FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1963 » No. 109
Hans Heinz Stuckenschmidt

Musik unter Hitler (II)

Inzwischen hatte Erich Kleiber durchgesetzt, in einem Konzert mit der Staatskapelle in der Staatsoper Unter den Linden ein neues Werk von Alban Berg zu dirigieren. Er hatte mit Berg seit langem wegen der Uraufführung der Oper „Lulu“ korrespondiert. Die Komposition zog sich länger hin, als beide erwartet hatten, und damit verringerten sich die Chancen, in Deutschland die Premiere zu veranstalten. Nun stellte Berg aus der noch unvollendeten Oper eine Reihe von Stücken als „Lulu-Symphonie“ zusammen. Kleiber erhielt von Göring polizeilichen Saalschutz für die Uraufführung. Sie fand statt, es gab starken Beifall, dazwischen Pfuirufe und einen einsamen Schrei „Heil Mozart“. Das war am 30. November. Tags darauf war die Presse voll von meist vernichtenden Kritiken.

Die „B. Z. am Mittag“ hatte den Mut, meine sehr positive Besprechung zu drucken. Es war meine letzte Kritik in Berlin. Am Tag des Furtwängler-Rücktritts schickte mir die Reichspressekammer einen ausführlichen Brief, ich wäre ein negativer Kritiker, hätte mich einer „Jüdischerseits stark beeinflußten Richtung der Musik“ verschrieben und sei darum für „das NS-Deutschland“ nicht tragbar. Mein Name sei von der Schriftleiterliste gestrichen. Ich hätte mich jeder kulturellen Tätigkeit zu enthalten. So wurde ich noch vor meinen jüdischen Kollegen verboten. Am 5. Dezember 1934, sofort nach dem Rücktritt Furtwänglers, legte auch Kleiber sein Amt nieder.

Von diesen Dezembertagen 1934 an wußte man, daß moderne Musik in Hitlerdeutschland nicht mehr verteidigt werden konnte. Aber was war moderne Musik? Goebbels hielt am 6. Dezember 1934 eine Rede gegen atonale Musik und nannte in diesem Zusammenhang auch Hindemiths „Neues vom Tage“, obwohl in dem Stück kein atonaler Takt vorkommt. In allen Kulturprogrammen der Nazis, von Hitler bis Alfred Rosenberg, wurde der „deutschen“ Musik etwas entgegengestellt, was man Kulturbolschewismus nannte. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß die Nazi diesen Terminus geprägt haben; er scheint viel eher aus der Sphäre des deutsch-nationalen Konservativismus zu stammen. Sicher ist, daß alle bürgerlichen Parteien zwischen 1924 und 1936 ihn ihrem Wörterbuch einverleibt hatten, bis tief in die Reihen der damaligen Demokraten hinein. Als typischer Kautschuk-Begriff paßte er ideal zu einer Kampfpraxis, die sich stets davor hütete, präzis zu werden — dazu fehlten ihr nämlich die Grundlagen. Unter Kultur stellte sich jeder etwas Beliebiges vor; unter Bolschewismus auch. Jene galt als begehrens-, dieser als verabscheuenswert. Ihre Koppelung zu einer Schreck- und Drohformel war demagogisch nicht unwitzig.

Man muß sich freilich hüten, das Doppelwort philologisch zu untersuchen. Ganz abgesehen von der traurigen lateinisch-slawischen Wurzelvermanschung ergibt sich da ein Sinn, der dem Wort wohl nicht an der Wiege gesungen war. Kultur heißt wörtlich: Bildung, Pflege, Zucht, Sittenverfeinerung. Und Bolschewiki sind Angehörige einer Mehrheitspartei. So wäre also Kulturbolschewismus = Mehrheitsbildungspolitik. Aber das ist beileibe nicht gemeint. Man verstand vielmehr darunter eine Geistes- und Kunstrichtung, die auf bilderstürmerisch-revolutionäre Weise gegen das bürgerlich Überkommene anging. Expressionistische und auch schon impressionistische Malerei, atonale Musik und gewisse Formen moderner Dichtung gehörten unterschiedslos dazu, und oft wurde einfach, was einem der Geschmacksdiktatoren mißfiel, in diese Kategorie verwiesen, nach dem Prinzip des österreichischen Politikers Karl Lueger „Wer ein Jud ist, bestimme ich“. Die Ursachen für die Abneigung gewisser politischer Richtungen gegen diese Art Kunst bilden einen ganzen psychologischen Komplex, den man übrigens an der stalinistischen Kunstpolitik und ihren heutigen Rückständen ebenso studieren kann wie an der hitlerischen.

