FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1965 » No. 137
Felix Ermacora

Kelsen und die marxistische Staatslehre

Eigentümlicherweise ist in der heute immer reicheren staats- und rechtswissenschaftlichen Literatur der westlichen Welt kaum ein Beitrag zu finden, der sich ernsthaft mit der Marx’schen Prophetie vom Absterben des Staates auseinandersetzt. Die klassische Staatswissenschaft ist daran fast achtlos vorbeigegangen, obschon sie durch diese Marx’sche These in ihren Grundfesten angegriffen wurde. Die von Juristen geschriebenen „Allgemeinen Staatslehren“ begnügen sich in der Regel mit geringschätzigem Abtun. Dennoch handelt es sich um einen Gegenstand, der eingehender Beachtung würdig ist. Im neuen Parteiprogramm der KPdSU heißt es immer noch: „Die geschichtliche Entwicklung führt unausbleiblich zum Absterben des Staates.“

Meilenstein nach Utopia

Ein Grund für die bemerkenswerte Interesselosigkeit der Vertreter westlicher Staatswissenschaft mag wohl sein, daß man die zukunftsweisenden Thesen des Marxismus in das Reich der Utopie verweist und sie daher, wie einst die Lehren des Thomas Morus, von der Behandlung durch die exakte Wissenschaft ausschließt. Martin Buber, der berühmte jüdische Denker, bezeichnet in der Tat die Lehre vom Absterben des Staates als Meilenstein auf den „Pfaden nach Utopia“.

Aus der westlichen Staatslehre ragt jedoch Hans Kelsen als gewaltige Ausnahme hervor. Neben anderen, die einem Vergleich mit ihm nicht standhalten (Barion, Westen, Rohrmoser), hat er zur Staats- und Rechtsauffassung des Marxismus Grundlegendes beigetragen. In vier Schriften befaßt sich der österreichische Gelehrte eingehender als mancher moderne Theoretiker (z.B. H. Krüger in seiner neuen „Allgemeinen Staatslehre“, 1964) mit der Staatstheorie des Marxismus:

  • Sozialismus und Staat, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. IX (1920);
  • Sozialismus und Staat, 2. erweiterte Auflage, 1923;
  • The Communist Theory of Law, 1955;
  • The Political Theory of Bolshevism, 1959.

Die Spanne der Betrachtungen Kelsens reicht von Marx über Engels, Plechanow, Bucharin, Trotzki, Radek, Reisner, Pashukani, Gulowski, Strogovich, Lenin bis zu Stalin.

Die Hauptfragen, die Kelsen in seinen Auseinandersetzungen mit dem Marxismus erörtert, sind die folgenden:

  • die Kritik an der Ideologie vom Absterben des Staates;
  • die Bedeutung der Diktatur des Proletariats als Mittel, den Staat zum Absterben zu bringen (damit verbindet Kelsen das Bekenntnis zu einer demokratischen, politischen Wertlehre);
  • die Nutzbarmachung der von ihm entwickelten Rechtslehre für die Betonung des Eigenwertes, der dem positiven Recht als „Überbau“ der wirtschaftlichen und sozialen Fakten zukommt.

Die Ergebnisse der Kelsen’schen Forschung zur Staatslehre des Marxismus sind in den oben genannten Werken der Zwanziger- und Fünfzigerjahre niedergelegt. Der Umbruch in den politischen Machtverhältnissen dieser Zeit, die methodische Schlüsselposition, die Kelsen erreicht hatte, die Bedeutung der Sozialdemokratie in Österreich sowie des Kommunismus in der Welt seit 1945 — das mögen die besonderen Gründe gewesen sein, sich mit dem erkennbar zeitnahen Problem der marxistischen Staatsauffassung auseinanderzusetzen. Das grundlegende Werk ist die 2. Auflage von „Sozialismus und Staat“. Sie ist gegenüber der 1. Auflage erheblich erweitert, und zwar um die Kritik zur Kritik Max Adlers, die dieser in seiner „Staatsauffassung des Marxismus“ (1922) an Kelsens Theorie geübt hatte.

