FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1965 » No. 134
Ernst Topitsch

Marx ist tot, es lebe Marx!

Bekanntlich ist die Loslösung des modernen wissenschaftlichen Denkens von älteren Formen der Weltauffassung und Selbstinterpretation nur langsam und schrittweise erfolgt. So tragen zahlreiche Philosophen der europäischen Neuzeit das Doppelgesicht eines Janus: Sie können sich nur unvollständig aus dem Banne jener archaischen Überlieferung lösen, deren Überwindung durch die wissenschaftliche Kritik sie anstreben, vorbereiten und sogar zum Teil durchführen. Das gilt in besonderem Maße für Karl Marx. Wie man längst erkannt hat und wie in letzter Zeit vor allem angelsächsische Autoren hervorheben, geht der Konflikt zwischen empirisch-rationaler Wissenschaft und eschatologischer Heilsverkündung geradezu mitten durch das Herz der Lehre des Meisters und vieler seiner Nachfolger. [1] Es ist daher nicht überraschend, daß sich im Laufe der Diskussion um den Marxismus diese beiden Elemente immer deutlicher voneinander abgehoben haben und zueinander in offenen Gegensatz geraten sind, wie ja ganz allgemein die fortschreitende wissenschaftliche Aufklärung zur Isolierung und in der Regel auch zur Ausscheidung älterer Denkformen führt.

Das Vorhandensein mythisch-religiöser Motive im Marxismus ist bereits um die Jahrhundertwende erkannt worden, [2] und später konnte man auch deren Herkunft und Eigenart näher bestimmen: Es handelt sich vor allem um Fortbildungen neuplatonisch-gnostischer und eschatologisch-apokalyptischer Erlösungslehren. Diesen Zusammenhängen ist neben anderen Autoren auch der Verfasser der vorliegenden Untersuchung in seiner Studie „Marxismus und Gnosis“ [3] nachgegangen.

Der darin unternommene Versuch einer „Entmythologisierung des Marxismus“ soll nun unter besonderer Bezugnahme auf das Ideologieproblem fortgesetzt werden, da die Annahme naheliegt, daß die für das gesamte marxistische Gedankengebäude so charakteristische und folgenschwere Vermischung wissenschaftlicher und mythischer Elemente sich auch und gerade in der Auffassung dieses Problems geltend macht. In ähnlichem Sinne hat schon vor einem Menschenalter E. Grünwald darauf hingewiesen, daß sich die Ideologienlehre von Karl Marx aus zwei völlig heterogenen und miteinander kaum verträglichen Traditionen herleitet, nämlich aus der westlichen Aufklärung und der deutschen Metaphysik [4] — welch letztere ja im wesentlichen eine säkularisierte Theologie darstellt. Seine diesbezüglichen Ausführungen und nicht zuletzt seine Bemerkungen über das Verhältnis der beiden Traditionen zu Demokratie und Autokratie sind noch heute beachtenswert.

Marx als Aufklärer

Die Aufklärung hatte dem dogmatisch gebundenen Denken der überlieferten Weltanschauung die Überzeugung entgegengestellt, daß die auf Vernunft und Erfahrung gegründete natürliche Erkenntnis jedem normal begabten und hinlänglich gebildeten Menschen den Zugang zur Wahrheit über Natur und Gesellschaft eröffne. Dabei standen die Naturwissenschaften in hohem Ansehen, hatten sie doch als Vorbild allgemein prüfbaren und daher allgemeingültigen Wissens den Hauptschlag gegen die auf Mythen und unkontrollierbare Offenbarungen gegründete Weltauffassung geführt, mit deren Hilfe man die Privilegien der herrschenden Stände rechtfertigte. In ähnlicher Weise kann nach Ansicht vieler Aufklärer auch die Gesellschaftsordnung zum Gegenstand einer empirisch-rationalen Untersuchung und Kritik gemacht werden, welche die Vorurteile beseitigt, die den Grund der Ungleichheit und des Unglücks der Menschen bilden. Gewiß ist man dabei oft reichlich unkritisch verfahren, aber „indem die Aufklärung so an die Einsicht eines jeden appelliert, ist sie eine eminent demokratische Erkenntnishaltung, das gerade Gegenteil einer charismatisch-aristokratischen Prophetie“. [5]

Dieser Grundeinstellung der Aufklärung entspricht auch ihre Auffassung des Ideologieproblems: Zwar können tiefeingewurzelte und meist von massiven Interessen geschützte Denkgewohnheiten und Vorurteile die Erkenntnis sehr wesentlich beeinträchtigen, aber es ist bei genügender Begabung, Sachkenntnis und gutem Willen den Menschen — und zwar im Prinzip allen, nicht nur einer privilegierten Minderheit — möglich, diese Hindernisse zu überwinden und zu objektiver Einsicht auch in die soziale Wirklichkeit zu gelangen. Damit zeigt sich auch in der Ideologienlehre die Nähe der Aufklärung zum Denkstil der empirisch-rationalen Wissenschaften und der modernen Demokratie.

