FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1988 » No. 415/416
Oscar Pollak

Moderne Rhetorik

Die revolutionäre Rhetorik des Austromarxismus hat sich in der Ersten Republik, desgleichen gegen den Nationalsozialismus, als politisch kraftlos erwiesen [*] — ob der Verzicht auf solche Rhetorik Verlust oder Fortschritt bedeuten, darüber läßt sich gewiß diskutieren; wie der Verzicht sich neu formuliert, jedenfalls, ist bemerkungswürdig.

Red.
Vignette der Naturfreunde (1923)

Daß Dr. Franz Vranitzky in seiner Rede vor dem Parteitag, von dem er dann auch zum neuen Parteivorsitzenden gewählt wurde, Worte wie: Kapital, Kapitalismus, Proletariat, Mehrwert, Dialektik, Strategie und Taktik nicht verwendete, verwunderte wohl kaum einen seinen Zuhörer. Das hatte wohl niemand von einem designierten sozialdemokratischen Parteiführer Westeuropas gegen Ende des 20. Jahrhunderts erwartet. Um so auffallender war, daß er nicht einmal mehr Begriffe gebrauchte, die bis vor kurzem durchaus noch auch von rechten Sozialdemokraten ohne Bedenken ausgesprochen wurden. Nehmen wir zum Beispiel das Wort „Klasse“. Es gibt in der Rede von Vranitzky drei Textstellen, an denen das Wort Klasse nicht verwendet wird, obwohl es sich eigentlich aufdrängt:

  1. Wir sagen ja zum Fortschritt, aber keine Klasse darf auf Kosten der anderen vom Fortschritt profitieren ...
    Redetyposkript S. 9
  2. Historisch gesehen hat die Sozialdemokratie die soziale Frage, das heißt, die Beteiligung der Arbeiterklasse am allgemeinen Wohlstand, gelöst.
    Seite 10
  3. Der politische Kampf der Sozialdemokratie war im Grunde stets ein Klassenkampf.
    Seite 10

An der ersten Stelle ersetzt Dr. Vranitzky das Wort „Klasse“ durch das Wort „Gruppe“. Im traditionellen sozialdemokratischen Sprachgebrauch würde es zumindest „soziale Gruppe“ heißen. Bei der zweiten Textstelle verwendet er den Begriff „arbeitende Masse“ — was immer darunter zu verstehen ist. Im dritten Zitat wird der „Klassenkampf“ abgeschwächt in einen „Kampf gegen die Benachteiligung und für die Benachteiligten“.

Diese drei signifikanten Textstellen waren der Anlaß, die Sprache dieser Rede formal — ich betone formal, nicht inhaltlich — näher zu untersuchen. Dabei hat sich zum Beispiel herausgestellt, daß überhaupt nur zweimal das Wort „Arbeiter“ auf diesen 48 Seiten vorkommt. Einmal wird es im historischen Rückblick verwendet, als der „Ziegelarbeiter der Jahrhundertwende“ (S. 7) angeführt wird; das zweite Mal wird von „den Arbeitern in Donawitz, Steyr oder Linz“ (S. 22) gesprochen. Nun könnte man einwenden, in den letzten Jahren habe sich der Begriff „Arbeitnehmer“ gegen den „Arbeiter“ erfolgreich durchgesetzt — aber auch dieser Begriff scheint auf den 48 Seiten nur fünfmal auf. Daß das kein Zufall ist, beweisen die Seiten 7 und 8. Auf diesen beiden Seiten steht Dr. Vranitzkys Bekenntnis Nummer 1:

Ich bekenne mich zur Arbeit als dem zentralen Begriff unserer Bewegung

Seite 7

Sicherlich ein begrüßenswertes Bekenntnis, auch wenn ich, so allgemein formuliert, nicht viel damit anfangen kann. Unter dieser Bekenntnisüberschrift steht dann weiters der folgende Satz:

Nicht nur unsere politischen Gegner, auch wohlmeinende Freunde sagen uns, in der heutigen Gesellschaft sei für uns als Partei der Arbeit kein Platz mehr ...

