FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 198/I
Fritz Vilmar

Organisierter Unfrieden

I.

Angesichts der Tatsache, daß das Wort Frieden jahrelang als kommunistische Vokabel diffamiert worden ist, ist allein schon dies: daß man die Notwendigkeit entdeckt hat, sich mit Frieden systematisch und wissenschaftlich zu beschäftigen, ein Fortschritt. Allerdings ist die Gefahr zu erkennen, daß diese Bemühungen in teils positivistischen, teils idealistischen Oberflächenuntersuchungen und moralisierenden Appellen untergehen, daß man große Sorgfalt und akademische Akribie darauf verwendet, ja nicht an die soziologische Substanz heranzukommen, die den Unfrieden, oder wie Senghaas es ausgedrückt hat, die organisierte Friedlosigkeit verursachen. Es ist also notwendig, einerseits durchaus ja zu sagen zu dieser Forderung, zu diesem Aufruf, den Frieden zum Thema wissenschaftlicher Analyse zu machen, es ist gleichzeitig aber erforderlich, von vornherein kritisch-methodische Reflexionen anzustellen und zu verhindern, daß dieser neue Wissenschaftszweig wieder zu einem Schauplatz akademischer Scheingefechte und idealistischer Donquichotterien wird.

Ich möchte darum auch einleitend wenigstens ein paar kritische Hinweise auf falsche theoretische Ansätze geben. Diese Ansätze können auch Beiträge liefern zu einem wachsenden Bewußtsein der Notwendigkeit systematischer Bemühungen um den Frieden. Ich will, was ich im folgenden kritisiere, keineswegs für nichtig erklären, sondern nur zum Ausdruck bringen, daß diese Bemühungen und auch viele Institutionen, die heute allenthalben gegründet werden, in der Gefahr sind, die Epiphänomene aufzugreifen und nicht die Substanz der Sache zu treffen. Ich darf vielleicht ein Denkbild vorausschicken. Ernst Bloch erzählte mir einmal, daß er gegenüber Walter Benjamin folgendes eingewandt habe: „Keine Geringere als Agatha Christie weist in einem ihrer Werke darauf hin, daß es ein Mißgriff mancher Kriminalschriftsteller sei, die Detektive am Tatort herumkriechen und nach den Spuren von Zigarettenasche suchen zu lassen; und während sie das tun und dabei ungeheure Mühe verwenden, übersehen sie, daß einen Meter weiter ein zehn Zoll langes und sehr dickes Bleirohr liegt, das sehr schnell zur Überführung des Täters führen könnte.“ Soweit Agatha Christie beziehungsweise Ernst Bloch. Das ist genau das Problem, vor dem wir angesichts der Friedensforschung stehen; daß ungeheure Bemühungen gemacht werden, dem Mörder auf die Spur zu kommen, indem man diffizile Untersuchungen anstellt, dabei aber naiv oder geflissentlich um jenes Beweismittel herumgeht, das nun tatsächlich die Mordwaffe darstellt und sehr rasch den Täter erkennbar macht: die sozioökonomischen Antagonismen in unserer Gesellschaft.

Ich möchte stichwortartig drei problematische Ansätze nennen:

  • einmal den Versuch, die Friedlosigkeit und Aggressivität in der Welt in erster Linie individualpsychologisch, anthropologisch zu erklären;
  • zweitens sie isoliert als ein Erziehungsproblem zu betrachten;
  • drittens die positivistisch-technokratischen Ansätze: man entwickelt außerordentlich differenzierte Theorien des Crisis Management oder soziologische Abzählmethoden, etwa um festzustellen, in welchem Umfang agrarische, halbagrarische, industrialisierende, hochindustrialisierte Gesellschaften Kriege gemacht haben, und glaubt, daraus etwas ermitteln zu können.

Besonders problematisch scheinen mir die individualpsychologischen Ansätze zu sein. Zunächst liegt es in unserer Gesellschaft immer noch sehr nahe, von einer theologischen Anthropologie des gefallenen, sündigen Menschen auszugehen und von daher eine Neigung im Menschen, anderen zu schaden, aus seiner „Natur“ zu konstruieren. Mir scheint, daß das auch problematische Theologie ist, weil christliche Anthropologie zumindest die Spannung zwischen Alter und Neuer Schöpfung enthalten müßte und nicht einfach eine Anthropologie des gefallenen Menschen konstituieren dürfte. Man hat unerträgliche gesellschaftliche Ordnungen immer wieder auf eine die herrschenden Mächte verschonende Weise mit der Sündhaftigkeit des Menschen gerechtfertigt und diejenigen, die eine bessere, eine friedlichere Gesellschaft anstrebten, theologisch immer wieder äls Leute diffamiert, die „ein falsches Menschenbild“ hätten.