Da ist vor allem das Minderwertigkeitsgefühl vor etwas, das man nicht versteht. Man nimmt es dem Künstler übel, daß er es wagt, klüger zu sein, als man selbst ist. Da man sonst nichts gegen ihn vorbringen kann, verdächtigt man seine Motive. Man behauptet z.B. einfach, er sei ein Schwindler, er könne überhaupt nichts, mache sich über die Mitmenschen lustig und ziehe ihnen für sinnlose Machwerke das Geld aus der Tasche. Neben solchen mit Neid gemischten Inferioritätskomplexen machte sich in dem antikulturbolschewistischen Kampf eine banausenhafte Pseudo-Ästhetik breit, die von der Kunst ganz bestimmte Dinge verlangte. Zum Beispiel, daß sie die Wirklichkeit nicht darstelle, sondern photographiere; dann, daß sie monumental wenn nicht gigantisch sei; drittens aber, daß sie die Ziele des Staates und der Macht fördere.

In der Malerei hatte man es verhältnismäßig leicht, die Grenzen zu ziehen. Hoffnungslos aber wurde die Verwirrung, als man den Kampf auf musikalisches Gebiet übertrug. Da alle Versuche einer Systematisierung scheiterten, da bei den verschiedenen Stellen, die sich verpflichtet fühlten, in Kulturdinge hineinzureden, keine Übereinkunft zu erzielen war, begnügte man sich schließlich mit dem Billigsten, was die NS-Terminologie hergab. Man bezeichnete mißliebige Musik einfach als jüdisch oder jüdisch beeinflußt. Außerdem war alles Atonale, waren Kompositionen in der Zwölftontechnik, waren der Jazz und seine künstlerischen Derivate, waren auch exotische Rhythmen grundsätzlich entartet. Überdies sollte der Künstler in einer nebulosen Gefühlswelt leben, in der die Einfälle und göttlichen Inspirationen ihm zuflogen wie dem Besucher des Schlaraffenlandes die gebratenen Tauben. Der Intellektuelle — oder wie einer der Matadore der NS-Kultur formulierte: die Intellektbestie — war der Gefühlsbestie grimmigster Feind.

Bezeichnend ist, daß der Widerstand sich immer in erster Linie gegen die stärksten und erfolgreichsten Begabungen unter den „Kubos“ — so lautete die populäre Abkürzung für Kulturbolschewist — richtete, daß etwa Hindemith verboten, seine Schule und unmittelbare Nachfolge aber erlaubt war. Ein so radikaler Komponist wie der 1941 gefallene Edmund v. Borck wurde nicht auf den Index gesetzt, obgleich er die Stil-Eigentümlichkeiten der Moderne, die als entartet galten, viel temperamentvoller zur Schau trug als der damals schon gemäßigte Hindemith.

Arnold Schönberg wäre als Jude verboten gewesen, auch wenn er komponiert hätte wie Mendelssohn. Daß er aber der Vater der modernen Wiener Schule, der Vertreter von Atonalität und Zwölftontechnik war, machte seinen Fall vom Standpunkt der NS-Kultur besonders ergiebig. Es bewies die Denkunfähigkeit dieser Machthaber und die Unehrlichkeit ihrer Kampfmethoden, daß man sich nicht einmal die Mühe nahm, ernstlich zu systematisieren. Die Beschimpfungen, die statt dessen gegen Schönberg vorgebracht wurden, waren ebenso schlecht erfunden wie unsachlich. Man behauptete etwa, daß er in seinem Kompositionsunterricht in der Akademie der Künste alle Regeln verspotte und die Meisterwerke der Musik in den Schmutz zerre, daß er außerdem Nichtskönnen und Regellosigkeit propagiere. Ausgerechnet Schönberg, der rigoroseste, mitunter pedantischeste Lehrer des strengen Stils, der gründlichste Kenner Beethovens und Brahms’, der unerbittliche Feiler und Schürfer, wenn es um Probleme der kompositorischen Gestaltung ging! Wer seine Analysen erlebt hat, ist tiefer in die Geheimnisse dei großen deutschen Musik eingeweiht worden, als alle Gefühlsherolde der Welt ermessen können.

