FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1988 » No. 411/412

Liebe Juden!

24 slowakische Intellektuelle — darunter ein leibhaftiger katholischer Bischof — wandten sich im vorigen Oktober an die Angehörigen des jüdischen Volkes. Ihre nachstehende Erklärung, mit der sie für die Deportationen von Juden aus der Slowakei Abbitte leisten, zeigt uns, wie man mit Geschichte auch umgehen kann; angesichts der politischen Situation in der Slowakei beweisen die Unterzeichner auch Gegenwartsmut.

Nicht nur einzelne Personen, auch Nationen haben ein eigenes Bewußtsein von historischer Kontinuität. Sie können sowohl gute als auch böse Taten vollbringen. Und sie haben ein Gewissen, das gute Taten bejaht und böse verwirft.

Dies haben wir vor Augen, wenn wir an die Geschehnisse während des Zweiten Weltkriegs zurückdenken, die unsere Mitbürger und Brüder jüdischer Abstammung betrafen. Vor 45 Jahren kam es zu unmenschlichen Deportationen von zehntausenden Juden, Männern, Frauen, alten Menschen und Kindern aus der Slowakei. Diesen Deportationen gingen juristische und praktische Maßnahmen voran, mit denen man die Diskriminierung und Gewalt gegen jüdische Mitbürger legalisierte — besonders durch die Adaptierung der Nürnberger Rassengesetze für die Slowakische Republik. Deportationen und andere antisemitische Exzesse entstanden aus eigener, slowakischer Initiative. Die Mehrheit der Deportierten starb in nazistischen Konzentrationslagern.

Wir, Angehörige jüngerer Generationen bis zu den Sechzigjährigen, waren in der Zeit des Krieges zu jung, um am öffentlichen Leben maßgeblich teilnehmen zu können, hatten also persönlich an den gegen unsere jüdischen Mitbürger verübten Verbrechen keinen Anteil. Aber die Ereignisse, von denen hier die Rede ist, belasten uns schwer. Wir verurteilen und bedauern sie nicht nur zutiefst; wir möchten hiemit auch allen Überlebenden und den Verwandten der Opfer und allen Angehörigen ihres Volkes Abbitte leisten, weil es bis zum heutigen Tage kein Verantwortlicher aus unserer Mitte getan hat.

Wir wollen diesen Ausdruck der Pietät und Abbitte nicht durch Hinweise auf historische Hintergründe des Handelns unseres Volkes relativieren. Die Beurteilung der absurden Situation jener Zeit, in der man sich der Gewalt fügte, in der ein ungeheurer Druck den Raum für freies Handeln sehr einschränkte, überlassen wir den Historikern. Wir wollen auch nicht auf den Widerstand und die Proteste seitens der Kirchen gegen die Verfolgung unserer jüdischen Mitbürger zurückgreifen oder auf die Hilfe, die viele Angehörige unseres Volkes leisteten — das alles wollen wir dem gerechten Urteil der Geschichte überlassen. Weil wir nämlich das einzige, was wir sagen wollen, nicht abschwächen möchten: Das tiefe Bedauern und die Reue über all das, was man unseren jüdischen Mitbürgern angetan hat, die mehrheitlich deportiert und in Nazi-Konzentrationslagern getötet worden sind.

Den Toten können wir nur nachtrauern, die Gläubigen unter uns können für sie beten. Die Überlebenden aber und die Angehörigen ihres Volkes in der ganzen Welt möchten wir um Vergebung bitten, im Namen unseres Gewissens, der Menschlichkeit, und die Gläubigen unter uns auch im Namen ihres Glaubens, dessen Wurzeln sie in Gestalt des alten Testaments mit dem Volke Israel gemeinsam haben.

Zu dieser Erklärung hat uns auch die Tatsache bewogen, daß es in der Slowakei kein würdiges Denkmal gibt, das an die größte kollektive Tragödie unserer Geschichte erinnert. Synagogen und jüdische Friedhöfe, ehemalige Zentren der jüdischen Gemeinden, sind in desolatem Zustand und dem Untergang geweiht.

Die antijüdischen Maßnahmen, insbesondere die Deportationen der jüdischen Einwohner aus der Slowakei widersprechen den Prinzipien, die wir für die Gestaltung der slowakischen Zukunft als maßgeblich und gültig ansehen: Gleichheit aller ohne Unterschied, Toleranz, Freiheit des Glaubens, Demokratie, Gesetzlichkeit, Mitmenschlichkeit. In der Hoffnung auf eine solche Zukunft aller Menschen und Völker richten wir diese unsere aufrichtige Erklärung an die Angehörigen des jüdischen Volkes.

Dominik Tatarka, Schriftsteller
Hana Ponická, Schriftstellerin
Jozef Jablonický, Historiker
František Mikloško, Mathematiker
Ján Čarnogurský, Rechtsanwalt
Vincent Hložník, ak. Maler
Jozef Hnilický, Architekt
Eva Trizuliaková, akad. Malerin
Roman Berger, Komponist
Vladimír Haviar, Kardiologe
Milan Rúfus, Schriftsteller
Alojz Gabaj, Arbeiter
J. Ch. Korec, kath. Bischof
Martin M. Šimečka, Schriftsteller
Vladimír Jukl, Mathematiker
Helena Gondová, Beamtin
Ján Lángoš, Forscher
Daniel Fischer, akad. Maler
Marek Huba, akad. Bildhauer
Ladislav Čarny, akad. Maler
Milan Bočkay, akad. Maler
Miro Bázlik, Komponist
Eugen Suchoň, Komponist
Katarína Lazarová, Schriftstellerin

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1988
, Seite 6
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