Daß solche Anschauungen bei Marx eine bedeutende Rolle spielen, ist bekannt. [6] Doch seine Gedankengänge zum Ideologieproblem sind auch aus ganz anderen Quellen gespeist. Man hat schon oft darauf hingewiesen, daß die marxistische Geschichtsauffassung eine säkularisierte Spätform des jüdisch-christlichen Glaubens an einen sich in der Geschichte verwirklichenden göttlichen Heilsplan darstellt. [7] Dieser Glaube umfaßt oft auch die Überzeugung, daß das Böse und der Irrtum notwendige Bestandteile jenes Planes bilden. Demnach verblendet Gott die Menschen, schlägt sie mit einem „falschen Bewußtsein“, um dadurch seine Ziele zu erreichen. Doch kann er durch gnadenhafte Erleuchtung einigen Auserwählten den Einblick in seine allen übrigen Menschen unerforschlichen Ratschlüsse gewähren. [8]

Die besondere Form des Heilsplanmotives, das der marxistischen Geschichtsmetaphysik zugrunde liegt, faßt allerdings die Menschheitsentwicklung als Drama von Fall und Erlösung auf — ein Umstand, der für die Ideologienlehre höchst bedeutsam ist. Damit rühren wir nämlich an einen weiteren mythisch-theologischen Traditionsstrang, der aus archaischer Frühzeit bis in die Theorie vom „falschen Bewußtsein“ hineinführt, und zwar an den Glauben, daß die Seele durch ihren Fall in ihrer Fähigkeit zur Erkenntnis besonders der Heilswahrheiten geschwächt worden sei oder diese sogar gänzlich eingebüßt habe. Zumal in den gnostischen Heilslehren findet sich der Gedanke, daß die Seelen, die sich durch ihren Fall dem göttlichen Urgrund entfremdet haben, auch des Bewußtseins ihres überirdischen Wesens verlustig gegangen sind; nur in wenigen, auserkorenen Menschen leuchtet dieses Bewußtsein wieder auf, und damit beginnt ihre erlösende Rückkehr in die himmlische Heimat, die Aufhebung ihrer Entfremdung von der Gottheit, die Wiedergewinnung ihres ursprünglichen göttlichen Wesens.

Doch nicht nur im Bereich der Selbstvergottungsmysterien, sondern auch in den Auseinandersetzungen der christlichen Konfessionen hat dieses mythische Motiv eine erhebliche Rolle gespielt. Auf jeden Fall handelt es sich hier nicht um Sachverhalte, die mit den Mitteln empirisch-rationaler Erkenntnis allgemein zugänglich und prüfbar sind, sondern um Glaubensüberzeugungen, die auf charismatischer Erleuchtung von auserwählten Einzelpersonen oder Konventikeln und mitunter auf autoritärer Entscheidung hierokratischer Gewalten beruhen.

Die geistesgeschichtliche Forschung hat dem Thema von Fall und Verblendung bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt — vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil man glaubt, die betreffenden Überzeugungen seien schon so weit in die Vergangenheit zurückgesunken, daß sie für das Denken der Gegenwart keine Bedeutung mehr besitzen.
Wie wenig berechtigt diese Annahme ist, wird sich bald zeigen. Der Mangel an Vorarbeiten bringt es allerdings mit sich, daß die folgende Skizze des Weges, den jenes mythische Motiv durch die Geschichte genommen hat, in vielem nur Andeutungen oder Hinweise für spätere Untersuchungen bieten kann. Doch die Wichtigkeit des Themas rechtfertigt, ja fordert geradezu, daß es nun endlich angeschnitten und zur Diskussion gestellt wird.