Von den weniger berühmten Anhängern Schönbergs galten die meisten als unerwünscht, wurden aber nicht wirklich verboten. Wie sehr es bei dem Kampf gegen den „Kulturbolschewismus“ in Wahrheit nur gegen Personen und nicht gegen eine definierbare Sache ging, zeigt die Erfahrung, daß auch moderne Werke Duldung und sogar Förderung erfuhren, wenn ihre Autoren offiziellen Schutz genossen. So brachten die Opernhäuser in Stuttgart und Berlin-Charlottenburg den „Michael Kohlhaas“ des Dänen Paul v. Klenau heraus, und die NS-Presse lobte das Stück, obwohl es in der Zwölftontechnik geschrieben war — was festzustellen die Herren allerdings nicht vermochten. Auch der Schönberg-Schüler Winfried Zillig hatte mit seinen Opern „Rosse“ und „Das Opfer“ Erfolg und konnte seine zwölftönigen Kammer- und Orchesterwerke aufführen.

Unangefochten und unbeschimpft blieb allerdings keiner der modernen Komponisten. Paul Höffer, Boris Blacher, Richard Mohaupt, Werner Egk und Carl Orff waren lange Zeit mit jedem neuen Werk den kritischen Verdächtigungen der gleichgeschalteten Presse ausgesetzt. Besonders unrühmliche Beiträge zu der umfangreichen, mit allen Mitteln arbeitenden Strategie von Denunziation, politischer Verdächtigung und persönlicher Diffamierung lieferten bald zwei Fachblätter: die Regensburger „Zeitschrift für Musik“, deren Gründer Robert Schumann es sich nicht hätte träumen lassen, daß hier einst der Ungeist des „Kampfbundes für deutsche Kultur“ seine Tiraden loslassen würde; und die ehemals so vorbildliche „Musik“, die, seit 1934 Organ der HJ und seit 1935 Organ der NS-Kulturgemeinde, zum Tummelplatz der musikkritischen Marktschreier Alfred Rosenbergs wurde. Obwohl viele ihrer Mitarbeiter im rein Sachlichen meist nur komisch wirkten und auch nie ernst genommen wurden, bildeten sie durch ihre Skrupellosigkeit und ihren Haß gegen jeden überlegenen Geist doch eine Gefahr für den Rest deutschen Musiklebens unter Hitler.

Untereinander bekämpften sich diese Leute fast ebenso gehässig, wie sie ihre gemeinsamen Gegner verfolgten. In Musikdingen war das Propagandaministerium gegen das Amt Rosenberg, beide wurden von der HJ bekämpft, Göring machte seine eigene Kulturpolitik, die Wehrmacht schützte jeden, der von einer dieser Gruppen verfolgt wurde. Nur die Juden fanden keinen generellen Schutz mehr, bestenfalls individuelle Hilfe bei Freunden, die damit aber sich selbst gefährdeten.

Am 30. August 1935 wurde für die deutschen Orchester der Arier-Paragraph eingeführt. Schon ein Jahr vorher waren alle deutschen Chöre im Deutschen Sängerbund verschmolzen worden, der dem Führer-Prinzip unterstand. Furtwängler hatte seinen Frieden mit den Nazis gemacht und kehrte in die Leitung der Berliner Philharmonie zurück. Kurz danach legte Strauss sein Amt als Präsident der Musikkammer nieder. Am 12. Oktober 1935 verbot der Reichssendeleiter alle Jazz- und Negermusik in den deutschen Sendern. Am 27. November 1936 wurde durch Erlaß des Propagandaministeriums die Musikkritik verboten und durch „Kunstbetrachtung“ ersetzt. Am 19. Juli 1937 wurde in München durch einstimmigen Beschluß der — von Franz Liszt gegründete — Allgemeine Deutsche Musikverein, Veranstalter der alljährlichen Deutschen Tonkünstlerfeste, als unvereinbar mit den musikalischen Idealen der HJ aufgelöst. Im selben Jahr kamen in Frankfurt, nicht ohne Widerstand von seiten der NS-Presse, Carl Orffs „Carmina Burana“ zur Uraufführung. Am 10. Februar 1938 dirigierte Karl Böhm an der Dresdner Staatsoper die erste und einzige Aufführung von Richard Mohaupts Oper „Die Wirtin von Pinsk“. Das Stück wurde unmittelbar nach dieser wahrhaften Ur-Derniere verboten, weil Mohaupt eine jüdische Frau hatte. Das Jahr 1938 brachte eine ungemeine Verschärfung der Juden-Verfolgung. Im Mai wurde arischen Lehrern verboten, nichtarische Schüler zu unterrichten. Damit wurde das letzte Band zwischen Juden und Nichtjuden im Bereich der Kunsterziehung zerschnitten.

Der Kampf gegen moderne Kunst erreichte seinen Höhepunkt. Zwar hatte 1934 der Staatssekretär im Propagandaministerium, Dr. Walter Funk, bei der Eröffnung des ersten Deutschen Komponistentages, in der Aula der Berliner Universität verkündet:

Der Nationalsozialismus will die Kunst nicht der Reaktion ausliefern, damit diese alles, was nicht zunft- und klüngelfest ist, in die Schreckenskammern sperrt.