Dasselbe existiert als säkularisierte Theologie — in der sonst sich recht theologiekritisch gebenden Psychologie, nicht zuletzt auch beim späten Freud. Freud hat lange Zeit die Affekte, die Triebhandlungen auf den Lusttrieb, das Libidopotential zurückgeführt. Der spätere Freud hat diesen Monismus aufgegeben, bei dem die aggressiven Affekte nur die Ergebnisse verdrängter Libido, also kulturgeschichtlich vermittelt, sind. Er hat sich für eine Dichotomie der Triebe entschieden. In einem sehr pessimistischen Brief an Siegfried Einstein pointiert er den zweiten Trieb, den Todes- und Destruktionstrieb, wie folgt: „Mit etwas Aufwand von Spekulationen sind wir nämlich zu der Auffassung gelangt, daß dieser Destruktionstrieb innerhalb jeden lebenden Wesens arbeitet und dann das Bestreben hat, es zum Zerfall zu bringen, das Leben zum Zustand der unbelebten Materie zurückzuführen. Er verdiente in allem Ernst den Namen eines Todestriebes. Der Todestrieb wird zu einem Destruktionstrieb“ — und hier wird es also für die Friedensforschung sehr bedenklich und interessant: „indem er mit Hilfe besonderer Organe nach außen gegen die Objekte gewendet wird. Das Lebewesen bewahrt sozusagen sein eigenes Leben dadurch, daß es fremdes zerstört“.

Hier stellt sich die Frage, ob sich nicht sozialpsychologisch und soziologisch nachweisen läßt, daß Selbstmorde, aber auch alle anderen destruktiven Akte in einer statistisch überwältigenden Zahl von Fällen nicht aus der Natur des Menschen erklärt werden können, sondern aus ganz klar angebbaren Milieusituationen. Auf jeden Fall ist dies ein außerordentlich bedenklicher Ansatz, die Friedlosigkeit zu erklären, aus einem naturgegebenen, unabänderlichen Aggressionspotential des Menschen. Auch Mitscherlich hat bedauerlicherweise in seiner sonst so konstruktiven Rede bei der Friedenspreisverleihung wieder dieses aggressive Urpotential hypostasiert. Man muß sich mit dieser These in aller Härte auseinandersetzen. Es scheint doch einigermaßen rätselhaft, wie aus der Summe vieler individueller Aggressionen die von klar definierbaren Machteliten produzierten, gesellschaftlichen Aggressionen vom Format der Weltkriege oder des Vietnamkrieges abgeleitet werden sollen!

Ein anderer Sektor der Friedensforschung beschäftigt sich mit dem Versuch, pädagogisch durch Abbau von nationalistischen Affekten einen Beitrag zum Frieden zu leisten, unter anderem auch durch bestimmte praktische Übungen, etwa gruppendynamischer Art. Für diese Theorien gilt zunächst, daß die schönsten, etwa in Schulen oder Jugendgruppen eingeübten toleranten und kooperativen Verhaltensweisen Menschen sehr wenig nützen, wenn die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Antagonismen nicht aufgedeckt werden, und wenn den jungen Leuten durch Staatsmaschinerien immer wieder destruktives Verhalten befohlen wird.

Was den Komplex des Nationalismus anbelangt, so ist es interessant, daß er immer wieder, auch von Politologen und Soziologen, als Urerscheinung dargestellt wird. Typisch ist beispielsweise die Behandlung des Imperialismusproblems bei Theodor Geiger, der sagt, es sei ganz unlogisch, den Imperialismus aus den expansiven Tendenzen der kapitalistischen Gesellschaft erklären zu wollen, denn die Geschichte habe ja schließlich gezeigt, daß die Kriege, die man geführt hat, um imperiale Positionen zu besetzen, nicht etwa die Position des Kapitalismus gestärkt, sondern im Gegenteil geschwächt haben. Daher, so folgert Geiger, kann der Kapitalismus gar nicht am Imperialismus interessiert sein; der Imperialismus ist vielmehr eine Ausgeburt des Nationalismus. Theodor Geiger scheint entgangen zu sein, daß die meisten geschichtlichen Prozesse sich letzten Endes gegen die Intentionen derer ausgewirkt haben, die solche Prozesse in Gang gebracht haben, daß hier eine objektive Dialektik waltet, bei der fast immer etwas anderes herauskommt als das, was die Initiatoren gewollt haben.