Seite 7

Diese Bezeichnung der Sozialistischen Partei Österreichs als „Partei der Arbeit“, die ist mir allerdings neu. Ich kenne als Vorläufer der SPÖ die SDAP, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, und ich kenne auch den 1. Mai als „Tag der Arbeit“, aber die SPÖ als „Partei der Arbeit“, die kenne ich nicht. Aber eines ist mir trotzdem klar, durch den Verzicht auf die Endung „-er“, die ja schließlich den Unterschied zwischen „Arbeit“ und „Arbeiter“ ausmacht, soll Vranitzkys Partei ein anderes Profil bekommen.

Und wenn ich aus der Partei des Proleten, über die Partei des Arbeiters und des Arbeitnehmers, die Partei der Arbeit mache, dann hat schlußendlich unter Umständen auch der Kapitalist sein Platzerl in der neuprofilierten Partei. Denn welcher Kapitalist hat je schon von sich behauptet, daß das, was er unternimmt, nicht auch Arbeit — seine Arbeit — wäre. Daß diese Wortspielereien nicht allzuweit hergeholt sind, zeigt ein kurzer Absatz, der auch unter Punkt 1 „Ich bekenne mich ...“ steht:

... Unser Verständnis von Arbeit umfaßt nicht nur den Arbeitnehmer, sondern generell alle Menschen, die etwas schaffen wollen, die etwas unternehmen wollen, die in diesem Sinne unternehmerisch tätig sind. Unser Bemühen muß dahin gehen, für diese Art des Schaffens die besten Rahmenbedingungen herzustellen.

Seite 7

Und enden tut Punkt 1 mit folgendem Absatz, der offensichtlich eine Conclusio des ganzen Bekenntnisses zur Arbeit darstellen soll:

In diesem Sinne wird auch die Gesellschaft der Zukunft eine Arbeitsgesellschaft sein. Wir haben die Arbeit immer als die Grundlage für den gesellschaftlichen Wohlstand gesehen, für den materiellen wie für den nicht materiellen. Und auch für die Zukunft gilt: Nur die Arbeit wird unseren Wohlstand mehren.

Zunächst zum ersten Satz: „... auch die Gesellschaft der Zukunft“ läßt schließen: wie die Gesellschaft der Vergangenheit — in der Vergangenheit freilich kenne ich eine Feudalgesellschaft, eine Frühindustrielle Gesellschaft etc., aber sicher keine „Arbeitsgesellschaft“.

Nun zum zweiten Satz: „Wir“ kann doch nur heißen: die österreichische Sozialdemokratie — aber die österreichische Sozialdemokratie hat nicht immer „die Arbeit“ als Grundlage für den gesellschaftlichen Wohlstand gesehen, sondern sie hat immer ganz genau unterschieden zwischen der Arbeit des Arbeiters, der dafür seinen Lohn zu bekommen hat, und dem Profit des Unternehmers, mit dem er seinen Wohlstand begründet. Und auch den Nebensatz („materiellen wie ... nicht materiellen“, nämlich Wohlstand) hätten „wir“ früher nicht so nebenher und beiläufig eingestreut — ich denke an Brechts „Zuerst kommt das Fressen und dann die Moral“, was auch heute noch seine Berechtigung haben dürfte.

Der letzte Satz: „Nur die Arbeit wird unseren Wohlstand mehren“ — wessen Arbeit und wessen Wohlstand? — reizte mich, die sprachwissenschaftliche Untersuchung zu unterbrechen, um polemisch zu werden; statt dessen stelle ich nur fest: die Angaben sind ein wenig ungenau. Ähnlich ungenau wie ein Teil der Überleitung vom theoretisch-programmatischen Abschnitt der Bekenntnisse zum pragmatischen Teil der Rede, wo da steht:

Dabei haben wir uns auch den Ruf der führenden Wirtschaftspartei erworben.

Seite 19

Die SPÖ als Wirtschaftspartei! Die SPÖ als Partei der Arbeit! Die SPÖ als alles mögliche, nur als eins offensichtlich nicht mehr: als Arbeiterpartei? So stellt sich zumindest das Ergebnis dieser Untersuchung dar, die ausschließlich von den Wörtern, ihrem Kontext und ihrer Verwendungshäufigkeit ausging. Doch nicht an den Worten sollt Ihr messen, sondern an den Taten ...

[*Zur revolutionären Rhetorik und Gestik der sozialdemokratischen Emigration und der Revolutionären Sozialisten siehe den Beitrag von Irene Etzersdorfer in diesem Heft.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1988
, Seite 15
Autor/inn/en:

Oscar Pollak:

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Themen dieses Beitrags

Politische Parteien