Aber drei Jahre später wurde in München das Haus der Deutschen Kunst — der entkunsteten Art, wie es der Volkswitz nannte — eröffnet und gleich daneben die Schreckenskammer der Entarteten aufgemacht. Und am 22. Mai 1938 eröffnete ein Mann namens Hans Severus Ziegler, Generalintendant in Weimar, die Ausstellung „Entartete Musik“ in Düsseldorf,

um die Verbreitung von Mikroben des musikalischen Verfalls zu hindern und Musik mit marxistischen, bolschewistischen, jüdischen und anderen undeutschen Tendenzen unter Schlagworten wie Atonal und Jazz zu unterbinden.

Zur Eröffnung wurde eine „Ostmark-Ouverture“ des Königsbergers Otto Besch gespielt. Unter den angeprangerten Komponisten fehlte kaum einer mit Weltruf. Die Schönberg-Schule war vollständig vertreten, Strawinsky und Hindemith fehlten nicht. Nur Béla Bartók suchte man vergebens. Als der Komponist, ein leidenschaftlicher Antifaschist, von dieser Unterlassung erfuhr, sandte er ein Protestschreiben an das Propagandaministerium, in dem er verlangte, ebenfalls ausgestellt zu werden.

Sehr zum Ärger der Verantwortlichen für die Düsseldorfer Ausstellung weigerte sich der nunmehrige Präsident der Reichsmusikkammer, Professor Peter Raabe, die Eröffnungsrede zu halten, als die Ausstellung auch in Weimar gezeigt wurde. In dem recht dubiosen Bilde dieses Mannes, der in naivem Idealismus glaubte, man könne im Hitlerreich deutsche Kultur hochhalten, ist diese Weigerung ein sympathischer Zug. Ein weiteres Ärgernis für die Radikalen war die Uraufführung von Werner Egks „Peer Gynt“ an der Berliner Staatsoper. Tietjen hatte sie bei Göring durchgesetzt; sie fand mit viel Glanz, vom Komponisten geleitet, am 24. November 1938 statt. Das Stück wurde als „Systemmusik“ und Plagiat abgelehnt, und es sah aus, als müsse es vom Spielplan abgesetzt werden. Da erschien in der nächsten Aufführung Hitler; ihm gefiel die Sache, er ließ sich Egk in der Pause kommen und versicherte ihn seiner Bewunderung.

Man kann diese Betrachtungen nicht fortsetzen, ohne einen Blick auf das kulturelle Schicksal jener Juden zu werfen, die in Deutschland geblieben waren. In mehreren deutschen Städten, wie Berlin, Frankfurt, Hamburg, München, Breslau, Köln, Düsseldorf und Stuttgart, taten sich Gruppen von ihnen im Kulturbund Deutscher Juden zusammen. Die außerordentlich reiche Tätigkeit dieses Kulturbundes ist noch nicht erforscht. Nach dem Berliner Material zu urteilen, ist da Bedeutendes geleistet worden. Tatsächlich standen der Organisation, die u.a. Opernaufführungen und Konzerte veranstaltete, Künstler und Künstlerinnen hohen Ranges zur Verfügung. Die Berliner Leitung hatte Dr. Kurt Singer, ein Arzt von vielseitigen Interessen, ein gebildeter Musiker, der eine Zeitlang Intendant der Städtischen Oper in Berlin gewesen war. Singer entkam 1938 nach Holland, besuchte dann kurz Amerika und kehrte nach Holland zurück, wo er von den Nazis gefangen wurde. Er ist 1944 im Konzentrationslager Theresienstadt umgekommen. 1933-36 war musikalischer Leiter der jüdischen Kulturbund-Oper Generalmusikdirektor Joseph Rosenstock, der rechtzeitig nach Japan auswanderte. Eine führende Stellung im Düsseldorfer Kulturbund hatte Erwin Palm, der ein Opfer der NS-Vernichtungspolitik wurde.

Unter den Konzentrationslagern, deren Endziel die Liquidierung der jüdischen Gefangenen war, gab es eines, in dem kulturelle Veranstaltungen nicht nur gestattet, sondern sogar befohlen waren. Es war die Festung Theresienstadt in der Tschechoslowakei. Sie sollte dem Ausland gegenüber ein Musterlager darstellen, dessen Insassen angeblich Menschenrechte genossen. Hier wurden Orchester gegründet, Musikinstrumente herbeigeschafft (die natürlich alle aus jüdischem Besitz stammten). Im Sommer mußten jeden Abend Freiluftkonzerte stattfinden. Die Programme durften keine Musik von deutschen Komponisten, wohl aber von österreichischen enthalten. So kam es zu Aufführungen von Mozarts „Hochzeit des Figaro“ und „Zauberflöte“ sowie Smetanas „Verkaufter Braut“.

