FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1978 » No. 299/300
Michael Siegert

Nicht vom Himmel gefallen

Die Geschichte des Anschlusses in der Ersten Republik enthält noch vieles, was sich unsere Schullehrbücher bisher nicht träumen ließen. Zum Beispiel, daß am Republikgründungstag, dem 12. November 1918, von der provisorischen Nationalversammlung Deutschösterreichs auch der Anschluß an die „Deutsche Republik“ erklärt wurde (die Ententemächte verhinderten es — formell dann im Friedensvertrag von Saint-Germain 1919).

Im April und Mai 1921 fanden in Tirol und Salzburg Volksabstimmungen statt, die große Mehrheiten für den Anschluß brachten (die Westmächte unterbanden weitere durch finanziellen Druck). Anfang der zwanziger Jahre gab es eine intensive Zusammenarbeit bayrischer Freikorps und österreichischer Heimwehren mit Stoßrichtung Anschluß (scheiterte in Hitlers Bräuhausputsch November 1923). Durchgehend gab es eine Zusammenarbeit deutschnationaler Vereine hüben und drüben.

Weniger bekannt ist die Tätigkeit des „Österreichisch-deutschen Volksbundes“, an dem sich Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Deutschnationale beteiligten; er trieb u.a. die Rechtsangleichung auf Beamtenebene voran. Der Leiter des deutschen Zweigvereins (Deutsch-österreichischer Volksbund), der Sozialdemokrat Paul Löbe, war sogar noch nach Hitlers Machtergreifung bereit, am Anschlußtreiben mitzuwirken (die Nazis verzichteten).

Im März 1931 suchten die beiden Außenminister Schober und Curtius einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise durch eine österreichisch-deutsche Zollunion (scheiterte am finanziellen Gegenzug Frankreichs: Bankenkrachs, Währungssturz). Wirtschaftlicher Druck wirkte ständig, vor allem über deutsches Kapital in Österreich (z.B. die Rolle der Alpine-Montan-Gesellschaft beim schiefgegangenen „Pfrimer-Putsch“ der Heimwehren im September 1931).

Dann folgten die Verhandlungen Dollfuß’ und anderer mit den in Deutschland an die Macht gekommenen Nazis 1933, nach deren Scheitern die Braunen am 26. Juli 1934 in Wien putschten und Dollfuß dabei umbrachten. Schuschnigg, der immer schon prodeutsch dachte, [1] vollzog seine endgültige Wendung zum deutschfreundlichen Kurs Mitte 1936: Am 11. Juli 1936 wurde ein „Befriedungsabkommen“ mit Deutschland geschlossen, das den Nazis wieder politische Betätigung und sogar Teilhaberschaft an der österreichischen Staatspartei ermöglichte.

Der letztere Punkt wurde durch die Gründung des sogenannten „Sieberer-Komitees“ der Nazis am 11. Februar 1937 noch ausgebaut. Von da ab ging’s schnell bergab, und Schuschniggs Teilkapitulation von Berchtesgaden ein Jahr später (12. Februar 1938) war nur eine logische Konsequenz dieses Weges. Das kurze Aufbegehren Schuschniggs mit der Volksabstimmung gab Hitler die Gelegenheit seinem eigenen innenpolitischen Druck (Inflationskrise, Streiks, drohender Militärputsch) nach außen auszuweichen: Einmarsch der Reichswehr in Österreich am 11. März 1938.

[1Michael Siegert: Anschluß von innen. Was Dokumente Österreichs weiland Diktator Schuschnigg nachrufen, NF Jänner/Februar 1978

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1978
, Seite 61
Autor/inn/en:

Michael Siegert:

Geboren am 12. Oktober 1939 in Reichenberg (Liberec), gestorben am 23. Oktober 2013 in Wien; studierte längere Zeit Naturwissenschaften und Geschichte an der Universität Wien; 1963 Vorsitzender der Vereinigung demokratischer Studenten; später Mitarbeiter der sozialistischen Studentenorganisation; war von 1973 bis 1982 Blattmacher des FORVM.

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