Ich kann jedem, der den Nationalismus als psychische Urgegebenheit hinnimmt, nur empfehlen, einmal das Werk von Fritz Fischer „Griff nach der Weltmacht“ zu studieren, in dem er nachlesen kann, wie vor dem Ersten Weltkrieg, in einer Weise, die in langen Passagen durchaus faschistisch klingt, bewußt die Presse die Erziehung auf das Einimpfen von Fremden- und Völkerhaß, auf Ideologien der Todfeindschaft ausgerichtet waren. Man kann sehr genau zeigen, daß etwa der Fichtesche Nationalismus etwas völlig anderes war, der die eigene Nation als Vorbild der Menschheit verstanden hat, in dem Sinn, daß sie in geistig-kulturellen Wettkampf mit den anderen Nationen eintreten müßte, während der Nationalismus der imperialistischen Epoche, von den herrschenden Machteliten gesteuert, zur Selbstüberhebung einer Nation über die anderen verführte. Wenn man das eingesehen hat, dann ist einem klar, daß man sich mit Epiphänomenen beschäftigt, wenn man glaubt, in der Schule Nationalismus ohne Rekurs auf dessen Produzenten abbauen zu können. Natürlich ist es ein Ansatzpunkt, nur ist es wiederum das Suchen nach der Asche ohne Suche nach dem Bleirohr. Wenn man nationalistische Gefühle oder Rassenvorurteile abzubauen sich bemüht, dabei aber nicht den sozioökonomischen Grund findet, die Herrschaftsinteressen, die diesen Nationalismus, diese Aggressivität produzieren, bleibt die Aufklärung idealistisch in der Luft hängen.

Ich will es mit diesen wenigen Beispielen genug sein lassen und zusammenfassend sagen, daß ich durchaus der Auffassung bin, daß man die zum Teil zur zweiten Natur gewordenen Phänomene von Aggressivität, von Nationalismus, von politischen Drohsystemen usw. außerordentlich ernst nehmen muß. Ich meine nur, daß in einer interdisziplinären Friedensforschung begonnen werden muß, die sichtbaren ideologischen und psychischen Phänomene auf die gesellschaftlichen Tatbestände zurückzuführen, die sie hervorrufen. Der Abbau bestimmter ideologisch-psychischer Komplexe und Verhärtungen in den Menschen ist ein wichtiger Beitrag, allerdings nur dann, wenn man gleichzeitig an die Wurzel geht und mitarbeitet am Abbau derjenigen gesellschaftlichen Ursachen, die immer wieder solche Ideen und Affekte hervorrufen.

II.

Einige Anmerkungen zu einer Sozialtheorie der Aggression: Wenn man eine sozioökonomische Grundlage kritischer Friedensforschung versucht, ist es notwendig, zunächst einmal das Phänomen der Herrschaft und der Ausbeutung von Menschen zur Erhaltung und Erweiterung von Herrschaft zu untersuchen und zu erkennen, daß Herrschaft etwas mit den materiellen Gegebenheiten der menschlichen Existenz unter den globalen Bedingungen zu tun hat, unter denen wir auf diesem Planeten leben. Das mag ein wenig kosmologisch klingen, aber ich glaube, daß es notwendig ist, davon auszugehen, daß sich Herrschaft aus der ursprünglichen Mangelsituation unserer irdischen Welt herleitet und nicht aus individuellen, anthropologischen Fehlhaltungen. Es läßt sich, wie mir scheint, zeigen, daß der Versuch, Menschen und Produktionsmittel, also zunächst einmal Grund und Boden zu beherrschen, nicht ausreichend verstanden werden kann, wenn man nicht vorab erkennt, daß die objektiven, gesellschaftlichen Lebensbedingungen seit Beginn der menschlichen Geschichte fundamental gekennzeichnet gewesen sind durch Mangel, das heißt durch die Tatsache, daß die Lebensmittel im weitesten Sinne des Wortes nicht in ausreichendem Maße vorhanden waren.