Wohl schon in vorgeschichtlicher Zeit hat es — besonders im Bereiche schamanistischer und verwandter Formen der Magier-Ekstatik — Einzelpersonen oder Gruppen gegeben, die sich im Besitze besonderer, den übrigen Menschen nicht oder nicht in gleichem Maße verliehener Fähigkeiten und Einsichten wähnten. Doch wurde dieser Anspruch nicht immer anerkannt, sei es von der Masse der Mitmenschen, sei es von Rivalen, welche derartig charismatische Auszeichnungen für sich selbst monopolisieren wollten. Zu einer Entscheidung über die Stichhaltigkeit solcher Prätentionen mit den Mitteln wissenschaftlicher, also empirisch-rationaler Überprüfung war damals die Zeit noch nicht reif. So blieb denjenigen, welche derartige Fähigkeiten und Einsichten zu besitzen wähnten, nur die Möglichkeit, jeweils sich selbst als die „Erleuchteten“ und „Auserwählten“, die Zweifler, Ungläubigen und besonders die Rivalen jedoch als die „Verblendeten“ und oft auch „Verworfenen“ zu betrachten und hinzustellen.

Fall und Erlösung

Ein solches Vorgehen lag nicht zuletzt den Verkündern und Gläubigen jener Erlösungsmysterien nahe, in denen das Motiv der Seelenwanderung und zumal des Falles der Seele eine Hauptrolle spielte und die eine Befreiung aus dem „Rad der Geburten“ und einen Wiederaufstieg in die göttliche Heimat verhießen. Diese Gedanken stießen nämlich nicht nur auf den Widerstand anderer religiöser Überzeugungen und Institutionen, sondern auch auf den Unglauben derjenigen, die in ihrem Bewußtsein keine Erinnerung an eine Präexistenz und einen Sturz aus Himmelshöhen vorfanden. Angesichts solcher Schwierigkeiten lag es nahe, allen derartigen Einwänden durch die Behauptung zu begegnen, die Seelen hätten im Zusammenhang mit ihrem Fall jene Erinnerung oder überhaupt die Fähigkeit zur selbständigen Erkenntnis der Erlösungswahrheiten eingebüßt. Solchen Gedankengängen, welche mythische Motive aus den orphisch-pythagoräischen Geheimlehren in rationalisierter Form weiterführen, begegnen wir vor allem bei Platon. Im Rahmen seiner keineswegs einheitlichen und widerspruchsfreien Psychologie behauptet der Philosoph sogar, das Versagen der Vernunft führe bereits in der Präexistenz dazu, daß die Seele von den Leidenschaften in die materielle Welt hinabgestürzt wird (Phaidros 246 A ff.). Einmal in die Gefangenschaft des irdischen Leibes gefallen, wird sie durch diesen mit Unverstand und wilden Begierden erfüllt und dadurch in ihrer Erkenntnisfähigkeit beeinträchtigt. [9] Indem sinnliche Wahrnehmungen, Empfindungen und Affekte aus der Körperwelt auf sie einstürmen, wird sie geradezu der Vernunft beraubt (ἄνους Timaios 44 A). Dieser Trübung der Erkenntniskraft, die ein Verfallensein an die Sinnlichkeit bedeutet, soll die wahre Philosophie entgegenwirken, indem sie die durch den Sinnenschein verblendeten Seelen zum Bewußtsein ihrer übersinnlichen Herkunft und Würde erweckt und sie zur erlösenden Schau der metaphysischen Ideenwelt emporführt.

Diese Philosophie bietet aber kein Gefüge allgemein prüfbarer und mitteilbarer Sätze wie etwa die moderne Wissenschaft, sondern eine unkontrollierbare und einer kleinen Gruppe von Auserwählten vorbehaltene Schau der ewigen Ideen und zumal der Idee des Guten. Sie beschränkt sich nicht auf die Rolle einer kontemplativen Erlösungslehre; vielmehr übernimmt sie auch diejenige einer aggressiven Ideologie von ausgesprochen herrschaftlicher Prägung. Die Minderheit, die behauptet, zur Ideenschau vorgedrungen zu sein, soll auf Grund dieser angeblichen Einsichten absolute Macht über das gewöhnliche Volk ausüben, das dem Sinnentrug verfallen bleibt und daher prinzipiell gar keine Möglichkeit hat, die Intuitionen der Philosophenkönige zu überprüfen. Praktisch bedeutet diese ganze Staatskonstruktion ein reines Willkürregiment, denn auch der Philosoph — Platon selbst — kann nicht angeben, worin eigentlich jene Idee des Guten oder jenes Prinzip der Gerechtigkeit besteht, das so weitgehende Herrschaftsansprüche legitimieren und die Entscheidungen der regierenden Geistesaristokratie bestimmen soll. Vielmehr verschiebt Platon, wie Hans Kelsen in einer meisterhaften Studie [10] gezeigt hat, die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit von einer Ebene auf die andere und erläutert dabei jeweils eine Unbekannte durch eine weitere, womit er jeder formulierten und diskutierbaren Antwort ausweicht. Wir wissen heute, daß eine letztgültige Antwort gar nicht möglich ist, aber es scheint sogar fraglich, ob der Philosoph eine solche im Ernst angestrebt hat. Vielmehr läuft sein Verfahren — wenn man es ein wenig vergröbernd charakterisiert — darauf hinaus, daß eine Minderheit sich selbst zu den „alleinig Sehenden“ ernennt, den übrigen Staatsangehörigen suggeriert, sie seien blind, und auf Grund dieser Suggestion von ihnen blinden Gehorsam fordert.

