FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 87
René Marcic

Österreichs unsichtbare Richter

Notizen über Parteiendemokratie und Rechtsstaat

Der große deutsche Staatsdenker Gustav Radbruch, ein Sozialist, sagt: „Demokratie ist gewiß ein preisenswertes Gut, Rechtsstaat aber ist wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und wie Luft zum Atmen, und das Beste an der Demokratie gerade dieses, daß nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern.“ Und Adolf J. Merkl lehrt: „Die Rechtsentwicklung hat die politische Freiheit auf zwei Wegen von entgegengesetzter Bewegungsrichtung zu verwirklichen gesucht: durch Schrankenziehung zwischen dem Einzelnen und dem Staat und durch die Besitznahme des Staates von Seite der willensfähigen Bürger.“ Jener Weg ist der Rechtsstaat, dieser ist die Demokratie. Der demokratische Rechtsstaat ist die Vollendung; er ist zumal der Sozialstaat.

Die bereits in diesen Heften erschienenen Beiträge [*] zur Diskussion über den österreichischen Parteienstaat haben ihr Augenmerk in der Hauptsache auf das demokratische Element gerichtet; der nachstehende Versuch soll das rechtsstaatliche Moment, namentlich die Frage der rechtlichen Kontrolle des politischen Geschehens erhellen und den Beweis dafür andeuten, daß die Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung — zum Teil in Voraussicht, zum Teil in Vorahnung — ein Rechtswerk geschaffen haben, das imstande ist, jene gefährlichen Tendenzen halbwegs wirksam aufzufangen, die der Parteienstaat als die zeitgemäße Erscheinungsform der politischen Gemeinschaft birgt.

Zwei Züge prägen das politische Antlitz Europas im Wandel der Zeiten. Der eine erweist sich als Grundzug, der andere als Abweichung. Die unablässige Auseinandersetzung zwischen Regel und Ausnahme verleiht dem alten Kontinent jene Frische und Beweglichkeit, die wir die Freiheit nennen: ein Besitz, an dem sich heute die gesamte Menschheit gütlich tut. Die Grundlinie setzt irgendwo vor Solon an, streift Thukydides, kreuzt Plato und Aristoteles, Polybios und Cicero, berührt Augustinus, Thomas von Aquin, die Monarchomachen, de Vitoria, Richard Hooker, Hugo Grotius, John Locke und läuft in Montesquieu und Alexis de Tocqueville aus; sie hat in Amerika und in England nie ganz ihre Formkraft eingebüßt. Sie sei die dualistische oder besser die pluralistisch-konstitutionelle Linie genannt. Die andere Linie ist die monistisch-konstitutionelle. Im Altertum hat sie nur Vorläufer, ihr Sinnbild ist Thrasymachos. Es seien weiter genannt: Marsilius von Padua, Machiavelli, Bodinus; bei Hobbes und Jean Jacques Rousseau erreicht sie ihren Tiefpunkt, bei Hegel und Nietzsche nähert sie sich der Perversion. In den Jakobinern hat sie Gestalt angenommen.

Was ist für diese Richtung der schlechthin oberste Weg im politischen Raum? Die Einheit des Staates! Ihre vollkommene Verwirklichung ist der Nationalstaat mit seiner absoluten Volkssouveränität. Weil der Staat ganz und gar auf Einheit angelegt und hingeordnet ist, soll die gesamte Staatsmacht in einem einzigen, unteilbaren, nicht zusammengesetzten Faktor versammelt sein: sie ist grundsätzlich unbegrenzt, schrankenlos, alldimensional. Ihr Träger ist der Wille des Menschen; er gibt den Grund für das Recht: voluntas scripta, non veritas facit legem.

Was jedoch ist der Grundzug des Konstitutionalismus, von dem wir sagen, daß er der Grundzug Europas ist? Die Mäßigung der Staatsgewalt zugunsten der Freiheit des Menschen! Die konstitutionelle Strömung kennt keine absoluten Gemeinschaftswerte; sie erblickt im Staat keinen Selbstzweck, an dem die Existenz des Menschen zerschellt: alle politischen Kategorien sind auf den Menschen, seine Freiheit und Würde bezogen. Sie sind relativ — und zwar bezogen auf den geschichtlich einmaligen, den konkreten Menschen im Jetzt und Hier. Das Staatswohl ist von vornherein rechtlich begrenzt (beide Elemente: „rechtlich“ und „begrenzt“ sind wesentlich). Nicht die Staatsraison ist der schlechthin oberste politische Wert, sondern die Menschenwürde; und infolgedessen ist der zentrale Gemeinschaftswert eben nicht die Staatsraison, sondern das bonum commune, das „Gemeinwohl“ als das „gemeinsame Wohl“ aller konkreten Einzelmenschen. Dieses bonum commune, von dem Thomas von Aquin so oft spricht, schränkt wesensnotwendig die Staatsgewalt ein; es ist letztlich nur die Kehrseite jener Medaille, auf der die Menschenrechte eingeprägt sind.

