FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 94
Ernst Topitsch

Kelsen und die Ideologien

Hans Kelsen ist in Österreich vor allem als Rechtsgelehrter und Rechtsphilosoph bekannt geworden. Seine Beiträge zur Ideologiekritik sind mitunter selbst jenen nicht oder nur unzureichend vertraut, welche im übrigen sein Werk kennen und schätzen. Das ist kein Zufall, denn der größte Teil seiner diesbezüglichen Arbeiten ist erst in der Emigration entstanden und zumeist nur in englischer Sprache zugänglich. So sind diese Untersuchungen im deutschen Sprachgebiet kaum zur Geltung gekommen — was umso bedauerlicher ist, als gerade hier ihre Wirkung heilsam sein könnte. Denn hier überschneidet sich ein weitreichender und tiefgreifender Prozeß der Entideologisierung mit allerlei Bestrebungen zur Konservierung oder Restaurierung der hiedurch gefährdeten Denkformen.

Der Angriff Kelsens auf das ideologische Denken entspringt seiner Kritik der Naturrechtslehren und erweitert sich zu einer soziologischen und wissenschaftstheoretischen Analyse der vorwissenschaftlichen Weltauffassung, in der die Naturrechtstheorien verwurzelt sind. Die unerbittliche Folgerichtigkeit dieser Kritik mag konzilianteren Naturen als unnötige Schärfe erscheinen. Vielleicht hat Kelsen tatsächlich da und dort über das Ziel hinausgeschossen. Im ganzen war jene Folgerichtigkeit notwendig und wissenschaftlich fruchtbar.

Die kritische Stoßkraft der Argumente Kelsens ergibt sich — wie überhaupt seine geistesgeschichtliche Stellung und Leistung — aus der Spannung zwischen dem eigengesetzlichen Fortschritt der Wissenschaft und den ideologischen Forderungen, die aus der sozialen und politischen Entwicklung Europas in unserem Jahrhundert resultieren. Kelsen selbst hat schon früh die scheinbar paradoxe Tatsache festgestellt, daß „gerade zu dem Zeitpunkte, da man vermeinte, daß der Positivismus die naturrechtliche Spekulation endgültig aus dem Feld geschlagen habe — im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts — eine bewußt naturrechtliche Bewegung einsetzt“. Er hat mit nüchternem Scharfblick einige wesentliche Ursachen dieses Wandels diagnostiziert:

Eine antimetaphysische, wissenschaftlich-kritische Weltanschauung mit ihrem Ideal der Objektivität will ebenso wie der Rechtspositivismus nur in relativ ruhigen Zeiten, in Epochen des sozialen Gleichgewichtes gedeihen. Sobald die gesellschaftlichen Grundlagen und mit ihnen das Selbstbewußtsein des Individuums — wie dies durch den großen Krieg geschehen — auf das tiefste erschüttert werden, sobald die meisten Werte, die man bis dahin als selbstverständlich hingenommen, in Frage gestellt sind, sobald der Gegensatz zwischen den Interessengruppen aufs äußerste verschärft ... ist, muß sich ein wesentlich erhöhtes Bedürfnis nach absoluter Rechtfertigung der in diesem Kampfe auftretenden Postulate einstellen. Wenn schon der einzelne Mensch sein jeweiliges Interesse naiv als ‚Recht‘ erlebt, um wieviel mehr will jede Interessengruppe zur Durchsetzung ihrer Forderungen sich auf die ‚Gerechtigkeit‘ berufen können. [1]

Seit diese Sätze — vor mehr als einem Menschenalter geschrieben wurden, hat sich die Tendenz zur „Wiedergeburt des Naturrechts“ zumindest nicht abgeschwächt. Jedoch ist es den Vorkämpfern dieser Tendenz nicht möglich gewesen, stichhaltige Argumente gegen die Kritik Kelsens vorzubringen. Vielmehr hat seine Kritik mit immer größerer Klarheit die logischen Schwächen der Naturrechtsideologien an den Tag gebracht. In klassischer Schlichtheit und Schlüssigkeit hat Kelsen seine Beweisführung in der kleinen Schrift „Was ist Gerechtigkeit?“ niedergelegt. Diese Schrift — die deutsche Fassung seiner Abschiedsvorlesung am 27. Mai 1952 an der University of California — zeigt auf überzeugende Weise, daß es unlösbare soziale wie moralische Konflikte gibt und daß keine absolut gültigen Normen oder Werte existieren, nach denen solche Konflikte „gerecht“ entschieden werden könnten:

Die Antwort auf die Frage nach der Rangordnung der Werte — wie Leben und Freiheit, Freiheit und Gleichheit, Freiheit und Sicherheit, Wahrheit und Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit, Individuum und Nation — muß verschieden ausfallen ... und die Antwort wird stets den Charakter eines subjektiven und daher bloß relativen Werturteils haben. [2]

Doch bedeutet die Subjektivität der Werturteile nicht, daß jedes Individuum sein eigenes Wertsystem hätte. Vielmehr sind die Wertsysteme, insbesondere die Moralordnungen mit ihrer Zentralidee der Gerechtigkeit, soziale Erscheinungen. Daher unterscheiden sie sich je nach den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen, innerhalb deren sie zustandekommen. Obwohl die Frage nach dem höchsten Wert oder dem richtigen Moralsystem rational nicht beantwortet werden kann, suchen die Menschen ihr Verhalten mit Hilfe solcher Werte und Systeme zu rechtfertigen. Bei der Beurteilung dieser Tatsache kommt Kelsen zu sehr pessimistischen Folgerungen:

Das Bedürfnis nach Rechtfertigung oder Rationalisierung ist vielleicht einer der Unterschiede, die zwischen Mensch und Tier bestehen. Das äußere Verhalten der Menschen unterscheidet sich nicht sehr von dem der Tiere: die großen Fische fressen die kleinen, im Tierreich wie im Menschenreich. Wenn aber ein menschlicher Fisch, von seinen Instinkten getrieben, sich so verhält, wünscht er doch sein Verhalten vor sich selbst und vor der Gesellschaft zu rechtfertigen, sein Gewissen mit der Vorstellung zu beruhigen, daß sein Verhalten gegenüber seinen Nebenmenschen gut ist. [3]

Freilich liegen der Forderung nach „Gerechtigkeit“ mitunter auch uneigennützige Motive zugrunde. Umso tragischer mag es anmuten, daß es auf die Frage „Was ist Gerechtigkeit?“ keine Antwort gibt, die jene befriedigt, welche sie stellen. Wer meint, ein allgemeingültiges höchstes Rechtsprinzip oder einen obersten Wert wissenschaftlich-rational bestimmen zu können, fällt der Illusion zum Opfer,

daß es möglich sei, in der menschlichen Vernunft gewisse Grundprinzipien zu finden, die jene absoluten Werte konstituieren — die aber in Wahrheit von den emotionalen Elementen ihres Bewußtseins konstituiert werden. Die Bestimmung der absoluten Werte im allgemeinen und die Definition der Gerechtigkeit im besonderen, die auf diesem Wege erzielt werden, erweisen sich als völlig leere Formeln, durch die jede beliebige gesellschaftliche Ordnung als gerecht gerechtfertigt werden kann. [4]

Formeln der Gerechtigkeit

Zu diesen inhaltsleeren Formeln der Gerechtigkeit zählt das alte, auch heute noch strapazierte Prinzip „Jedem das Seine“ sowie das marxistische Postulat „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Diese scheinbaren „obersten Grundsätze“ setzen jeweils schon konkrete Wertungen und Normen voraus, nach denen jedem das Seine zugeteilt werden soll, nach denen die Fähigkeiten und Bedürfnisse zu beurteilen sind. Solche Grundsätze lassen sich daher mit jedem beliebigen Wertsystem und mit jeder nur denkbaren, bestehenden oder gewünschten Sozialordnung vereinbaren. Dasselbe gilt für die sogenannte Goldene Regel („Was du nicht willst, daß man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu“), für Kants Kategorischen Imperativ oder für die aristotelische Formel von der „rechten Mitte“. Die eigentliche Funktion der zuletzt genannten Formel

ist nicht, das Wesen der Gerechtigkeit zu bestimmen, sondern die Geltung der bestehenden, in der positiven Moral und dem positiven Recht etablierten Gesellschaftsordnung zu bekräftigen. Diese politisch höchst bedeutsame Leistung sichert die aristotelische Ethik gegen eine kritische Analyse, die ihre wissenschaftliche Wertlosigkeit aufzeigt. [5]

Nicht weniger vergeblich waren die Versuche, aus der allgemeinen oder menschlichen Natur oder Vernunft letztgültige Werte oder Normen abzuleiten. Was dabei herauskam, waren nur die jeweils schon vorausgesetzten moralisch-politischen Stellungnahmen. Mit den auf Trugschlüssen gegründeten Methoden der Naturrechtslehren kann man eben alles und daher nichts beweisen. [6]