Das Motiv von Fall und Verblendung der Seele war später ein wichtiger Glaubensgehalt gnostischer und verwandter Erlösungslehren. Wir finden dort häufig die Behauptung, „daß die aus Gott hervorgegangene Seele durch die Verbindung mit dem Körper in die Gewalt der Materie geraten ist, daß sie dadurch dem Übel und Leiden preisgegeben ist und das Bewußtsein ihrer wahren Herkunft und Bestimmung verloren hat, aber durch den von Gott ausgehenden Geist erweckt und erlöst wird“. [11] Die Trennung von Gott bedeutet für die gefallene Seele einen Weg in die Fremde, eine Entfremdung. Der Weg führt in die Gefangenschaft der Materie, einer „fremden Macht“. In der Sinnenwelt findet die Seele keine Heimat, der Mensch bleibt hienieden ein Fremder. Ausdrücke wie ἄλλος, ἕτερος, δένος, ἀλλότριος, ἄλλογενής, lateinisch alius, alienus, extraneus, kehren in der gnostischen Literatur immer wieder. [12] Die Betrachtung und Erforschung der Sinnenwelt vermag uns von unserem Leid nicht zu befreien, sondern verstrickt uns nur noch tiefer in die blinde Abhängigkeit von ihr. Aus dieser Not vermag den Menschen nur das gnostische Heilswissen zu erlösen, das von allem bloß empirischen Scheinwissen wesensverschieden ist. Es erweckt ihn wieder zum Bewußtsein seines wahren Wesens und läßt ihn erkennen, daß er überirdischer Herkunft ist und der Schar der Auserwählten angehört. Indem der auf diese Weise Erleuchtete das eigene Schicksal, ja das gesamte Weltgeschehen als Drama von Fall und Erlösung erkennt, hat er das Blendwerk der Materie, der „fremden Macht“, überwunden und sich den Rückweg in die göttliche Heimat eröffnet.

Aus diesen Grundmotiven läßt sich leicht eine ganze Kosmologie und Geschichtsdeutung entwickeln. Nicht nur die einzelne Seele, sondern das gesamte Universum ist durch einen Fall aus Gott hervorgegangen, die göttliche Ideenwelt versinkt von Stufe zu Stufe in die Materie. Hat jedoch die von Gott abwärtsführende Entwicklung den tiefsten Stand der Entgeistigung erlangt, so erfolgt der Umschlag und die Schöpfung kehrt wieder zu ihrem Ursprung zurück. Diesem Kreislauf entspricht der Kreis, den die Menschheitsgeschichte zu durchlaufen hat. Aus reinen und göttlichen Ursprüngen stammend, gleitet das Menschengeschlecht in die Materie ab, es wird fleischlich und sündig; von einer Generation zur anderen wächst seine Verderbnis und Gottentfremdung. Erst wenn die alleräußerste Grenze des Abstieges erreicht ist, kommt der Erlöser, welcher der Menschheit das Wissen um den Weg zu ihrer Wiedervergöttlichung vermittelt — eben das heilige Wissen der Gnosis. [13] Solche Gedankengänge können auch dahingehend ausgestaltet werden, daß Gott die Welt aus sich entläßt oder sich zur Welt entfremdet, um auf dem Wege über die Aufhebung dieser schmerzvollen Entfremdung das Bewußtsein seiner Göttlichkeit zu erlangen und damit erst wahrhaft Gott zu werden. Diese Bewußtwerdung vollzieht sich in den Seelen der Erwählten, so daß die Gnosis nicht nur die Erlösung menschlicher Individuen, sondern zugleich auch die Selbsterlösung Gottes bedeutet. [14]

