
  2. überhaupt alle Patenzrezepte für Glück schiefgehen, die da lauten: Hier haben wir was erfunden, was uns erspart, eine schlechte Gesellschaft zum Bessern zu verändern.
  3. und zurückkehrend in die Sexualsphäre: Wie kann man sich denn von einer unmoralischen Gesellschaft, deren Herrschaftsverhältnisse hineinwirken ins Sexuelle, aufzwingen lassen, auf dem Umweg über den eigenen Erfindungsreichtum, die Preisgabe eines ganzen großen Feldes sexueller Möglichkeiten, die ebenso viele Möglichkeiten menschlichen Glückes sind oder sein können. Schön, ewig das Loch zu stopfen ist nicht sehr originell — ewig das Loch leer zu lassen auch nicht.

Von vorne ist es schön. Soll ich’s aufgeben, weil sich darin die patriarchalischen Herrschaftsverhältnisse widerspiegeln?

Von unten ist es schön. Soll ich’s nicht tun, weil ich schon die Andeutung nicht aushalte, daß auch Frauen „herrschen“ könnten?

Von hinten ist es schön. Sollen wir’s weglassen, weil historisch drinsteckt: der Mann mißachtet die Frau?

Nicht die Beseitigung der sexuellen Variationsbreite, sondern die Beseitigung der Herrschaftsverhältnisse, erst im Kopf, dann in der Wirklichkeit — darum geht’s doch. Und darum drückt sich die „Kleine Kommune“.

Einverstanden, der Einzelne und auch die Gruppe kann das sowieso nicht leisten. Daher anerkenne ich durchaus die Berechtigung des Nichtvögelns als Therapie gegen sexuellen Leistungsstreß und daraus hervorkommende Probleme. Aber auf die Dauer und als allgemein anwendbare Lösung ist das nichts. Letztlich ist es Feigheit vor dem Feind, Desertion vom Schlachtfeld der gesellschaftlichen Veränderung — überdies Flucht ohne wenigstens den verdienten Lohn der Feigheit: Vermehrung meines persönlichen Glücks, sondern statt dessen Beschränkung der vollen Variationsbreite dieses Glücks.

Wenn Glück heißt: volle Entfaltung der Persönlichkeit, kann nicht drin sein: Wegoperieren sexueller Glücksmöglichkeiten aufgrund der (richtigen) ideologischen These, Vögeln widerspiegelt gesellschaftliche Herrschaft.

Weder will ich mir vom Pfarrer einreden lassen: stecke ihn möglichst wenig und möglichst kunstlos hinein, moralisch ist nur das Kindermachen. Noch will ich mir von den Pfarrern und Pfarrerinnen der „Kleinen Kommune“ beibringen lassen: alles Heil kommt vom aufgestellten Knie. Es macht mir auch das Spaß, aber es reicht mir nicht.

VI

Muß man unbedingt mit dem Vögeln aufhören, um die Perversion loszuwerden?

Die Frage ist gleichbedeutend mit einer andern, weiter gefaßten, und von der her gibt es dann auch eine Antwort: Wie lebt man im Kapitalismus, ohne gleich sich aufzuhängen, konfrontiert mit allen seinen Scheußlichkeiten? Wie hält man durch, ohne in Fransen zu gehen? Was unternimmt man gegen ihn, ohne Flucht, Resignation, Hände-in-den-Schoß-Legen?

Daß man dem Kapitalismus einfach gegenübersteht, ist ja nicht wahr. Wie links man auch sei, man ist mittendrin, die Front verläuft nicht außerhalb meiner, sondern mitten durch mich.

Für die sexuelle Sphäre heißt dies: ich kann mir keine Sexualität basteln, die frei wäre vom Kapitalismus. Er liegt mit mir im Bett oder sonstwo, wo ich’s treibe, ob ich vögle, nicht vögle, oben bin, unten bin. Ich muß ausgehen von der Sexualität, wie sie der Kapitalismus produziert hat, und muß versuchen, daraus, nicht daneben, etwas zu machen, was neu, anders, besser ist.

Das ist deswegen nicht hoffnungslos, weil der Kapitalismus durchaus nicht nur Deformationen der Sexualität produziert hat, sondern auch neue Freiheitsgrade. Er ist ja, was die Ultralinke gerne vergißt, unter anderem — d.h. verglichen nicht mit dem real möglichen Sozialismus, sondern mit den ihm vorangegangenen Gesellschaftsformationen — ein zivilisatorisches, progressives Element in der menschlichen Geschichte.

Der Citoyen bringt in die Weltgeschichte der Sexualität erstmals die „Freie Liebe“: das Lösen aus den Standesfesseln, die Bindung nach eigener Neigung (Schillers „Kabale und Liebe“), das geht weiter bis zur freien Lebensgemeinschaft statt Heirat (Goethes „Gewissensehe“ mit Christiane Vulpius), bis zur Polygamie (Goethes „Stella“), bis zur Pornographie (Schlegels „Lucinde“).