Der Nationalsozialismus forderte aber Menschenopfer nicht nur unter den Juden. Eines davon war Hugo Distler, dem kurz vor seinem Selbstmord eröffnet wurde, man werde ihn zur Wehrmacht einziehen. Für Künstler, die dem Regime genehm waren, gab es die sogenannte UK-Stellung, die sie vor dem Wehrdienst schützte. Machte sich einer unbeliebt, so wurde sie aufgehoben. Auf diese Weise kam der hochbegabte Edmund von Borck an die italienische Front, wo er am 12. Februar 1944 bei Nettuno fiel. Einer der begabtesten jungen Nachwuchskomponisten aus Österreich, der 1926 geborene Richard Geyer, ein Schüler von Josef Marx, wurde trotz Furtwänglers Einspruch zu einer Panzergrenadier-Einheit geholt und fiel 1944 in Rußland.

Die politische Denunziation schoß um so mehr ins Kraut, je mehr das Kriegsglück sich gegen die Nazis wandte. Zu den ersten Opfern hatte schon am 30. Juni 1934 der Münchner Musikkritiker Willi Schmid gehört, der in der Redaktion verhaftet und sofort erschossen wurde. Nachher stellte sich heraus, daß ein anderer Willi Schmid gemeint war. Im Zusammenhang mit der Münchner Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ der Geschwister Scholl wurde am 14. Mai 1934 der Musikwissenschaftler und bedeutende Ästhetiker Professor Dr. Kurt Huber hingerichtet.

Im April 1943 wurde auf Grund von Denunziationen zweier Nationalsozialistinnen — die eine war eine recht namhafte Konzertsängerin — der 27jährige Pianist Karl Robert Kreiten in Heidelberg verhaftet, weil er gesprächsweise die Niederlage Hitlers vorausgesagt hatte. Kreiten war ein genialer Musiker, auch von Furtwängler hochgeschätzt; dieser bemühte sich, ihn aus der Haft befreien zu lassen. Trotzdem wurde Kreiten im September hingerichtet, und seine Eltern bekamen, wie üblich, die Rechnung von 638 Mark für Gerichts- und Hinrichtungskosten, die binnen acht Tagen beglichen werden mußte.

Am 26. April 1944 wurde in Brandenburg der Kirchenmusiker und Wissenschaftler Pater Kilian Kirchhoff aus ähnlichen Gründen hingerichtet. Zu den wenigen Juden, die nach der Kristallnacht dem Nazibereich entfliehen konnten, gehörte Leo Blech. Er hatte bis 1937 unter dem Schutz Görings in der Berliner Staatsoper dirigiert, ging dann aber nach Riga. Als die Deutschen 1938 Lettland besetzten, drohte ihm die Verhaftung. Tietjen setzte bei Göring durch, daß man Blech nach Schweden ausreisen ließ, wo er an der Stockholmer kgl. Oper ein neues Betätigungsfeld fand.

Es fällt schwer, gegenüber diesen Greueln und der immer zunehmenden Barbarisierung des Kulturlebens auf die positiven Dinge hinzuweisen. Ich erwähnte schon, daß Komponisten wie Egk und Orff gegen gewisse Widerstände der Partei und des einflußreichen Amtes Rosenberg aufgeführt wurden und Beifall fanden. Merkwürdigerweise war das Musiktheater in diesen Jahren nicht nur unabhängiger, sondern auch fruchtbarer als der Konzertsaal. Rudolf Wagner-Régeny wurde 1935 in Dresden durch seinen „Günstling“ berühmt; 1939 brachte Berlins Staatsoper seine „Bürger von Calais“, 1941 Wien seine „Johanna Balk“ zur Uraufführung. Hermann Reutters „Doktor Johannes Faust“ und „Odysseus“ kamen 1936 und 1942 in Frankfurt heraus. 1941 brachte Wuppertal Boris Blachers „Fürstin Tatakanowa“, 1942 Frankfurt Werner Egks „Columbus“, 1943 ebenfalls Frankfurt Carl Orffs „Kluge“.