Die Geschichte des Menschen ist eine Geschichte des Versuches, sich im Kampf gegen andere in kriegerischen Auseinandersetzungen mit anderen die Verfügung über solche Lebensmittel, über solche Lebensgrundlagen im weitesten Sinne zu sichern. Und die Geschichte des Krieges ist zunächst, sozialgeschichtlich betrachtet, gekennzeichnet durch Übermächtigung anderer Gruppen, um sich selbst zusätzliche Lebensgrundlagen zu schaffen. Die Klassengesellschaft überhaupt ist, weit entfernt davon, etwa durch die Auslese der Besten entstanden zu sein, als Auslese der Brutalsten entstanden. Alexander Rüstow hat sehr eingehend dargelegt, wie Klassengesellschaften entstanden sind, indem kriegerische Stämme Ackerbauvölker überfallen und sich als Herren über sie aufgeschwungen haben. Andere Herrschaftsverhältnisse haben sich dadurch ergeben, daß bestimmte Bauerngruppen kriegerische Schutzgruppen haben bilden müssen und daß diese Schutzgruppen — also das, was sich nachher als Adel kristallisiert hat — immer mehr Übergewicht gegenüber den Bauern gewonnen hat. Aus der Schutzfunktion ist eine Herrschaftsfunktion geworden. Aus dieser Herrschaftsfunktion resultiert eine unendliche Dialektik von Kämpfen, Fehden, Inbesitznahmen und Unterwerfungen. Alles das kann man nicht verstehen, wenn man nicht das grundlegend Richtige an der historisch-soziologischen Denkweise erkennt, die einen zwingt, die ideologisch-geistig-psychischen Äußerungen des Menschen niemals ohne Rekurs auf die materiellen Lebensbedingungen und die Klassenherrschaft als ein Ergebnis des Kampfes um die Sicherung materieller Lebensbedingungen zu begreifen.

Die sozioökonomische Funktion des Krieges ist sehr deutlich in der gesamten feudalen Epoche aller Gesellschaften zu erkennen, als ein ständiger Versuch von Herrschaftsschichten, unter Indienststellung, häufig Versklavung untergeordneter, oft in Leibeigenschaft befindlicher Gruppen, sich ein größeres, ein gesichertes Herrschaftsgebiet zu schaffen.

III.

Dieser Prozeß ständiger Aggressionen hat sich verselbständigt. Herbert Marcuse hat einmal in einem Seminar die Anmerkung gemacht, er sei sich nicht sicher, ob die Engelssche Bekauptung richtig sei, daß Klassenherrschaft erst dann abzuschaffen sei, wenn ein Leben ohne Mangel für alle zu schaffen sei; es sei doch zu überlegen, ob nicht bereits im Mittelalter eine klassenlose Gesellschaft möglich gewesen wäre, wenn man nur die vorhandenen Lebensbedingungen für alle auf genossenschaftliche statt auf herrschaftliche Weise organisiert hätte. Das ist natürlich eine sehr schwierig zu verifizierende Behauptung; ich glaube nicht, daß man sie positiv beantworten kann. Richtig daran aber scheint mir eines zu sein: daß zu einem sehr frühen Zeitpunkt bereits aus der Ursituation des Kampfes von Menschen um Lebensraum, Lebensmittel ein sich verselbständigender Prozeß der Herrschaftskonkurrenz sich entwickelt hat, bei der gar nicht mehr die unmittelbare Not, sondern das Praevenire, das Demandernzuvorkommen in der Eroberung von natürlichen und gesellschaftlichen Reichtümern die entscheidende Rolle spielt; es geht gar nicht mehr darum, daß man kämpfen muß, um zu überleben. Die Herrschaftsapparate und das, was Senghaas das Drehsystem genannt hat, haben sich so weit verselbständigt, daß im ständigen Wechsel von Furcht und Aggression eine Verkettung gesellschaftlicher Aggressivität sich entwickelt, die schließlich dazu pervertiert, die Not und den Mangel, dessen Behebung sie immer wieder verspricht, selbst zunehmend zu produzieren. Was in solchen Phänomenen wie der Völkerwanderung noch sichtbar gewesen sein mag: daß man um die nackte Existenz hat ringen müssen, das ist dann zweifellos in den Kriegen der Feudalherren und des Absolutismus eher die Ausgeburt der Kriege selbst. Mangel nicht als Grund, sondern als Folge von Krieg und Militarismus. Allerdings — und damit kommen wir bereits an eine Wurzel des Nationalismus — dem Volk, das man immer wieder in diese Kriege geführt hat, wurde seit eh und je bereits vor vielen Jahrhunderten der Haß und die Furcht gegenüber dem Nachbarn und die Hoffnung auf Sieg und herrliche Beute eingeprägt, weil das Interesse der herrschenden Gruppen durch ein allgemeines Motiv verdeckt werden mußte gegenüber denjenigen, die meistens von den Ergebnissen des Krieges nur sehr wenig profitierten, die aber diese Kriege führen sollten. Hier ist die geschichtlich sehr, sehr weit zurückzuverfolgende Wurzel des Nationalismus, bis hin zu jener atavistischen Gleichsetzung des Begriffs des Menschen mit dem Begriff des Volksgenossen, und des „barbaros“ mit dem, der eben draußen lebt und der der potentielle Vernichter ist und auch der „Untermensch“, den man selbst jederzeit vernichten und versklaven kann. Das sind sicherlich sehr alte Bewußtseinpetrefakte, die, wie ich einleitend schon sagte, sich ihrerseits bis zu einem hohen Grad verselbständigen.