Diese Einsichten Kelsens, die von verwandten Denkern geteilt werden, sind aus naheliegenden Gründen auf erbitterten Widerstand gestoßen. Da man ihnen sachlich nichts entgegenzusetzen hatte, wurde versucht, sie dadurch zu diffamieren, daß man ihnen verhängnisvolle praktische Konsequenzen zuschrieb: sie seien amoralisch oder antimoralisch und die notwendige Folge des „glaubenslosen, religions- und metaphysikfeindlichen Positivismus“ bilde der totale Staat. Nur ein naturrechtlich begründetes absolutes Wertsystem könne — so wurde behauptet — die Gefahr des neuen Leviathan abwenden. Dem ist zu erwidern, daß die naturrechtlichen Leerformeln auch verwendet werden können und tatsächlich verwendet wurden, um die Diktatur zu rechtfertigen.

NS- und KP-Naturrecht

Nationalsozialismus und Bolschewismus [7] haben explizit oder implizit eine naturrechtliche Legitimierung in Anspruch genommen. Man sollte sich auch daran erinnern, daß die Diktatur Hitlers nicht bloß vom engeren Kreis ihrer Anhänger auf solche Weise gerechtfertigt wurde; 1933 haben angesehene Autoren anderer Lager den Nationalsozialismus als „Durchbruch des vollen Naturrechts“, als „Wiederdurchsetzung der organischen Gemeinschafts- und Kulturverfassung“ und als „ Rückkehr zur Natur- und Schöpfungsordnung“ verherrlicht und behauptet, daß Hitler die „naturgegebenen Ordnungen und Wirklichkeiten“ gegen die Unnatur des Liberalismus und Bolschewismus wieder zur Geltung gebracht hätte. Man interpretierte damals den Nationalsozialismus sogar als Überwindung des Klassenkampfes zugunsten jener naturrechtlich begründeten berufsständischen Ordnung, welche die Enzyklika „Quadragesimo anno“ empfohlen hatte. [8]

Die moralisch-politische Bewertung dieses Verhaltens steht hier nicht zur Diskussion. Die erwähnten Tatsachen sollen nur bestätigen, wie illusionär der heute eifrig propagierte Glaube ist, daß die Naturrechtsideologien einen Rückhalt gegen den Totalitarismus bieten.

Auch der Marxismus ist eine echte Naturrechtslehre. Nur ist für ihn das Naturrecht keine bloße Norm, die verwirklicht werden kann oder auch nicht, sondern es ist in den Geschichtslauf eingesenkt; die Durchsetzung der wahren Gerechtigkeit wird als das mit Notwendigkeit sich verwirklichende Endziel der Geschichte betrachtet. Der gerechten Sache des Proletariats ist der Endsieg durch das allgemeine Geschichtsgesetz garantiert. Kelsen kritisiert diese säkularisierte Form des Glaubens an einen historischen Heilsplan Gottes sowie die — gleichfalls aus theologischen Spekulationen hervorgegangene — Dialektik des Marxismus. Ähnlich wie die Leerformeln des Naturrechts läßt sich auch die Dialektik zur Legitimierung oder Bekämpfung jeder beliebigen moralisch-politischen Maßnahme, Bewegung oder Institution verwenden.

Nichts kann die wissenschaftliche Belanglosigkeit der dialektischen Methode klarer beweisen als der Umstand, daß sie es Hegel gestattet, den Staat als einen Gott zu verherrlichen, und es Marx erlaubt, ihn als einen Teufel zu verfluchen. Unter Anwendung dieser Methode behauptet der eine, daß die fortschreitende Verwirklichung der Vernunft — mit Hilfe von Kriegen — notwendig zur Weltherrschaft der deutschen Nation führt, während der andere als unvermeidbares Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung die revolutionäre Errichtung der freien Gesellschaft des Weltkommunismus vorhersagt. [9]

Die Dialektik kann von den an der Macht Befindlichen und von den zur Macht Drängenden gleicherweise in Dienst genommen werden: die einen verklären die bestehende Herrschaftsordnung als drittes, abschließendes und krönendes Stadium; die andern verweisen diese Ordnung in die zweite, negative und zur Überwindung bestimmte Phase, wogegen sie die eigene Machtübernahme als erlösenden Sprung in die dritte Phase prophezeien.