Vor allem will Kelsen nachweisen, daß der Staat nicht absterben könne, weil naturnotwendig immer ein Staat da sein müsse. Ob der Staat nun diese oder jene Bezeichnung trage, ob man ihn eine administrativ-technische oder eine wirtschaftliche Gemeinschaft nenne, oder Gemeinschaft schlechthin, wie Engels dies tut — das sei gleichgültig.

Kelsen bedient sich bei der Entwicklung seiner Marx-Kritik nicht des vor ihm schon von Stammler entwickelten Instrumentariums. Er gebraucht die von ihm geprägten Ausdrücke, arbeitet jedoch ohne die „normative Methode“. Der Vorwurf Max Adlers, Kelsen wolle innerhalb der Kategorien des Marxismus kritisieren, bleibe aber nicht bei dieser immanenten Methode, sondern kritisiere vom Standpunkt der Reinen Rechtslehre, geht insoweit in die Irre, als die Marxismus-Schriften Kelsens wenig von jener Methodenreinheit aufweisen, die im übrigen die Größe der Kelsen’schen Schule ausmacht — was Feststellung und nicht Kritik sein möge. Kelsen argumentiert vor allem dort, wo es ihm um die Bedeutung der Demokratie geht, durchaus mit Argumenten der politischen Wissenschaft, d.h. im Sinne der von ihm beschriebenen Identifikation von „politischer, normativer Theorie und sozialer Wertlehre“, und damit entgegen seiner eigenen wissenschaftlichen Forderung, deren Verfechtung ihn berühmt gemacht hat.

Staat wird Apparat

Die Argumentation Kelsens gegen Marx nimmt ihren Ausgang bei der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, welche das aufgeklärte Staatsdenken des 19. Jahrhunderts auszeichnete und zu bemerkenswerten theoretischen wie praktischen Folgen geführt hat. Die theoretische Folge war, daß der Staat als juristische Person verstanden wurde, für die das Technokratische bezeichnender ist als ihr Menschenverbands-Charakter; so ging auch die wissenschaftliche Verknüpfung von Staat und Gemeinschaft verloren: der Staat pervertierte zum Apparat. Die praktische Folge der immer mehr in das Allgemeinbewußtsein gedrungenen Scheidung von Staat und Gesellschaft war die politische Entfremdung von Land und Leuten einerseits und Staat anderseits.

Erst die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft macht das Staatsdenken Kelsens begreifbar. Nicht die Identität von Staat und Recht ist das Spezifische an seiner Theorie, sondern der bis zum logischen Ende durchdachte Dualismus von Staat und Gesellschaft, wie ihn die Aufklärung zu denken begonnen hatte. Es ist ein Dualismus, der keinen logischen Brückenschlag duldet; Kelsen trennt zwischen Sein der Gesellschaft und Sollen des Staates. So gelangt Kelsen zu der immanent richtigen These, daß Staat gleich Recht und die Gesellschaft etwas anderes als der Staat ist — was sie ist, interessiert Kelsen als Juristen nicht.

Demgegenüber steht die Marx’sche These, daß Gesellschaft und Staat nicht verschieden und nicht im Gegensatz zueinander sein dürfen (M. Adler, a.a.O., S. 33 f.). Dies gilt freilich nicht — wie Kelsen meint (Sozialismus und Staat, 2. Auflage, S. 20 ff.) — schlechthin, sondern nur für den sozialistischen Staat der Zukunft. Kelsen bemüht sich, auf der Ebene der marxistischen Theoretiker zu argumentieren, indem er mit ihnen Staat und Gesellschaft gleichzusetzen versucht. Um diese Identität zu erreichen, löst er den liberalistischen Gegensatz von Staat und Gesellschaft durch einen Kunstgriff: er spricht von einer Gesellschaft im engeren Sinne und von einer Gesellschaft im weiteren Sinne, die auch den Staat miteinschließe (a.a.O., S. 20).