Die Neutralität der Justiz

Das Mittel zur Mäßigung der Staatsgewalt ist die Gewaltenteilung in allen ihren Erscheinungsformen. Wer sie nur als Gleichgewicht der Kräfte erfaßt, trifft nicht das Ganze. Menschenrechte und Beschränkung der Staatsgewalt infolge der Gewaltenteilung gehören im Grunde untrennbar zusammen; die Gewaltenteilung ist kein Selbstzweck. Die rechtliche Begrenzung der Staatsgewalt ist der Hauptgehalt der konstitutionellen Lehren. Konstitutionell ist jener Staat, in dem Macht und Funktionen der öffentlichen Gewalt nach einer rechtlichen Ordnung verteilt sind, um jede Machtzusammenballung zu verhindern — damit die Ordnung des Rechts gewahrt und die Freiheit des Menschen gesichert sei: Montesquieus Fassung des Satzes von der Gewaltenteilung entspringt der konstitutionellen Doktrin. Er unterscheidet zwei Arten der Kontrolle: die politische und die rechtliche — was von der modernen Staatslehre bisweilen übersehen wird. Jene erhält sich nach dem mechanischen Prinzip der effektiven Kräfte von selbst: „le pouvoir arrêt le pouvoir“. Gesetzgebung und Verwaltung sind unter verschiedene Organe und Kombinationen von Organen aufgeteilt; hinter der exekutiven Gewalt stehen der König und sein Beamtengefolge, hinter der legislativen Gewalt wirken die Stände: die beiden realen, sozialen Mächte achten eifersüchtig aufeinander, damit das Gleichgewicht der Kräfte nicht gestört werde. Es ist das System der zweiseitigen, gegenseitigen Kontrolle. Die rechtliche Kontrolle geschieht hingegen einseitig, von einem Raum her, hinter dem keine reale, soziale Macht wirkt. Diese eigenartige, zum Gerichtsorgan verdichtete Gewalt wird zwar auch „Gewalt“ genannt, „puissance“, doch ist sie „en quelque façon nulle et invisible“. Die Macht des „pouvoir neutre“ erschöpft sich in der Unabhängigkeit von irgendeiner Gewalt: das Gericht ist dem Gesetz, nicht aber dem Gesetzgeber unterworfen.

Dieser wesentliche Unterschied wird in der Regel unterdrückt. Wer Montesquieu nicht mit den Brillen der neuzeitlichen Staatslehre liest, sondern sich bemüht, unvoreingenommen den „Geist der Gesetze“ zu untersuchen, wird erkennen, daß dort bereits eine Akzentverschiebung vorausbestimmt ist: von der politischen Kontrolle auf die rechtliche. Schon Montesquieus Lehre nimmt die spätere, erst in unseren Tagen zur Entfaltung gelangte Entwicklung vorweg, da es in der Hauptsache nicht mehr auf die Trennung zwischen Gesetzgebung und Exekutive ankommt, sondern darauf, daß beiden Gewalten als einer soziologischen und fast auch funktionalen Einheit die richterliche Gewalt entgegenwirkt.

Georg Jellinek läßt das politische Standardwerk der Neuzeit, seine „Allgemeine Staatslehre“, mit einem Gedanken ausklingen, den er unserer Generation als Vermächtnis hinterläßt: „Rechtsprechung ist eine staatliche Funktion zum Schutz des gesamten Rechtes ... Wer sinnend den Prozeß steigender Gewähr der Festigung des öffentlichen Rechtes ... überblickt, der kann, wenn er auch noch zweifelnd der Vortrefflichkeit menschlicher Dinge gegenübersteht, sich nicht des Eindruckes erwehren, daß es der Zukunft vorbehalten sei, das schwer zu erringende Gut unverbrüchlicher Rechtsordnung zum dauernden Besitz der Staaten und damit der Menschheit zu gestalten.“

Die Gegenwart muß versuchen, dort, wo Jellinek endet, den Faden aufzugreifen und fortzuspinnen, das heißt: das Gewicht der allgemeinen Staatslehre auf die rechtliche Kontrolle des politischen Geschehens durch ein mit höchster Gewalt ausgestattetes unabhängiges Gericht zu legen. Das Politische gerät in diesem Prozeß mehr und mehr unter die Herrschaft des Rechts („Rule of Law“).