IV.

In der Neuzeit haben sich erste Ansätze einer Gegenbewegung im handeltreibenden Bürgertum gezeigt, ein bürgerlicher Antimilitarismus, der sich zuletzt in der bürgerlichen Blüte der USA noch manifestiert hat und erst in den letzten 30 Jahren umgeschlagen ist in die bedrohliche Verpreußung dieses Kontinents. Die antimilitaristischen Tendenzen des Bürgertums haben sich dann allerdings seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verwandelt in jene einleitend erwähnte zunehmende Militarisierung und den barbarischen Nationalismus der bürgerlichen Gesellschaft im Zusammenhang mit der imperialistischen Periode. Die Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft, die eigenen Widersprüche, insbesondere die beschränkte Konsumtionsfähigkeit und die überproportionale Entwicklung der Produktivkräfte, die im 19. Jahrhundert in immer schwerere Krisen geführt hat, durch die wirtschaftlich-politische Ausdehnung in nichtkapitalistischen Gesellschaften zu lösen, hat diesen expansiven Nationalismus hervorgebracht. Hier vollzieht sich ein Prozeß, den man immer wieder mit dem Bild des unter Überdruck stehenden Dampfkessels beschrieben hat, der sein Ventil im Export, in der Expansion von Kapital (übrigens auch in der Auswanderung von vielen Millionen Menschen) in die nichtkapitalistische Welt findet, also durch das, was wir als Kolonialpolitik bezeichnen.

Diese kapitalistische Aggressivität ist nicht einfach reduzierbar auf solche vagen Begriffe wie Machtstreben. Wir sind immer sehr schnell bei der Hand mit metaphysischen oder psychologischen Allgemeinbegriffen; sie sind eine geistige Macht, in der alle Katzen grau sind; die gesellschaftlichen Differenzierungen brauchen gar nicht mehr getroffen zu werden. Alle streben nach Macht, Stalin und Hitler, Nixon und Ulbricht. Damit wird die Möglichkeit von Gesellschaftskritik zunichte gemacht. Denn wenn alle nach Macht streben, ist es vollkommen egal, wie die Gesellschaft aussieht, in der man lebt, und vollkommen nutzlos, sie zu verändern.

Man sollte Abstand nehmen von dieser Art Gemeinplätzen und präzise herausarbeiten, welche sozioökonomischen Interessen, welche Situation des überkochenden Kessels in dieser Gesellschaft dazu geführt hat, daß man mit ungeheurer Brutalität neun Zehntel der Welt von diesen kleinen industrialisierten Metropolen her überwältigt hat seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die Kraft der Produktionsmittel, aber auch die Macht der technischen Militärapparate war so angewachsen, daß dieses System in der Lage war, die ganze Welt zu beherrschen.