Als letzte Uraufführung der Berliner Staatsoper erschien am 1. April 1943 „Massimilla Doni“ des Schweizer Komponisten Othmar Schoeck. Das Libretto, von Hermann Burte nach einer Eichendorff-Novelle geschrieben, wirkte wie eine Vision des Untergangs. Schoecks Musik war weit von allem entfernt, was man als gleichgeschaltete Kunst verstand. Unter Robert Heger, in Bühnenbildern von Emil Preetorius, unter Wolf Völkers Regie sangen Maria Cebotari, Marta Fuchs, Peter Anders, Erich Zimmermann, Willi Domgraf-Faßbänder und Josef Greindl.

Diese Schoeck-Premiere der Staatsoper war eine Tollkühnheit und ein Zeichen von Zivilcourage. — Allerdings mußten die beiden großen Bekenntniswerke deutscher und österreichischer Opernmusik, Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ und Ernst Kreneks „Karl V.“ um Asyl im Ausland bitten: „Mathis“ wurde am 28. Mai 1938 in Zürich, „Karl V.“ am 22. Juni desselben Jahres in Prag uraufgeführt.

Mit dem Ausbruch des Krieges verschärfte sich abermals der kulturpolitische Druck. Schon am 23. Januar 1939 hatte man auch die Musik in den Dienst der politischen Stimmungsmache gestellt, indem man z.B. Stücke wie die „Alt-Danzig“-Suite des Nazi-Komponisten Georg Vollerthun über alle deutschen Sender ausstrahlte. Bald wurden Aufführungen von Werken „feindlicher Ausländer“ wie Peter I. Tschaikowsky, Frédéric Chopin, Georges Bizet, Claude Debussy und Maurice Ravel verboten. Der belgische Komponist César Franck wurde zum Deutschen erklärt und es war fortan verboten, das e seines Vornamens mit einem accent aigu zu drucken. Werner Oehlmann, der dagegen verstieß, bekam Schreibverbot.

Am 27. Juni 1941 forderte die Londoner „British Broadcasting Corporation“ in ihren für Deutschland und die besetzten Gebiete ausgestrahlten Sendungen die Bevölkerung auf, das Anfangsmotiv von Beethovens Fünfter Symphonie, dessen vier Schläge kurz-kurz-kurz-lang das Morsezeichen V darstellen, als „Victory-Zeichen“ des Widerstandes anzusehen. Am 8. Juli übernahm der deutsche Rundfunk dieses Symbol. Selbst Beethoven war nun Werkzeug der Kriegspropaganda.

Die Organisation „Kraft durch Freude“, die bisher Konzerte für die arbeitende Bevölkerung zu organisieren hatte (und so etwa unlustige Massen in die sommerlichen Bayreuther Wagner-Festspiele kommandierte), wurde weitgehend auf Wehrmachtsbetreuung umgestellt. Dabei gab es neben niedriger Unterhaltung auch wirklich gute Musik; ein Mann wie der Geiger Hermann Diener bestand darauf, den Truppen Bachs „Kunst der Fuge“ vorzuspielen, wodurch die Abkürzung KdF einen höheren und würdigeren Sinn bekam.

Die Vertreibung und Abwanderung jüdischer und auch nicht-jüdischer Künstler machte sich vor allem unter Dirigenten und Instrumentalisten bemerkbar. Männer wie Fritz Stiedry, Jascha Horenstein, William Steinberg, Fritz Zweig, Richard Lert, Paul Breisach, Fritz Reiner, Georg Szell, Erich Leinsdorf, Josef Rosenstock, Paul Klecki, Maurice de Abravanel, Franz Allers und Karl Rankl hatten im Ausland führende Dirigentenstellen gefunden. Pianisten wie Arthur Schnabel, Rudolf Serkin, Leonid Kreutzer, Franz Osborn, Paul Aron, Erwin Bodky und Wanda Landowska mieden Mitteleuropa. Geiger wie Fritz Kreisler, Carl Flesch, Nathan Milstein, Stefan Frenkel und Erika Morini, Cellisten wie Emanuel Feuermann, Josef Schuster und Nikolai Graudan gingen unserem Musikleben verloren. Sänger und Sängerinnen wie Richard Tauber, Joseph Schmidt, Lauritz Melchior, Gerhard Pechner, Herbert Janssen, Hermann Schey, Alexander Kipnis, Fritzi Massary, Vera Schwarz und Lotte Schöne verließen die deutschen Theater.