Daß die Zeit Jellineks sich noch nicht zu solchen Gedanken durchzuringen vermochte, lag am Staatsbild von damals. Wenn wir uns dieses Bild vorhalten, dann ist der Staat der Gegenwart in Auflösung begriffen, ähnlich wie es — von diesem Leitbild aus gesehen — der Staat des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit gewesen war. Heute wie damals droht jenes Gebilde, das Staat genannt wird, aus den Fugen zu gehen; es zerfällt in Domänen, die eigene „Königreiche“ bilden, „Republiken in der Republik“, und jeder Beherrscher dieser „Eigenregion“ strebt eine „Hausjustiz“ an. Im Volksmund spricht man vom Proporz, wiewohl dieser Begriff nicht alles umfaßt, was hier angedeutet werden soll. Innerhalb der Exekutive z.B. sind Polizei, Gendarmerie und Bundesheer je ein „unabhängiges Königreich“, dessen Verweser eifersüchtig darüber wacht, daß die Selbständigkeit unversehrt bleibe. Oder es sei die Sozialversicherung genannt, die eine eigene Gerichtsbarkeit aufgebaut und den Instanzenzug zum Verwaltungsgerichtshof abgeschnitten hat. Wer zu sehen versteht, für den sind die pluralistische Struktur der Staatsmacht und der Prozeß der Desintegration des Staatswesens aufdringlich erkennbar: Beamtenkörper, Parteien, Kammern, Verbände, Gewerkschaften, Sozialversicherungsinstitute usf. — sie alle sind daran, das Gefüge zu zerreißen. Nicht nur soziologisch betrachtet, zerfällt der Staat in verschiedene Domänen, auch rechtlich-institutionell löst er sich in eine Vielfalt von Instanzen auf.

Wo soll das einheitsstiftende Element gesucht werden? Wieder in der Nation, der Staatsgewalt, dem Staat, der Machtpolitik? Sie haben sich in der Geschichte als für die Menschenwürde untaugliche Mittel erwiesen: die Konsequenzen der Verirrungen waren furchtbar. Sollen wir deren Wiederkehr wagen? Kann man noch mit gutem Gewissen den Vorrang der Staatspolitik vor dem Recht verfechten, kann man noch die Staatsraison als das höchste Gut hinnehmen? Der ganze Problemkreis der Gewaltenteilung kann auf eine Frage zurückgeführt werden: wie ist die Verbindung der sozialen Kräfte möglich, ohne daß die Menschen, die in der betreffenden Gemeinschaft leben, einer Machtkonzentration anheimfallen?

Die Richter sind das kleinste Übel

Die Geschichtspraxis hat enthüllt, daß dies ohne den Primat des Rechts unmöglich ist; mit dem Primat des Rechts allerdings ist der Primat eines Höchstgerichtes verknüpft, was wiederum gewisse Gefahren birgt, doch ist der Beweis erbracht worden, daß von dort her noch die menschenmöglich geringste Bedrohung lauert. Der Vorrang der rechtlichen Kontrolle vor der politischen ist der neue Weg, den schon Jellinek geahnt hat, den Kelsen und Merkl gewiesen haben, ohne jedoch die letzte Konsequenz zu riskieren. Das ist unserer Generation aufgegeben.

Ein zweiter Umstand schärft das Auge für die Sicht des neuen Weges. Als Montesquieu ans Werk ging, blühte die Monarchie. Sein Konstitutionalismus prägt die Form der konstitutionellen Monarchie auf dem Kontinent aus. Der Mechanismus funktionierte tadellos, weil hinter dem zweiten Pol der gesetzgebenden Gewalt — und sie ist immer die weitaus wirksamste Gewalt für das Gesamtleben des Staates! — der Monarch als realer, sozialer Machtfaktor wirkte. Die politisch-zweiseitige Kontrolle tat ihre Wirkung; die Rolle der dritten Gewalt, der Gerichtsbarkeit, brauchte nicht in Erscheinung zu treten. Oberflächliche Beobachter meinten, Montesquieu wußte nicht recht, wohin mit ihr, und verglichen sie mit der Rolle des Heiligen Geistes in der Dreifaltigkeit. Daß sie damit vielleicht eine der tiefsten Geschichtswahrheiten aussprachen, ahnten sie freilich nicht. Die Bedeutung der dritten Gewalt wurde im politischen Raum sichtbar, als mit dem Monarchen der Gegenpol in der Balance of Power verlorengegangen war. Solange das Bewußtsein nachwirkte, demzufolge das Parlament als Repräsentant des Volkes unfehlbar und außerstande wäre, freiheitsgefährdende Gesetze zu erzeugen, wuchs der Monismus der Volksvertretung heran. Doch währte die Aera dieses parlamentarischen Absolutismus viel kürzer, als seinerzeit der monarchische Absolutismus sein Unwesen getrieben hatte.