Die Auserwählten

Wer sich durch solche Einsichten ausgezeichnet fühlt, ist geneigt, auf diejenigen tief hinabzublicken, welche die frohe Botschaft nicht vernehmen oder sie gar ablehnen und bekämpfen. Für ihn sind die übrigen Menschen die Unerweckten, die in der Finsternis und im Todesschlaf der Unwissenheit über Gott und das Heil befangen sind. [15] Die Seelen dieser anderen wissen nichts von ihrem wahren Wesen und ihrer Bestimmung, sie sind zutiefst unglücklich in der sklavischen Abhängigkeit von ihren Leibern, die ihnen völlig fremd sind und sie leiden machen; aber der Mangel an Gnosis — die ἄγνοια — hat noch die weitere verhängnisvolle Wirkung, daß die verblendete Seele kein Bewußtsein ihrer bedauernswerten Unwissenheit besitzt, ja sogar in dieser Unwissenheit mit sich zufrieden ist. [16] Jede Kritik an den gnostischen Lehren ist also von vornherein hinfällig und nur ein Zeichen davon, daß der Zweifler nicht zur Erlösung bestimmt ist, sondern widergöttlichem Blendwerk verfallen bleibt.

Diesen Vorwurf der Verblendung haben die Gnostiker vor allem gegen ihre gefährlichsten Widersacher — nämlich die Vertreter der Kirche — geschleudert, welche ihrerseits gegen die Überheblichkeit der Sektierer scharfen Protest erhoben. Doch konnten die Kirchenmänner den gegen sie erhobenen Vorwurf auch zurückgeben, indem sie erklärten, die Lehren ihrer Gegner seien als Selbstvergötterung der Kreatur der krasseste Ausdruck eines von der Erbsünde verursachten blasphemischen Hochmutes; nicht die Gläubigen der Kirche, sondern die Gnostiker selbst seien die durch den Sündenfall Verblendeten.

Freilich haben sich die christlichen Großkirchen die These, der Sündenfall habe die natürliche Fähigkeit des Menschen zur Einsicht in die heilsnotwendigen Wahrheiten entscheidend beeinträchtigt oder gar zerstört, nur mit einer gewissen Zurückhaltung zu eigen gemacht. Vor allem beruhte die christliche Theologie auf der antiken Philosophie und mußte daher zugestehen, daß auch heidnische Denker zu bedeutsamen Erkenntnissen über Gott und sein Walten gelangen konnten. Der Mensch war also auch als Gefallener in der Lage, die Grundwahrheiten einer natürlichen Theologie kraft seiner eigenen Vernunft zu erkennen, ja aus dem Consensus gentium wollte man nicht selten einen Beweisgrund für das Dasein Gottes gewinnen. [17] Wenn die Scholastik und besonders Thomas v. Aquin die Welt als einen harmonischen, von Gott geschaffenen und auf Gott hingeordneten Kosmos auffaßt, so ist im Rahmen dieses Weltbildes zwar noch Platz für die Lehre von der Beeinträchtigung der Vernunft durch die Sünde (Summa theologica 1 II, 85, 3), aber sie spielt nur eine untergeordnete Rolle. In der Reformation tritt jene Lehre wieder stärker hervor, doch zweifelt selbst Luther nicht daran, daß auch die Heiden ein gewisses Maß an Gotteserkenntnis besitzen: „Soweit reicht das natürliche Licht der Vernunft, daß sie Gott für einen gütigen, gnädigen, barmherzigen, milden achtet; das ist ein großes Licht.“ [18]