Dieser logische Vorgang täuscht aber nicht darüber hinweg, daß für Kelsen der Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft in Wahrheit bestehen bleibt. Dem Marxismus geht es hingegen darum, diesen Unterschied logisch wie praktisch einzuebnen. Der Unterschied wird eingeebnet, wenn der Staat nicht mehr ist, wenn er abstirbt.

Kelsen will an Hand der Literatur des wissenschaftlichen Sozialismus klarmachen, daß die Lehre vom Absterben des Staates nicht das bedeuten kann, was sie vorstellen will: die Theoretiker des Marxismus glauben an dieses Absterben selbst nicht, sondern tarnen mit ihrer These nur eine andere Zwangsordnung.

Absterben durch Diktatur

Daher steht die These vom Absterben des Staates im engen Zusammenhang mit der Diktatur des Proletariats. Diese ist ein ebenso logischer wie praktischer Hebel, um das Absterben des Staates unter dialektischen Beweis zu stellen und die Staatsordnung zu verkehren. Kelsen bemüht sich, zu zeigen, daß die Diktatur des Proletariats die Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit bedeuten muß und daß gerade eine solche Diktatur nicht zum Absterben des Staates führen könne. Im Gegenteil: die Zwangsgewalt des Staates werde noch erhöht.

Gerade daraus folgt aber für den Marxisten der dialektische Umschlag des Staates in sein Gegenteil, den Nicht-Staat. Nur so wird der Satz Stalins in dem bekannten Schriftchen „Über den historischen und dialektischen Materialismus“ begreiflich, daß die Erhöhung der Staatsgewalt die Garantie für das Absterben des Staates sei, ja, daß dies die marxistische Formel für dieses Absterben sei.

Kelsen kommt demgegenüber zu der treffenden Erkenntnis, daß die marxistische Theorie einen Demokratiebegriff schaffe, der mit dem im Westen geläufigen wenig gemein habe: „Die Herrschaft der Majorität unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, daß sie ihrem innersten Wesen nach eine Minderheit nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt und in konsequenter Verfolgung des demokratischen Gedankens schützt.“ Die Demokratie stehe als politischer Realismus im Gegensatz zum politischen Absolutismus.

So kommt Kelsen im Jahre 1955 zur Auffassung: „If this interpretation of the dictatorship of the proletariat is correct, then there are within the political theory of Marxism two contradictory concepts of democracy, just as there are two contradictory concepts of the State“ (Communist Theory, S. 32). Auf der einen Seite gründet die Demokratie den Staat, um ihn auf der anderen Seite zum Absterben zu führen.

Aus dieser Antinomie für Theorie und Praxis kann Kelsen immanent nicht herausfinden, weil — wie ich annehme — seine normative Theorie der Methode Hegel’scher Dialektik ebensowenig anhaben kann, wie das von Kelsen entdeckte logische Sollen dem Sollen des christlichen Naturrechts.

Doppelte Demokratie

Kelsens Feststellung von den „two contradictory concepts of the State“ verweist auf die der Dialektik eigene Methode einer Verdoppelung der Begriffe. Kelsen ist diesem Vorgang nicht gewachsen, daher auch nicht der merkwürdigen Verquickung von Demokratie und Absterben des Staates.

Aber nicht nur das. Kelsen hat die eigentliche Grundlage der Marx’schen Staatstheorie gar nicht ausgewertet. Sie scheint ihm sogar unbekannt geblieben zu sein. Freilich befassen sich auch marxistische Theoretiker mit dieser von mir nun ins Auge gefaßten Grundlage der Marx’schen Staatstheorie nicht oder doch nur ungenügend. Dies hat dazu geführt, daß man Marx eine immanent unrichtige Absterbenslehre unterschob. Seit dieser Unterstellung, an der Engels wohl den größten Anteil hatte, finden die Marxisten nicht aus dem Dilemma: „Wir sind nahe dem Sozialismus und der Staat zeigt keine Zeichen des Absterbens.“

Ich habe nun meine Behauptungen zu belegen.

