FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1978 » No. 289/290
Wolfgang Soergel

„Nicht einen Dinar können wir verteilen!“

Aus der Sitzung eines jugoslawischen Arbeiterrats

Wie die Mitbestimmung der Arbeiter in der jugoslawischen Selbstverwaltung ausschaut, zeigt dieses Beispiel aus einem mazedonischen Betrieb. Es geht um die Verteilung von betrieblichen Überschüssen. Ein westlicher Besucher (Wolfgang Soergel) schrieb in der Sitzung vom 18. Oktober 1973 mit (Wissenschaftlicher Dienst Südosteuropa, Südostlnstitut München, Heft 3/1977).

8.35 Uhr: In Abwesenheit des Arbeiterrat(AR)-Vorsitzenden eröffnet sein Stellvertreter, Diplomingenieur und Leiter der Zementmühlen, die Sitzung.

10.14 Uhr: Der Finanzdirektor erstattet den Bericht über das Geschäftsresultat der ersten neun Monate des Jahres: der Umsatz betrug 263 Millionen Dinar; nach Abzug aller Kosten, Steuern und Abgaben verbleiben 90,8 Millionen Dinar zur Verteilung auf die Fonds und an die Beschäftigten. Entgegen dem in Mazedonien abgeschlossenen gesellschaftlichen Abkommen über die Einkommensverteilung [einer gesellschaftlichen Rahmenvereinbarung, die zu krasse Einkommensunterschiede zwischen einzelnen Unternehmen und Branchen verhindern soll] hat der Betrieb in den ersten neun Monaten vom erzielten Gewinn bereits mehr persönliches Einkommen an die Beschäftigten verteilt, als es nach dem Schlüssel des Abkommens berechtigt gewesen wäre: verteilt wurden nämlich 27,98 Millionen Dinar, zulässig gewesen wären jedoch nur 26,63 Millionen Dinar. Nach Artikel 11 des gesellschaftlichen Abkommens darf jedoch über die eigentlich zulässige Höchstgrenze hinaus noch die Differenz zur letztjährigen Ausschüttung ausbezahlt werden, falls die diesjährige nach den Kriterien des Abkommens ein geringeres persönliches Einkommen als im Jahr zuvor für die Beschäftigten zur Folge hätte. Da im letzten Jahr nach dem geltenden Berechnungsschlüssel 28,43 Millionen Dinar ausgeschüttet wurden, könnten noch weitere 456.000 Dinar (28,43 Millionen minus 27,98 Millionen) verteilt werden.

10.40 Uhr: Ein Transportarbeiter im schmutzigen blauen Arbeitskittel, dem das offensichtlich zuwenig ist: „Hier wird über Disziplin und bessere Arbeit geredet, aber wir brauchen jetzt erstmal ein bißchen Geld. Wozu haben wir denn unser Mandat und die neuen Verfassungsartikel, als daß wir das jetzt hier beschließen können!“

Der Personalchef, der zugleich Vorsitzender des Verwaltungsausschusses (VA) ist, erstattet Bericht über die Sitzung des VA vom Vortage (währenddessen malt der Finanzdirektor die Unternehmensabrechnung an die Tafel): Der VA sei sich bewußt gewesen, daß die Lebenshaltungskosten im laufenden Jahr um 28 Prozent gestiegen seien, wohingegen das persönliche Einkommen fast stagniert habe (Durchschnittseinkommen im Betrieb 1972: 2.422 Dinar; Jänner-September 1973: 2.623 Dinar). Aber das Einkommen im letzten Jahr sei sehr hoch gewesen, und die Bestimmungen ließen jetzt keine andere Wahl. Der Verwaltungsausschuß habe deshalb dem Finanzbericht zugestimmt und empfehle das gleiche dem Arbeiterrat.