Freilich kriegt die Citoyen-Sexualität immer wieder von der Bourgeois-Ökonomie das Hackl ins Kreuz gehaut. Die freie Bindung nach Neigung reibt sich statt an den Standesfesseln des Feudalismus an den Geldfesseln der Bourgeoisie (geht es bei Schiller noch um Neigung kontra Feudalität, so bei Nestroy schon um Neigung kontra Geld). Freie Liebe, freie Ehe, Pornographie ist der „Gedankenpolizei“ der Bourgeoisieherrschaft äußerst verdächtig: wer da frei ist, will womöglich auch sonst frei sein, politisch und ökonomisch. Daher die Unterdrückung (Goethe schreibt zur „Stella“ einen zweiten, monogamen Schluß; Schlegel wird ein Frömmler und widerruft seine „Lucinde“).

Mit dem Sieg der Bourgeois-Ökonomie über die Citoyen-Sexualität ist aber die Sache nicht aus. Im Spätkapitalismus ereignet sich, daß auch die Bourgeois-Ökonomie emanzipatorische Elemente in die Sexualsphäre einbringt. Wer konsumieren konsumieren konsumieren soll, der kann nicht in einer asketischen Ideologie festgehalten werden, die Konsumtiere werden ein Stück von der Leine gelassen, es kommt zur „Liberalisierung“ des Sexualstrafrechtes (Ehebruch, Homosexualität), des Eherechtes (Scheidung), des Medienrechtes (Pornographie).

Ich glaube, daß auch die dem „Underground“ und der Studentenbewegung entstammenden neuen Lebens-, Wohn- und Sexualformen, Stichwort „Kommune“, produziert sind nicht nur von sozialistisch-anarchistischen Ideen, sondern von spätkapitalistischer Ökonomie. Der sich abzeichnende Zusammenbruch der Kleinfamilie und das parallele Auftauchen von Formen der Großfamilien („Kommune“) ist kein Zufall und hat als gemeinsame Ursache letztlich den beginnenden, gerade erst erkennbaren Wandel der Produktions- und Konsumtionsformen (statt totale Vereinzelung in der Produktion gewisse Formen der egalitären Gruppenarbeit, „Teamarbeit“; in der Konsumtion Angebot von Gütern, welche die Leistungsfähigkeit der Kleinfamilie übersteigen, aber der Großfamilie angemessen sind; zu alledem gehört freilich noch manches Fragezeichen).

Schließlich ist auch die Rehabilitierung der Klitoris — als Organ der Emanzipation —, die Diffamierung der Vulva — als Organ der Knechtschaft — keineswegs bloßes progressives Hirngespinst der Frauenbewegung, sondern Überbau zu einer ganz handfesten polit-ökonomischen Fortbewegung: massenhafter Einbau der Frau in Produktionsprozesse, dementsprechende „Liberalisierung“ ihrer Sklavenstellung.

Wie dem im einzelnen auch sei, ich bin jedenfalls nicht alleingelassen, sondern mitten im Strom der historischen Entwicklung, wenn ich versuche, meine sexuelle Befreiung zu betreiben, nicht durch Flucht aus der kapitalistischen Wirklichkeit, sondern durch Vorwärtsarbeiten in diesem Strom.

Ich kann der Klitoris zu ihrem Recht und ihrer Glorie verhelfen, ohne die Vulva leer zu lassen; meinen Schwanz in sie hineinzustecken ist sicherlich nicht nur eine kapitalistische Erfindung, sondern hat seine biologische Grundlage.

Ich kann oben sein, unten sein, hinten sein, ohne darum nur Knecht der kapitalistischen Sexualmoral zu sein.

Ich kann die unentrinnbaren — nur kapitalistisch produzierten? auch biologisch angelegten? — sado-masochistischen Begleitgefühle eng angeschlossen lassen an alle denkbare progressive Zärtlichkeit, an alle denkbare altmodische Liebe — und habe sie solcherart vielleicht besser unter Kontrolle, als wenn ich sie im Sexuellen ausschalte. Lebensgefährlich, das weiß man spätest aus jüngster Geschichte, wird Sado-Masochismus, der aus der sexuellen Sphäre „sittlich“ verdrängt, sich statt dessen austobt in der politischen, polizeilichen, militärischen Sphäre.

Die „Kleine Kommune“ hat recht, wenn sie eine zeitweilige Therapie meint. Sie hat unrecht, wenn sie damit die Welt heilen will. An die Religion vom aufgestellten Knie glaube ich nicht.

Radikalität, die an der Oberfläche der Dinge sich verfängt, ist immer falsch. Denn radikal sein, sagt Marx, heißt eine Sache an der Wurzel packen. Die Wurzel ist der Kapitalismus.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1976
, Seite 39
Autor/inn/en:

Günther Nenning:

Geboren 1921 in Wien, gestorben 2006 in Waidring. Studierte Sprachwissenschaften und Religionswissenschaften in Graz. Ab 1958 Mitherausgeber des FORVM, von 1965 bis 1986 dessen Herausgeber bzw. Chefredakteur. Betätigte sich als Kolumnist zahlreicher Tages- und Wochenzeitungen sowie als Moderator der ORF-Diskussionsreihe Club 2.

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