Kelsens erste Marxismus-Schrift stammt aus den Jahren 1920/23. Er zitiert auf S. 21 der 1. Auflage von „Sozialismus und Staat“ in Anm. 10 und auf S. 52 der 2. Auflage in Anm. 5 eine Arbeit von Marx, die aber nicht die ist, wofür er sie ausgibt. Er zitiert: „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ in der Fassung der Deutsch-Französischen Jahrbücher, 1844, S. 71 ff. Es handelt sich aber um die Arbeit „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie — Einleitung“. Der Hauptteil, auf den sich diese Einleitung zu beziehen scheint, wurde im Manuskript schon 1843 geschrieben (Vgl. Marx-Engels, Werke, Bd. I, Berlin 1957, S. 202, und Marx-Engels, Kritische Gesamtausgabe = MEGA 1927, S. 403 ff.). Dieser Hauptteil umfaßt 130, die Einleitung nur 11 Seiten. Nun ist Kelsen aus dem Übersehen dieser Unterscheidung bis 1927 kein Vorwurf zu machen, weil der Hauptteil erst in jenem Jahr in deutscher Sprache veröffentlicht wurde. Aber auch nach diesem Zeitpunkt ist sowohl die Marxismus-Literatur aus der Feder kommunistischer Schriftsteller wie auch Hans Kelsen an dieser meines Erachtens grundlegenden theoretischen Abhandlung von Marx vorbeigegangen.

Kelsen hatte im Jahre 1955 den Themenkreis der Zwanzigerjahre wieder aufgenommen und in seinem Werk „The Communist Theory of Law“ erheblich erweitert dargestellt. Auf S. 6, Anm. 13, zitiert er nach wie vor „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, MEGA I1, 1927, S. 607ff. Hiemit greift er wiederum nur zur Einleitung und nicht zum Hauptteil der Marx’schen Staatskritik, obschon sich dieser Hauptteil im selben Band, S. 403 ff., befindet.

Es ist für das Verständnis der Marx’schen Staatstheorie und der Absterbenslehre unerläßlich, diesen Hauptteil der Marx’schen Kritik zu kennen, denn zwischen Einleitung und Hauptteil besteht ein fundamentaler Unterschied. Die Einleitung ist eine literarische Schöpfung, die in faszinierender Einheitlichkeit von Gedanken und Sprache das Absterben ankündigt; darauf stützen sich auch die übrigen marxistischen Schriften, die den Gegenstand behandeln. Der Hauptteil ist hingegen eine kritische und unpolemische Analyse der Hegel’schen Staatstheorie.

Kelsen fällt auf, daß in manchen späteren Schriften von Marx und Engels der merkwürdig pleonastisch anmutende Ausdruck „politischer Staat“ vorkommt:

Engels spricht von einem „politischen Staat“, und dieser Pleonasmus hat tatsächlich einen tieferen Sinn. Denn wie sollte man jene überaus komplizierte, das Verhältnis von Über- und Unterordnung, also Macht und Herrschaft auf öffentlichem Gebiet ... keineswegs ausschließende, sondern in hohem Maße einschließende Gesellschaftsordnung bezeichnen, nachdem sie angeblich ihren politischen Charakter verloren hat? Es ist ein unpolitischer Staat, das ist ein Staat, der kein Staat ist, jene Zwangsordnung, die die ökonomische Theorie des Marxismus postuliert und die seine politische Theorie ablehnt. Diesem inneren Widerspruch gibt Lenin unverhüllten Ausdruck: „Den absterbenden Staat kann man auf einer gewissen Stufe des Absterbens als unpolitischen Staat bezeichnen ...“ Aus dem Engels’schen Pleonasmus wird die vollendetste contradictio in adjecto.

(Sozialismus und Staat, 2. Aufl., S. 89 f.)

Kelsen findet also, daß der unpolitische Staat überhaupt kein Staat und daher abgestorben sei. Soweit ich die Marxismus-Literatur übersehe, wird in englischen und französischen Ausgaben der Marx’schen Werke, in denen der Ausdruck „politischer Staat“ vorkommt (z.B. „Zur Judenfrage“) die Nuançierung „politisch“ nicht übersetzt, so daß daraus tatsächlich die Meinung entstehen konnte, Marx lehre das Absterben des Staates im konkretesten Sinne dieses Ausdruckes.