Die großen, wohletablierten Kirchen bedurften auch infolge ihrer gesellschaftlichen Rolle der Lehre von Fall und Verblendung der Seele nicht so notwendig wie die in einer gleichgültigen oder feindseligen Umwelt mühsam um ihren Bestand kämpfenden Sekten. Sie waren ja in der Lage, ihre Stellung und ihre Lehren gegenüber den Andersgläubigen mit den verschiedensten Mitteln wirkungsvoll zu verteidigen. Dagegen benötigten verfolgte Sektierer weit dringender eine Kompensation für ihre Leiden und ihre tatsächliche Schwäche durch die Gewißheit der eigenen Auserwählung und Erleuchtung sowie der Verdammnis und Verblendung ihrer Bedränger. Immer wieder kann man beobachten, daß sich der Elite-Anspruch solcher Gruppen in dem Maße verschärft, wie seine Träger von der herrschenden Umwelt als Ketzer verfolgt oder unterdrückt oder in einer Paria-Rolle festgehalten werden. [19] Häufig betrachten sich die Unterdrückten als die alleinigen Träger der wahren Offenbarung und des Wissens um den Weg zur Seligkeit, woraus sie die Berufung ableiten, als künftige Herrscher und Richter diese Wahrheit mit Gewalt gegen die derzeit noch an der Macht Befindlichen, in Wirklichkeit aber bereits Verworfenen und mit Blindheit Geschlagenen durchzusetzen. So wird Unterdrückten-Ideologie zu denkbar schroffster Herrschafts-Ideologie.

Es muß künftiger Forschung überlassen bleiben, das Motiv von Fall und Verblendung in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und sozialen Zusammenhängen durch die Jahrhunderte zu verfolgen. Jedenfalls ist es bis in die Gegenwart lebendig geblieben, und zwar vor allem im Bereiche philosophisch-religiöser Sekten. Ein Beispiel hierfür bildet die — übrigens von gnostischem Gedankengut nicht unerheblich beeinflußte — Anthroposophie. Deren Vertreter suchen ihre Lehre dadurch unangreifbar zu machen, daß sie jedem Einwand von vornherein die Behauptung entgegenstellen, Kritik und richtendes Urteil über die anthroposophischen Thesen vernichteten die zur höheren Erkenntnis nötigen Kräfte der Seele: Der Zweifler oder Ungläubige ist eo ipso der Verblendete. [20] In dieser primitiven Form der gnostischen Argumentation wird besonders klar, daß man echte Beweisgründe gar nicht anführen kann und will, dafür aber um so nachdrücklicher die kategorische Forderung nach kritiklosem Glauben erhebt.

Doch wird mitunter auch von kirchlich gesinnten Autoren heute noch die Ansicht vertreten, der Sündenfall sei die Ursache des Unglaubens, vor allem des in der modernen Welt und unter dem Einfluß der modernen Wissenschaft um sich greifenden religiösen Agnostizismus, der den Menschen in der „Unbewußtheit“ hält. [21] Gerade der Marxismus gilt bei christlichen Denkern als Ergebnis der Erbsünde und der aus dieser folgenden Verblendung. So lehrt G. A. Wetter, Adam habe durch sein luziferisches „non serviam“ nicht nur seinen persönlichen Fall herbeigeführt, sondern auch denjenigen seiner ganzen Nachkommenschaft, ja irgendwie sogar der „gesamten Kreatur“. Damit ist das innerste metaphysische Wesen des Geschöpfes verletzt: Statt sich Gott demütig unterzuordnen, will es in überheblicher Auflehnung zu einem autonomen, unabhängigen, selbstgenügsamen Sein werden — es hat sich seinem Schöpfer und seinem eigenen Wesen entfremdet. Doch die Auflehnung ist zum Scheitern verurteilt, was sich ganz besonders im Marxismus zeigt. Dieser glaubt in seiner Blindheit, mit den Mitteln des gefallenen Menschen im Aufstand gegen Gott eine diesseitige Erlösung erzwingen zu können, doch er ist bereits gerichtet: Der von ihm erstrebte „Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“ ist mißglückt und hatte nur das Ergebnis, daß anstatt der von Marx erträumten Emanzipation des Menschen eine totale Versklavung des Menschen Wirklichkeit wird. [22]

[1T. D. Weldon: The Vocabulary of Politics, Pelican Book A 278, S. 177 f., deutsch: Kritik der politischen Sprache, Neuwied 1962, S. 138 ff., und bes. H. B. Acton: The Illusion of the Epoch. Marxism-Leninism as a Philosophical Creed, 2. ed., London 1962, passim. Auf das letzte Werk, dessen erste Auflage (1955) im deutschen Sprachgebiet kaum bekanntgeworden ist, sei mit Nachdruck hingewiesen.

[2V. Pareto: Les systèmes socialistes, Paris 1902; G. Sorel: La décomposition du marxisme, Paris 1907, deutsch: Die Auflösung des Marxismus, Jena 1930; R. König: Soziologie heute, Zürich 1949, S. 30 ff.; H. Barth: Masse und Mythos, Hamburg 1959 (rde 88), S. 105 ff.