Diese imperialistische Politik hat dann vernichtend gegen den Kapitalismus zurückgeschlagen. Das ist eine wahrhaft makabre Dialektik. Es gab kapitalistische Staaten, die nicht oder nicht früh genug teilnahmen an der kolonialen Aufteilung der Welt: im Osten Japan, in Europa die sogenannten Mittelmächte, Deutschland (und in seinem Schlepptau Österreich-Ungarn). Diese Staaten versuchten mit dem Mittel des Krieges diejenigen Kolonialpositionen zu erkämpfen, die sich die anderen im Laufe des 19. Jahrhunderts geschaffen hatten. Es läßt sich zeigen, daß in den Ersten Weltkrieg nicht, wie wir in den Schulbüchern gelernt haben, Deutschland und die anderen Mächte „hineingeschlittert“ sind, sondern daß die führenden Politiker in Berlin ganz bewußt die Wiener Diplomaten dazu gedrängt haben, die bosnische Krise zu einem Krieg sich ausweiten zu lassen. Es läßt sich weiter zeigen, daß Hitler die imperialistische Ideologie, die er vor und im Ersten Weltkrieg im k.u.k. Österreich und im kaiserlichen Deutschland gelernt hat, den Pangermanismus, den Ruf nach dem „Platz an der Sonne“, unmittelbar in „Mein Kampf“ überführt hat. Deshalb kann heute niemand sagen, er habe nicht wissen können, daß Hitler Krieg bedeutete. Hitler hat ganz offen gesagt, daß er den im Ersten Weltkrieg gescheiterten Versuch, Deutschland zu einer imperialistischen Macht aufsteigen zu lassen, wiederholen wolle; er hat auch ganz offen gesagt, daß für ihn im jüdisch-marxistisch-bolschewistischen Rußland der zu erobernde Lebensraum liege.

Präzise feststellbare ökonomisch-gesellschaftliche Herrschaftsinteressen des Spätkapitalismus haben in die ungeheuerlichen Militarisierungs- und Kriegsprozesse des 20. Jahrhunderts hineingeführt, und nicht etwa irgendwelche individuellen Aggressionen, nationalen Vorurteile oder neutrales Versagen von Diplomaten.

V.

Erste Versuche einer Abrüstungspolitik zwischen den Kriegen im Völkerbund standen völlig im Schatten eines noch ganz ungebrochenen militärischen Denkens; sie hatten weitgehend Alibicharakter; man war von vornherein nicht gewillt, zu irgendwelchen Resultaten zu kommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Bemühungen ernsthafter. Häufig wird zynisch von den Abrüstungsbemühungen gesprochen. Das ist zwar, wenn man die Langsamkeit des Prozesses betrachtet, verständlich, geschichtlich aber nicht gerechtfertigt. Wenn man das völlige Desinteresse, mit dem fast alle Staatsmänner in den zwanziger Jahren über Abrüstungspolitik gesprochen haben, vergleicht mit der relativ ernsthaften Erkenntnis auch der Machteliten, daß der Krieg kein Mittel der Politik mehr ist und daß daher zumindest Ansätze eines Rüstungsstopps gefunden werden müssen, kann man zu dem Schluß kommen, daß die Bemühungen um eine abgerüstete Welt, geschichtlich gesehen, nicht den Eindruck völliger Stagnation machen, Das Bewußtsein, daß man mit Krieg, mit Militär, keine politischen Probleme mehr lösen kann, hat sich ungeheuer verstärkt.

VI.

Dieser Einsicht steht ein Faktum entgegen: die Tatsache, daß es in beiden Gesellschaftssystemen, im staatswirtschaftlichen System des Ostens wie auch im privatwirtschaftlichen des Westens, massive gesellschaftliche Herrschaftsinteressen am militärischen Bereich gibt. Das Militär ist auch dann, wenn die Staatsmänner erkannt haben, daß es außenpolitisch zwecklos geworden ist, ein außerordentlich brauchbares Mittel geblieben, um Herrschaft innerhalb der Gesellschaft auszuüben. Das Militär ist eine autoritäre Schule der Nation, eine Schule der Unterordnung, eine Schule, in der man die unbezweifelbaren Werte der eigenen Gesellschaft und die Bösartigkeit des Gegensystems beigebracht bekommt. Der Militärapparat ist ferner ein Instrument, mit dem man in Krisensituationen sozialrevolutionäre Tendenzen unterdrücken kann. Nicht nur die krassen Beispiele Griechenland und ČSSR sind hier zu nennen. Gleichzeitig muß man auch daran erinnern, daß nach der Notstandsverfassung, die in das Bonner Grundgesetz eingebaut worden ist, laut Artikel 87a die Streitkräfte zum Objektschutz bei inneren Gefahren und zur Bekämpfung von Aufständen herangezogen werden können. Auch in der Bundesrepublik gibt es also Leute, die offenbar meinen, es könnte eine Situation eintreten, in der man die Divisionen im Innern braucht.