Was Kelsen übersieht

Wäre nun auf die Marx’sche Staatstheorie im Hauptteil der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ eingegangen worden, so hätte deutlich werden müssen, daß die merkwürdige Begriffsverdoppelung — einmal Staat als ausbeutende Zwangsordnung, das andere Mal als zukünftige Gesellschaftsordnung — einen konkreten Sinn hat, ja, daß der Ausdruck „politischer Staat“ eine echte Begriffsschöpfung ist. Fast wage ich zu behaupten, daß dann die Absterbenslehre eine andere Entwicklung hätte nehmen müssen.

Marx befaßt sich in dem als Manuskript entdeckten Hauptteil der „Kritik“ grundlegend mit der Staatstheorie Hegels. Auf folgende Passage (Marx-Engels, Werke, Bd. I, S. 231 f.) sei verwiesen:

Hegel geht vom Staat aus und macht den Menschen zum versubjektivierten Staat; die Demokratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum verobjektivierten Menschen. Wie die Religion nicht den Menschen, sondern wie der Mensch die Religion schafft, so schafft nicht die Verfassung das Volk, sondern das Volk die Verfassung. Die Demokratie verhält sich in gewisser Hinsicht zu allen übrigen Staatsformen, wie das Christentum sich zu allen übrigen Religionen verhält ... Der Mensch ist nicht des Gesetzes, sondern das Gesetz ist des Menschen wegen da, es ist menschliches Dasein, während in den anderen (Staatsformen — d.V.) der Mensch das gesetzliche Dasein ist. Das ist die Grunddifferenz der Demokratie ... Die neueren Franzosen haben dies so aufgefaßt, daß in der wahren Demokratie der politische Staat untergehe. Dies ist insofern richtig, als er qua politischer Staat, als Verfassung, nicht mehr für das Ganze gilt ... Es versteht sich übrigens von selbst, daß alle Staatsformen zu ihrer Wahrheit die Demokratie haben und daher eben, soweit sie nicht die Demokratie sind, unwahr sind ... In der Demokratie hat der abstrakte Staat aufgehört, das herrschende Moment zu sein ...

Marx läßt hier erkennen, daß Hegels Lehre die Theorie des politischen Staates — des unterdrückenden Staates — sei. Die Demokratie aber sei der wahre Staat, der Staat an sich. Der politische Staat Hegels werde absterben, der wahre Staat — die Demokratie — werde bestehen bleiben. Anders ausgedrückt: Staaten und Staatsformen werden untergehen, aber die Demokratie wird bestehen.

Unnützer Angriff gegen Hegel

Die Mißverständnisse in diesem Punkt scheinen aber noch weiter zu gehen. Der Angriff marxistischer und bürgerlicher Theoretiker gegen die Staatstheorie Hegels geht nämlich meines Erachtens zumindest theoretisch ins Leere. Das beweist auch die überaus kundige Arbeit des Münsteraner Philosophen Rohrmoser (Hegels Lehre vom Staat und das Problem der Freiheit in der modernen Gesellschaft, in: Der Staat, 1964, S. 391 ff.). Nur soviel sei hier hervorgehoben: Hegel will mit seiner Staatstheorie nicht den Staat als endgültiges Wesen, sondern nur den Staat seiner Zeit begreifen. Das kann in der Vorrede der Hegel’schen Grundlinien der Philosophie des Rechts (Verlag Meiner, 1955, S. 16) nachgelesen werden.

Auch die Marx’sche Absterbenslehre hatte daher nur den zeitgenössischen Staat — den Klassenstaat in der Form des preußischen Absolutismus — zum Gegenstand gehabt. Im übrigen bekennt sich Marx zur Demokratie als dem Staat schlechthin.

Kelsen bekennt sich gleichfalls zur Demokratie. Es sind dies aber zwei Bekenntnisse, die sich bei genauerem Hinsehen nicht decken können.