[3Vgl. E. Topitsch: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied 1961, S. 235 ff.; vgl. auch J. Taubes: Abendländische Eschatologie, Bern 1947; E. Voegelin: Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959; W. E. Mühlmann: Chiliasmus und Nativismus, Berlin 1961; J. Gebhardt: Politik und Eschatologie, München 1963.

[4E. Grünwald: Das Problem der Soziologie des Wissens, Wien 1934, S. 29 ff.; R. Dahrendorf: Marx in Perspektive, Hannover 1952, bes. S. 165 f.

[5E. Grünwald: a.a.O., S. 3.

[6Das muß besonders nachdrücklich betont werden, da die seit 1945 in der Bundesrepublik erschienene einschlägige Literatur in der Regel diese Komponente des Denkens von Karl Marx zugunsten der anthropologisch-spekulativen Komponente sehr vernachlässigt.

[7Besonders K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1953.

[8E. Grünwald: a.a.O., S. 24.

[9E. Rohde: Psyche, 9. u. 10. Aufl, II. Bd., Tübingen 1925, S. 272

[10H. Kelsen: Die platonische Gerechtigkeit, „Kant-Studien“ XXXVIIL, 1933, neu abgedr. in H. Kelsen: Aufsätze zur Ideologiekritik, Neuwied 1964.

[11H. H. Schaeder: Urform und Fortbildungen des manichäischen Systems. In: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924-1925, Leipzig—Berlin 1927, S. 110.

[12S. Hutin: Les gnostiques, Paris 1959, S. 25, Anm. I.

[13H. Leisegang: Die Gnosis, Kröners Taschenausgabe, Bd. 32, 3. Aufl., Leipzig 1941, S. 33.

[14Daß der sich selbst erlösende Gott, der „sauveur sauvé“, die Zentralfigur jedes Gnostizismus bildet, betont H.-Ch. Puech: Le Manichèisme, Paris 1949, S. 71.

[15A.-J. Festugière: La révélation d’Hermès Trismégiste, vol. III, Paris 1953, S. 18,97.

[16Ebenda, S. 105.

[17Bei Augustin, der ja von manichäischem Gedankengut beeinflußt ist, findet sich ein charakteristisches Schwanken. Einerseits neigt er der Ansicht zu, die Erbsünde habe den Menschen in die Unwissenheit gestürzt, ja einige Stellen erwecken den Eindruck, als würde der Philosoph den Nachkommen Adams jede Fähigkeit absprechen, aus eigener Kraft zur Erkenntnis und in den Besitz irgendwelcher Wahrheit zu gelangen — insbesondere der religiösen Wahrheiten. An anderen Stellen schreibt Augustin dagegen ohne Bedenken den heidnischen Philosophen die natürliche Gotteserkenntnis zu. Vgl. J. Gross: Entstehungsgeschichte des Erbsündendogmas, München 1960, S. 357 ff.

[18Weimarer Ausgabe, Bd. 19, S. 206.

[19W. E. Mühlmann: a.a.O., S. 339.

[20M. Dessoir: Vom Jenseits der Seele, 6. Aufl., Stuttgart 1931, S. 414, bezüglich R. Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, 18.-27. Tausend, Berlin 1920, S. 6 f.

[21Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür findet sich bei V. Lossky: Die mystische Theologie der morgenländischen Kirche, Graz 1961, S. 293: „Unser durch den Sündenfall ‚kantisch‘ gewordener Geist ist nur allzu bereit, alles, was die Gesetze, oder besser, die Gewohnheiten unserer gefallenen Natur übersteigt, in das Gebiet des Numinosen, der ‚Glaubenssätze‘ zu verweisen. Die philosophische Rechtfertigung der Selbstherrlichkeit unserer begrenzten Natur, die sich der Erfahrung der Gnade verschließt, ist ein bewußtes Geständnis unserer Unbewußtheit, ist eine ‚Anti-Gnosis‘, ein ‚Anti-Licht‘, ein offener Widerstand gegen den Heiligen Geist, der den menschlichen Personen ein volles Bewußtsein ihrer Gemeinschaft mit Gott erschließen will.“

[22G. A. Wetter: Der dialektische Materialismus, 3. Aufl., Freiburg 1956, S. 583 ff.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1965
, Seite 63
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Ernst Topitsch:

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