Schließlich ist der ganze militärische Komplex nach wie vor ein außerordentlich wichtiges Instrument, um Aggressivität von innen nach außen abzulenken. Wir müssen zusammenhalten, weil die Bösen draußen, die bösen Kommunisten oder bösen Imperialisten, uns bedrohen. Dies hat einen weiteren Disziplinierungseffekt. Denn damit gilt derjenige, der im Innern gleichwohl Kritik übt, als jemand, der bewußt oder unbewußt ein Helfer des Feindes ist. Die Teilnehmer am Ostermarsch wurden mit Vorliebe als Kommunisten diffamiert, die Dubcek-Anhänger wurden als Helfershelfer des Imperialismus gebrandmarkt. Es gibt massive innerpolitische Interessen, das Militär aufrechtzuerhalten. Richard Lewin hat in einer hervorragenden Satire, die die Form eines Regierungsberichtes hat, dargestellt, wie außerordentlich unerwünscht etwa für die Gesellschaft der Vereinigten Staaten eine abgerüstete, entmilitarisierte, friedliche Gesellschaft wäre, die nicht den drohenden Kommunismus als Buhmann hätte. Wenn es den Kommunismus nicht gäbe, müßte ihn die Machtelite erfinden. Dieselbe Funktion hat der Kapitalismus im Osten.

VII.

Daneben gibt es im Westen eine weitere Tendenz, die organisierte Friedlosigkeit produziert, nämlich die ökonomischen Interessen an forçierter Rüstung. Es gibt konjunkturpolitische Interessen: forçierte Rüstungsausgaben zur Stabilisierung der Konjunktur bei mangelnder ziviler Nachfrage. Zur Ehre von Professor Schiller muß gesagt werden, daß er die acht Milliarden, die er ausgegeben hat, um die kleine deutsche Rezession 1966 bis 1968 zu überwinden, nicht für militärische Zwecke verbraucht hat. Aber es kann durchaus eine Situation eintreten, in der ein deficit spending, wie es Hitler mit großem Erfolg betrieben hat, auch bei uns wieder praktiziert wird. Seit der Weltwirtschaftskrise kennen die Vereinigten Staaten keine Friedenskonjunktur mehr. Sie hatten die Depression nicht überwunden bis zum Krieg, und sie haben seit 1940 eine Konjunktur, die mit einem Anteil von zehn Prozent am Sozialprodukt und am Arbeitskräftepotential eine nur rüstungswirtschaftlich stabilisierte Konjunktur ist.

Selbst dort, wo dies nicht der Fall ist, gibt es strukturpolitische Interessen an Rüstungsaufträgen, das heißt Interessen, die bestimmte Wirtschaftsbranchen, beispielsweise Werften und Flugzeugwerke, elektronische Industrie und schwerer Fahrzeugbau, haben. Hier gibt es auch in der BRD gefährliche Tendenzen; die gefährlichste ist die Herausbildung eines neuen Luftfahrtkonzerns. Die Flugzeugindustrie ist bekanntlich eine heilige Küh des Wirtschaftsnationalismus. Jeder mittelgroße Industriestaat glaubt, eine Flugzeugproduktion zu brauchen, obwohl jeder Ökonom weiß, daß ein Flugzeugkonzern heute nicht mehr mit zivilen Aufträgen auszulasten ist.

Damit kommen wir zum letzten, sehr fatalen Faktor, der hier hereinspielt, nämlich den forschungspolitischen Interessen. Der biedere Bürger sagt, Flugzeuge sind hochtechnisierte Apparate; ein Volk, das nicht Luft- und Raumfahrzeugbau betreibt, ist nicht mehr ernst zu nehmen. (Es gäbe ja vielleicht noch andere zivile hochkomplizierte Apparate, die man bauen könnte; die Japaner haben ungeheure Wirtschaftserfolge ohne solche Rüstungswehrtechnik erreicht.) Man glaubt, daß Rüstungsforschung und Rüstungstechnik, die unter außerordentlich verschwenderischen Bedingungen entwickelt werden, ein hervorragender Weg zum technischen Fortschritt sei. Dagegen ist festzustellen: Die zivile Entwicklung des technischen Fortschritts läßt sich durch direkte Forschung mit einem Viertel der Kosten realisieren, die man beim Umweg über Wehrtechnik ausgeben muß, wo diese zivilen Produkte nur Abfallprodukte sind. Übrigens ist es eine Bankrotterklärung des ganzen privatwirtschaftlichen Systems, wenn der technische Fortschritt nur als Abfallprodukt von militarisierter Wirtschaft möglich ist. Dennoch betrachtet die Industrie hohe staatliche Rüstungsforschungsausgaben immer mehr als nationales Anliegen. Insbesondere in Westdeutschland ist die Gefahr groß, auf diese Weise wieder in gefährliche Rüstungsforschungsausgaben hineinmanövriert zu werden. Dagegen soll eine Studie des westdeutschen Forschungsministeriums erwähnt werden, die immerhin auf die Idee kam, man könne die Forschungsförderung, wenn sie sich schon mit dem Profitmaximierungsprinzip nicht mehr vereinbaren läßt, in Form gemeinwirtschaftlicher Unternehmen aufbauen. Das hätte den Vorteil, daß man ohne Rücksicht auf verdeckte Profitinteressen durch Lernmaschinen, Heilapparate und dergleichen zukunftssichere Projekte einen „Weltmarkt erobern“ könnte, also auf Grund friedlicher Forschung, ohne den verschwenderischen, tödlichen Umweg über die Rüstungsforschung.