11.20 Uhr: Der Generaldirektor meldet sich, redet sehr eindringlich: „Hier haben wir es nicht nur mit einer Vereinbarung oder einem gesellschaftlichen Abkommen zu tun. Wir haben ein Gesetz, ich wiederhole, ein Gesetz. Dagegen können wir nichts beschließen, das muß jedem ganz klar sein! Wozu ist im Fernsehen immer von einer inneren Erneuerung, der Sicherung unserer Revolution, der Bereinigung unserer finanziellen Schwierigkeiten die Rede? Nicht einen Dinar mehr können wir verteilen!“

Der Vorsitzende der Arbeiterversammlung: „Wie können unsere persönlichen Einkommen auf dem gleichen Stand bleiben, wenn die Preise zur gleichen Zeit so ansteigen! Dann muß der Arbeiterrat etwas beschließen!“

Generaldirektor: „Wir stehen bereits an der Spitze der Industrie in ganz Mazedonien, was die Höhe der Einkommen angeht!“ Meister und Kranführer: „Die Berechnungen an der Tafel sind schon in Ordnung. Aber bei uns herrschen schwere Arbeitsbedingungen, Staub, Dreck, Lärm — und die Löhne in der Bürokratie, die steigen! Ich weiß zum Beispiel, was die, die in der Sozialversicherung beschäftigt sind, jeden Monat kriegen. Ich bin für volle Auszahlung!“

Leiter der Bau-Abteilung: „Wenn die Lebenshaltungskosten um 28 Prozent gestiegen sind, müssen wir das ausgleichen ...“

Die Diskussion wird heftiger, drei weitere Arbeiter schalten sich ein.

Der Mineur, im Gesicht rot vor Erregung, wendet sich zum Meister, der beschwichtigend gesprochen hatte: „Du hast gut reden! Bei dir arbeiten ja auch Frau, Tochter und Sohn. Wir sind zu viert, aber nur ich arbeite, und das reicht nicht für uns alle; wenn das so weitergeht, dann brauchen wir nicht in die kapitalistischen Länder zu gehen, wir haben ja den Kapitalismus bereits bei uns.“

Der Vorsitzende der Arbeiterversammlung: „Wir haben gute Geschäftsergebnisse, also haben wir auch das Recht, sie zu verteilen!“

Erneut liefern sich der Mineur und der Personalchef ein Wortgefecht; der Generaldirektor hat inzwischen seinen Kopf auf den Tisch gelegt und in den Händen vergraben, um seiner Verzweiflung über die Uneinsichtigkeit der AR-Mitglieder ostentativ Ausdruck zu geben, da die große Mehrheit, wie es den Anschein hat, für die Auszahlung des Überschusses ist.

12.15 Uhr: Aufforderung zur Abstimmung wird laut. Der Personalchef will, daß zunächst über den Finanzbericht abgestimmt wird. Allgemeines Durcheinander. Der Generaldirektor steht wieder auf, stellt sich in die Mitte des Raumes und wiederholt mit relativ ruhiger Stimme: „Ich sage euch nur, ich werde das nicht zulassen! Ich werde nicht zulassen, daß mehr als zulässig zur Auszahlung beschlossen wird.“

Schließlich beruhigt sich alles, es kommt zur Abstimmung.

Der AR-Vorsitzende fragt: „Wer ist für den Vorschlag des Verwaltungsausschusses?“

Nur der Meister und der Betriebsratsgbmann heben die Hand.

„Wer ist dagegen?“

Alle anderen Hände fliegen hoch, auch die des AR-Vorsitzenden.

13.03 Uhr: Die Sitzung ist geschlossen.

Der Betriebsratsobmann kommentiert hinterher: „Das wird noch Schwierigkeiten geben. Die Bank wird uns später nichts mehr geben. Wir stehen doch sowieso an der Spitze der Lohnskala in Mazedonien. Das ist doch ein Abkommen, das auch die Gewerkschaften in ganz Jugoslawien unterschrieben haben ...“

Die „neue Klasse“ (Djilas) prunkt & geizt:
Ehepaar Broz-Tito bei Papst Paul (1971) — sie mit Schleier und langem Kleid, er mit Cut und Stößer

Nachspiel

Auf seiner Sitzung am 10. Dezember 1973 hebt der Arbeiterrat seinen Beschluß vom 18. Oktober wieder auf und akzeptiert den Vorschlag des Verwaltungsausschusses.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1978
, Seite 76
Autor/inn/en:

Wolfgang Soergel:

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