In Österreich fühlten die einen und erkannten die andern, daß die Freiheit ausschließlich bei einem Dualismus in der Gesetzgebung möglich ist. Das Experiment mit dem Bundesrat und mit dem Bundespräsidenten mißglückt, weil hinter beiden ein und dieselben realen, politischen und sozialen Kräfte arbeiten: die Parteien bzw. deren Majorität oder Koalition. So wandten sich die Augen jenem „pouvoir neutre“ zu, jener „puissance en quelque façon nulle et invisible“, deren „Macht“ in der auctoritas zum Unterschied von der potestas liegt, weil sie ihre Legitimation aus dem Recht bezieht, und zwar unmittelbar aus dem Recht. Die Erkenntnis der Schöpfer unserer Bundesverfassung, die den Keim zu dieser Entwicklung gepflanzt haben, deckt sich immer mehr mit der seelischen Verfassung des Volkes: wer über keine reale, soziale und politische Macht verfügt, wer keine sichtbare Gewalt ausübt, kann wohl kaum, so überlegt der einfache und schlichte Bürger, seine Macht mißbrauchen.

Und dieses Bewußtsein wächst mit dem Wachstum des Parteiischen und dem wesensnotwendigen Proporz in der Parteiendemokratie. Weil das Parteiische daran ist, von uns total Besitz zu ergreifen, flüchten wir in die Arme dessen, der kraft seiner Organisation und Funktion unparteiisch ist. In einer Zeit, da der Staat von den Parteien getragen, auf die Parteien und Interessengruppen verteilt und infolgedessen im pluralistischen Sinn durchgängig parteiisch gefügt ist; in einer Zeit, da „die Parteien der Staat sind“, wie Ermacora festgestellt hat, [**] — in solch einer Zeit muß das Verlangen des Menschen nach Unparteilichkeit aufkommen. Dieses echte und begründete Bedürfnis nach Unparteilichkeit, die zugleich das einheitsstiftende Element ist, nimmt im Vertrauen zu jener „Staatsgewalt“ konkrete Gestalt an, die nach ihrem Wesen und ihrer ureigenen Methode ganz und gar unparteiisch beschaffen ist. Diese sogenannte Gewalt, die sich durch ihre Gewaltlosigkeit auszeichnet, hinter der keine reale, soziale und politische Macht wirkt, hat keinen Grund, ja kann gar keinen Grund haben, sich von irgendwelchen sachfremden Interessen ablenken zu lassen: hier allein ist die feste Gewähr dafür gegeben, daß der Boden des Rechts nie geräumt wird. Das Recht ist das Integrationsmoment und das Verfassungsgericht ist der Beständigkeitsfaktor, der die Staatlichkeit des Staates ausmacht. Der zweite Satz des Artikels 1 der österreichischen Bundesverfassung wird meist falsch zitiert; es heißt weder: „Alle Gewalt geht vom Volke aus“, noch: „Alles Recht geht vom Volke aus.“ Sondern es heißt: „Ihr Recht geht vom Volke aus.“ Nämlich das positive Recht der demokratischen Republik Österreich. Über das andere Recht, über die Rechtsordnung des Völkerrechts, des Kirchenrechts, des präpositiven Rechts ist nichts gesagt. Das Recht wird als Höchstwert erkannt.

In Österreich ist das Parlament nicht der unumschränkte Gesetzgeber; es teilt seine gesetzgebende Gewalt mit dem Verfassungsgerichtshof; kraft dieses Dualismus in der Gesetzgebung ist Österreich eine konstitutionelle Republik. (Unangemessen ausgedrückt: an die Stelle des Monarchen ist der Verfassungsgerichtshof getreten.) Mit der Grundnorm, die dem Art. 44, Abs. 2 des Bundes-Verfassungsgesetzes innewohnt, ist die Möglichkeit gewährleistet, daß der österreichische Verfassungsgerichtshof Verfassungsbestimmungen minderen Ranges an den Verfassungsbestimmungen höheren Ranges mißt und daraus die Konsequenzen zieht, indem er als negativer Verfassungsgesetzgeber in Wirksamkeit tritt.