Was Marx als Demokratie vorschwebt, ergibt sich nicht aus seiner Kritik der Hegel’schen Staatsauffassung, sondern aus seiner Beurteilung eines historischen Ereignisses, das er als Beweis für seine Absterbenslehre interpretierte; ich meine die von ihm verfaßte Adresse des Generalrates der Internationalen Arbeiterassoziation („Der Bürgerkrieg in Frankreich“) 1870/71. Ich glaube, daß die dort verherrlichte Demokratie in der Erscheinungsform der Pariser Kommune auch nicht dem Demokratiebegriff Max Adlers entspricht, sondern den Ideen des chinesischen Ideologen Mao Tse-tung, die in den chinesischen Volkskommunen zum Ausdruck kommen. Diese sind kleine totale Gemeinwesen, deren Struktur und Geisteshaltung dem politischen Absolutismus entsprechen. Hier hat der Staat auch den letzten Rest von Gesellschaft ausgetilgt. Oder — anders ausgedrückt — die politische Gesellschaft hat den Staat total aufgesaugt und den Menschen samt und sonders in ihren Bann geschlagen.

Hans Kelsen schließt das V. Kapitel seiner zweiten Auflage von „Sozialismus und Staat“ mit dem folgenden Wortlaut: „Denn wer sich nur auf irdische Wahrheit stützt, wer nur menschliche Erkenntnis die sozialen Ziele richten läßt, der kann den zu ihrer Verwirklichung unvermeidlichen Zwang kaum anders rechtfertigen als durch die Zustimmung wenigstens der Mehrheit derjenigen, denen die Zwangsordnung zum Heile gereichen soll; und diese Zwangsordnung darf nur so beschaffen sein, daß auch die Minderheit — weil nicht absolut im Unrecht — nicht absolut rechtlos, jederzeit selbst zur Mehrheit werden kann.“ Damit deutet Kelsen an, daß zur Erfüllung menschlicher wie gesellschaftlicher Freiheit immer ein Staat existieren müsse, der die politische Minderheit schützt. Ob die gerühmte Staatsform so wirkt, wie man sich dies vorstellt, sei dahingestellt.

Jedenfalls kann der Beitrag Kelsens zur Staatstheorie des Marxismus kaum als mit normativer Methode erarbeitet angesehen werden. Kelsen fällt im letzten politische Werturteile. Das wolle bei der Interpretation des Kelsen’schen Gesamtwerkes mit in Rechnung gestellt werden. Was Kelsen in seinen Marxismus-Studien entwickelt, geht weit über das Methodische hinaus, das er sich sonst zur Aufgabe stellt. Ja, der Ansatzpunkt seiner Lehre wird geradezu verkehrt: die Natur des Gegenstandes hat ihm die Methode aufgezwungen.

So stoßen in der Kelsen’schen Kritik der marxistischen Staatsauffassung zwei Methoden aufeinander — die normative Methode und die Fällung politischer Werturteile —, die beide nicht die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft gemäß von vornherein bestimmbaren Tendenzen aufzeigen können. Man wird daher in jedem Fall auf den Menschen verwiesen und darauf, was er aus sich selbst und seiner Welt machen wird.

Dennoch ist der Wissenschaft vom Staate das wissenschaftlich Mögliche anvertraut: in dem angeführten Zusammenhang wäre das Verhältnis von normativer und dialektischer Methode in der Staatswissenschaft zu ergründen. Diese Problemstellung berührt gerade die Wiener rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät und ihr Ansehen, hat doch der seinerzeitige Unterrichtsminister Freiherr von Gautsch in der bis heute unberücksichtigten Debatte des Herrenhauses im Jahre 1891 über die juristische Studienreform erklärt, daß die hiesige Fakultät ihr Ansehen in der Welt der Wissenschaft wegen der Methode gefunden habe, mit der hier die Disziplinen der Wissenschaft vertreten werden.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1965
, Seite 226
Autor/inn/en:

Felix Ermacora:

Dr. jur., Professor für Öffentliches Recht an der Universität Wien, Mitglied der Europäischen und der UNO-Menschenrechtskommission, Verfasser zahlreicher juristischer Werke (zuletzt „Handbuch der Grundfreiheiten und Menschenrechte“, Verlag Manz).

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