Dennoch blieben einige Opernhäuser künstlerisch leistungsfähig, namentlich die Staatsoper in Berlin, München, Dresden und Wien. Es gab auch neuentdeckte Begabungen wie den jungen Aachener Opernchef Herbert von Karajan, der 1937 mit einem Berliner „Fidelio“-Gastspiel Furore machte und 1941 die Stelle Furtwänglers als Staatsopernchef einnahm. Die Karrieren Joseph Keilberths und Franz Konwitschnys begannen damals, und Clemens Krauss rückte zu einem der führenden Kapellmeister Deutschlands und Österreichs auf. Sogar neue Orchester — wie das Brucknerorchester in Linz — wurden gegründet.

Als 1943 im Auftrag der Abteilung Musik des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda das „Jahrbuch der deutschen Musik“ erschien, feierte das Dritte Reich sein zehnjähriges Jubiläum. Der Musikgewaltige im Amt, Goebbels, schrieb im Vorwort:

Das sich so darstellende Zeitgemälde strahlt in stolzer Schau die unbeugsamen Geisteskräfte auch auf tonkünstlerischem Gebiet im Großdeutschen Reich und die Blüte unseres musikalischen Schaffens wie Nachschaffens wider.

Was man in dem Buch las, war weniger überzeugend. Die Zeittafel wichtiger Ereignisse für 1941 verschwieg, daß am 10. April 1941 die Berliner Staatsoper durch Bombenangriff zerstört worden war. Dafür vermerkte man stolz, daß der Landespräsident in Prag die Wiedergabe jüdischer Musik im „Protektorat Böhmen und Mähren“ verboten hatte. Mit etwas mehr Recht durfte man auf die Wiener Mozart-Woche des Deutschen Reiches hinweisen. Für 1942 rühmte man sich eines deutsch-spanischen Musikfestes in Madrid und hob hervor, daß im März die Herstellung, Verbreitung und Aufführung musikalischer Werke von Autoren der Vereinigten Staaten verboten worden war. Unter den Neuerscheinungen wurden, mitten im grauenhaftesten Krieg, zwei Hymnen „Deutschlands Hocherblühen“ und eine lustige Kantate „Ich bin Soldat, vallera“ genannt.

„Deutsche Unterhaltungsmusik“, so hieß es in einem Beitrag, „war ein wertvoller, devisenbringender Ausfuhrartikel“. Über die 1940 gegründete Reichsstelle für Musikbearbeitung im Propagandaministerium las man:

Die Umtextierung alttestamentarischer Oratorienstoffe bei Händel, auch bei Mozart und anderen konnte im fruchtbaren Benehmen mit dem Hauptkulturamt der Reichspropagandaleitung der NSDAP und der Reichsjugendführung ... gesteuert werden ...

Über diese neuen Händeltexte war man allerdings verschiedener Ansicht. Als Hans Pfitzner hörte, daß Händels „Judas Maccabäus“ nun „Der Feldherr“ heißen sollte, meinte er: „Genau so könnte man die Feldherrnhalle Judas-Maccabäus-Halle nennen!“

Allmählich sanken die deutschen Theater und Konzertsäle in Trümmer. Die Berliner Staatsoper war nach der ersten Zerstörung wieder aufgebaut und am 7. Dezember 1942 mit einer „Meistersinger“-Aufführung unter Furtwängler eröffnet worden. Am 23. November 1943 wurde die Berliner Philharmonie zerstört, am 30. Januar 1944 gänzlich vernichtet. Am 3. Februar 1945 brannte die Staatsoper zum zweitenmal aus. Aber schon vorher hatte Goebbels im Zeichen des „totalen Kriegs“ die Schließung der deutschen Theater befohlen. Über Furtwängler war im Januar der „Parteibann“ verhängt worden; er entging der Verhaftung durch Flucht in die Schweiz. Am 20. April 1945 hielten die Berliner Philharmoniker ihre letzte Probe im Blüthnersaal ab. Aus den deutschen Rundfunksendern tönte statt der Liszt’schen Sondermeldungs-Fanfare immer häufiger Wagners Trauermarsch.

Das einzige, was noch stramm funktionierte, war die Propaganda. Für sie hatten einige Kritiker, Musikschriftsteller und Wissenschaftler gründliche Vorarbeit und Arbeit geleistet. Die politische Denunziation feierte Orgien. Es ging um Juden und Judengenossen. Da gab es das altberüchtigte „Handbuch der Judenfrage“ von Theodor Fritsch im Hammerverlag, zu dem bis 1932 Erich H. Mueller von Asow die musikalischen Beiträge geliefert hatte. Als privates Spezialbuch erschien in München 1936 die zweite und verbesserte Auflage eines Buches „Judentum und Musik mit dem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener“, in dem man u.a. lesen konnte, Siegfried Ochs habe sich Philip Sousa genannt und unter diesem Pseudonym amerikanische Märsche komponiert.