VIII.

Nachdem man erkannt hatte, daß das Militär kein Mittel der Politik mehr ist, hat schon Mitte der fünfziger Jahre Kissinger eine Theorie „fairer Atomturniere“ entwickelt: man könnte sich darauf einigen, zunächst nur begrenzte atomare Schläge auszutauschen und sich dann wieder an den Verhandlungstisch setzen. In neuerer Zeit haben Leute wie Teller, Maxwell Taylor, Hermann Kahn, leider in ihrem Gefolge auch Helmut Schmidt (in seinem neuen Buch „Strategie des Gleichgewichts“), die Auffassung vertreten, wenn man nicht gleich atomar-strategisch vorgehe, sondern zunächst mit konventionellen Waffen beginne, wäre vielleicht das Kriegsrisiko wieder kalkulierbar. Diese Ideologie des begrenzten Krieges mag für die Supermächte sogar ein Moment von Wahrheit haben. Sie können in dieser oder jener Krise den Krieg in Grenzgebieten zunächst riskieren. Die NATO-Konzeption geht allerdings davon aus, daß man sehr schnell zumindest taktische Atomwaffen einsetzen muß, weil man konventionell wenig zu bieten hat. Unsere Verteidigung heißt also verbrannte Erde. Die jüngsten Enthüllungen des „Stern“ über amerikanische atomare Einsatzpläne bestätigen dies. Für die BRD ist diese strategische Ideologie tödlich. Für die Supermächte mag sie eine Gnadenfrist bedeuten, für die Grenzstaaten der Blöcke stellt sie eine noch tödlichere Bedrohung dar als die vorherige Strategie der massiven Vergeltung, weil nämlich der Krieg plötzlich wieder begrenzbar, riskierbar scheint. Kritische Friedensforschung kann nicht einfach Strategien als Fakten diskutieren, sondern muß sie als Ideologien erweisen, das heißt, fragen: Wozu werden solche offenbar paranoid strategischen Konzepte gebraucht?

Wenn man diese Interdependenz ökonomisch-ideologischer und psychologischer Wirkungen und Ursachen erkannt hat, dann ist es auf dieser Basis einer Herrschaftskritik, einer Analyse von Herrschaftsinteressen natürlich außerordentlich sinnvoll, die sozialpsychologischen, die ideologischen Epiphänomene auch als solche offenzulegen. Denn wenn die Menschen sich nicht mehr nationalistisch, antikommunistisch oder antiwestlich aufhetzen lassen, dann wird es schwerer für die Machteliten, weiterhin überdimensionale Militärapparate aufzubauen. Nichts gegen Ideologiekritik, nichts gegen eine antimilitaristische Sozialpsychologie und Pädagogik. Kritische Friedensforschung muß jedoch dafür sorgen, daß solche Bemühungen nicht ohnmächtig in einem idealistischen Himmel über der gesellschaftlichen Wirklichkeit hängenbleiben. Sie muß die sozioökonomischen Ursachen dieser verhängnisvollen aggressiven Deformationen des Menschen entdecken.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
1970
, Seite 683
Autor/inn/en:

Fritz Vilmar:

Geboren 1929 in Insterburg/Ostpreußen, gestorben 2015 in Berlin. War nach seinem Soziologiestudium in der politischen Erwachsenenbildung tätig, 1959-70 Referent in der Abt. Bildungsarbeit beim Vorstand der IG Metall. Er war einer der Mitbegründer der Friedensforschung. Seit den siebziger Jahren konzentrierte er seine Arbeit auf die Theorie reformtheoretisch fundierter humaner Alternativen zu den herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen.

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