Legislative und Exekutive bilden, wie bereits oben angedeutet, nicht nur eine soziologische, sondern auch eine funktionale Einheit. Die Herrschaft zweier Grundsätze des bürgerlichen Rechtsstaates und der liberalen Demokratie — nämlich die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Vorbehalt des Gesetzes — bewirkt, daß heutzutage in Österreich Regieren „Gesetze machen“ bedeutet. Die Entwicklung zum vollkommenen Versorgungsstaat verlagert den Schwerpunkt der Tätigkeit des Staates auf die Exekutive. Weil aber die Verordnungsgewalt der Exekutive gemäß der Verfassung jeweils die volle Legitimation des Gesetzes benötigt, werden die laufenden Staatsgeschäfte effektiv im Wege der Gesetzgebung erledigt. Von einer Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative zu sprechen, hat nicht mehr viel Sinn; es sei denn, wir ziehen die Macht in Betracht, die der Beamtenapparat ausübt. Umso schärfer muß die Macht zwischen der dritten Gewalt — insbesondere dem Verfassungsgerichtshof — und den beiden anderen Gewalten verteilt werden.

Auf dem Weg zur Justizrepublik

Eines der Hauptprobleme unserer Staatspolitik ist die Verfassungsgerichtsbarkeit. Neben anderen Reformen, die geplant sind, sollte Österreich zunächst verfassungsgesetzlich jene Ansätze zur Entfaltung bringen, die mit der Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit bereits gegeben sind und die auf eine Form der Demokratie hinstreben, die viele Gefahren der Parteiendemokratie rechtlich einzufangen vermag: auf die konstitutionelle, die Gerichtsrepublik. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bringt diesen Typ der Demokratie in die Nähe der Vollendung. Doch den Grundstein haben die Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung gelegt. Österreich war das Leitbild auf dem neuen Weg. Einige der wichtigsten staatspolitischen Aufgaben:

  1. Die Erweiterung, Vertiefung und Festigung der Grundrechtsordnung, das heißt: wirksame Sicherung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
  2. Einsicht in die bestehende Stufen- und Rangordnung innerhalb der Verfassung selbst — welche Ordnung es verbietet, daß Fundamentalprinzipien durch verfassungsgesetzliche Alltagsbestimmungen verletzt werden.
  3. In Hinblick auf die wirksame Sicherung der Grundrechtsordnung soll dem Schutz des Verfassungsgerichtshofes auch die sogenannte ordentliche Zivil- und Strafgerichtsbarkeit unterworfen werden. Die Freiheit des Menschen ist heute in der Regel weniger von der Verwaltung als von der Justiz, vom Staatsanwalt und Untersuchungsrichter bedroht, welche die „Freiheit“ zuweilen etwas leichtsinnig handhaben.
  4. Menschenrechte und Grundfreiheiten wirken nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen jeden Dritten, gegen die Übermacht der Unternehmer, gegen Pressure Groups, gegen die Gewerkschaften, Sozialversicherungsinstitute und gegen jeden, der öffentliche Macht in privatem Kleid trägt.
  5. Eine wirksame rechtliche Kontrolle der sogenannten „privatwirtschaftlichen“ Verwaltung des Staates und aller anderen Formen der „öffentlichen Gewalt“.

Der immerwährende Sinn einer Rechtsordnung ist die Mäßigung der Macht des Stärkeren zugunsten der Freiheit des Schwächeren: im Namen der Menschenwürde.

[*Adolf Merkl/Felix Ermacora/Fritz Klenner: Das „Unbehagen im Parteienstaat (FORVM VI/62), Josef Tzöbl/Wilfried Gredler/Franz Olah: Was sich trotzdem ändern muß (FORVM VI/66); Christian Broda: Gegen die Hektik in der Demokratie (FORVM VI/69); Alphons Gorbach: Über die Grenzen der Parteimacht (FORVM VII/78); Rainer Leignitz: Ein Parlament für die Wirtschaft (FORVM VIII/85).

[**Felix Ermacora: Die Parteien sind der Staat, FORVM VI/62.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1961
, Seite 89
Autor/inn/en:

René Marcic: Dr. jur., Österreichs führender Staats- und Rechtsphilosoph, Vertreter der Kelsen’schen Schule, Mitglied der Strafrechtskommission, ehemals Chefredakteur der „Salzburger Nachrichten“ und erster Vorsitzender des Österreichischen Presserates, bedarf als langjähriger Mitherausgeber des FORVM weder in seinen akademischen (Dekan und Mitschöpfer der Salzburger Universität) noch in seinen publizistischen Funktionen (zuletzt „Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit“, Springer-Verlag) der näheren Vorstellung.

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