Ungleich gefährlicher als dieser Katalog war das amtliche „Lexikon der Juden in der Musik“ mit einem Titelverzeichnis jüdischer Werke. Es war im Auftrage der Reichsleitung der NSDAP zusammengestellt und auf Grund behördlicher, parteiamtlich geprüfter Unterlagen bearbeitet worden. Das Buch lag seit seinem Erscheinen 1940 in den Dienststellen der Partei und der SS sowie der Konzentrationslager auf. Im selben Jahr 1940 erschien im Regensburger Verlag Gustav Bosse ein Buch „Musik in Gefahr“ von Walter Trines. Alle diese Schriften beriefen sich auf Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ und das Pamphlet „Judentum und Musik“ des Wissenschaftlers Karl Blessinger, das kurz vor dem Zweiten Weltkrieg erschienen war. Die tägliche Hetzarbeit wurde in Zeitungen wie dem Streicher’schen „Stürmer“ und Zeitschriften wie der „Musik“ geleistet. Da konnte man Stilblüten dieser Art lesen: „Was sich Judentum und Groß-Orient in ihrer Musik zusammenfeilschen, ist für uns gleichgültig, solange es in ihren Kreisen bleibt ... Die schlimmsten Zustände auf musikalischem Gebiet waren in Tonfilm und Operette festzustellen, wo sich das losgelassene Ghetto gegen Walhall aufbäumte und mit angeborenen Warenhausinstinkten zum Generalangriff gegen die deutsche Kultur ausholte.“

Auch wissenschaftliche Bücher wurden damals gleichgeschaltet. So brachte es der Dresdner Dr. Hans Schnoor fertig, in einem 800 Seiten starken Buch über das Oratorium, das in Kretzschmars „Führer durch den Konzertsaal“ erschien, den Namen Felix Mendelssohn unerwähnt zu lassen, und die zweite Auflage des Musiklexikons von Hans Joachim Moser erschien 1943 mit antisemitischen Variationen. Es gab nur wenige Schriften, in denen nicht die Namen jüdischer Musiker durch das denunziatorische Zeichen (J) gebrandmarkt waren. Als eine der rühmlichen Ausnahmen möchte ich die Verdi-Biographie von Karl Holl nennen, die 1939 erschien und auf alle diese Opportunismen verzichtete. Die verderbliche Kraft, die von der gleichgeschalteten Literatur ausging, kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Jeder Publizist und Schriftsteller, der zwischen 1933 und 1945 im Geiste des Nationalsozialismus gehetzt hat, ist hauptschuldig an dem Kulturverfall dieser Zeit und potentiell mitschuldig am Tode vieler jüdischer Mitmenschen.

Was ist von alledem geblieben? Hat die Hitler-Epoche — abgesehen von dem, was sie als Überlieferung einfach mitnahm und weitertrug wie die Arbeiten von Strauss und Pfitzner, abgesehen auch von dem, was als halbe Opposition von ihr eben noch geduldet wurde wie die Werke von Orff, Egk, Blacher und Pepping — Musik von bleibendem Wert hervorgebracht? Die Antwort lautet Nein, klar und ohne Ausnahmen. Es gab in jenen Jahren einen gewissen Glanz der Wiedergabe, einen hohen Standard der darstellenden Künste, Spitzenleistungen im Reproduktiven wie die Mozart-Aufführungen der Wiener, die Verdi-Aufführungen der Münchner, die Wagner-Aufführungen der Berliner Staatsoper. Aber der schöpferische Geist schwieg. Er lebte außer Landes, weil er die Knebelung durch die gleichschaltende Staats- und Parteimacht nicht ertrug. So zeigt sich im Rückblick die Nazikultur als eben das, was ihre Wortführer der jüdischen Kultur vorwarfen: zu eigener Leistung unfähig, nur in der Wiedergabe überlieferter Werte mit starkem Sinn für äußere Wirkung begabt. Und wenn wir die letzte Frage erweitern und zu wissen begehren, wofür all die furchtbaren Opfer an Gut und Blut, an Geist und Ehre gebracht worden sind, die auch dem Musikleben abverlangt wurden, so lautet die trostlose Antwort: für nichts, es sei denn, daß wir daraus die Lehre gezogen hätten: Nie wieder!

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1963
, Seite 44
Autor/inn/en:

Hans Heinz Stuckenschmidt:

Prof. Dr. H. H. Stuckenschmidt lehrt Musikgeschichte an der Technischen Universität, Berlin-Charlottenburg, und ist einer der führenden Musikkritiker Deutschlands.

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