Jede geschichtliche Situation kann — je nach ihrer politischen Bewertung durch den Betrachter — als Thesis, Antithesis oder Synthesis gedeutet werden. So kann die dialektische Methode jede beliebige politische Überzeugung befriedigen. Die Tatsache, daß die dialektische Methode für jeden politischen Zweck benützt werden kann, erklärt ihre außerordentliche Anziehungskraft und ihre weltweite Verbreitung, die allein mit dem Erfolg der Naturrechtsdoktrin im 18. Jahrhundert vergleichbar ist. [10]

Die Widersprüche des Marxismus

Mit viel Scharfsinn hat Kelsen die große Zahl von Widersprüchen innerhalb der marxistischen Theorie sowie zwischen dieser und der sowjetischen Wirklichkeit bloßgelegt, z.B. die Vermischung von wissenschaftlicher Analyse und politischer Programmatik sowie die Spannung zwischen einer weitgehend anarchistischen Doktrin und einer höchst autoritären Praxis. Während Marx und Engels das Absterben des Staates prophezeit hatten, ist in ihrem Namen eines der mächtigsten Herrschaftsgebilde aller Zeiten errichtet worden. Freilich lassen sich die Marxisten durch derartige Einwände wenig beeindrucken. Mit Hilfe ihrer „höheren Logik“, der Dialektik, können sie behaupten, daß der Staat seinem Wesen nach ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Ausbeutung, als proletarischer Staat jedoch das spezifische Instrument zur Abschaffung der Ausbeutung sei; daß der proletarische Staat zugleich eine Demokratie und eine Diktatur darstelle; daß der Kommunismus die individuelle Freiheit verwirkliche und zugleich die kollektive Autorität organisiere usw. Sie stellen die Theorie des Sozialismus als moralisch indifferente Wissenschaft dar und proklamieren zugleich im Namen der Wissenschaft die wahre, aus Freiheit und Gleichheit bestehende Gerechtigkeit; sie behaupten, es gebe so etwas wie eine objektive Wissenschaft gar nicht, und rühmen sich, den Sozialismus zur Wissenschaft erhoben zu haben. Am deutlichsten ergibt sich die tatsächliche Funktion dieser Dialektik aus den Sätzen Stalins im politischen Bericht des Zentralkomitees an den XVI. Parteikongreß (1930):

Wir sind für das Absterben des Staates, während wir zugleich für die Stärkung der Diktatur des Proletariates eintreten, welche die mächtigste und gewaltigste Staatsautorität darstellt, die bis jetzt bestanden hat. Die höchste Entwicklung der Staatsautorität mit dem Zweck, die Bedingungen für das Absterben der Staatsautorität zu schaffen: das ist die marxistische Formel. Ist das ‚widersprüchlich‘? Ja, es ist ‚widersprüchlich‘! Aber es ist ein lebendiger, fruchtbarer Widerspruch, und er bringt völlig die marxistische Dialektik zum Ausdruck. [11]

Es gab sowjetische Denker, die es mit den marxistischen Lehren von Staat und Recht ernst nahmen und nicht bereit waren, sich dem Lauf der Dinge anzupassen (welchen man freilich nicht auf Grund der marxistischen Prophetie, wohl aber auf Grund der illusionslosen Analyse von Robert Michels hätte voraussehen können). Ihnen erging es schlecht. Mit besonderer Ausführlichkeit hat Kelsen den Fall des bedeutenden sowjetischen Rechtstheoretikers Paschukanis behandelt, welcher noch in den Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren an der marxistischen These festhielt, daß die Rechtsordnung eine spezifische Institution der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sei. Paschukanis leugnete daher die Möglichkeit eines proletarischen Rechtes und lehrte, daß die Beseitigung der Ausbeutergesellschaft nicht eine neue Rechtsordnung herbeiführen, sondern das allmähliche Verschwinden des juristischen Elementes aus den zwischenmenschlichen Beziehungen bewirken werde. Bei dieser Vorstellung wirkt noch der Glaube an das künftige Goldene Zeitalter nach, in welchem der Wolf friedlich neben dem Lamm lagert. Paschukanis hatte sich freilich den faktischen politischen Verhältnissen insofern angepaßt, als er für eine Übergangsperiode die Beibehaltung von Recht und Staat billigte. Doch dieses Zugeständnis war der im Aufstieg begriffenen stalinistischen Autokratie zu geringfügig. Der Marxismus wurde damals zur Rechtfertigungsideologie der neu konsolidierten Staatsmacht und Paschukanis. mußte — wie so viele gläubige Marxisten — sein Vertrauen in die Eschatologie des großen Propheten mit dem Leben bezahlen. [12]

Die ideologiekritische Leistung Kelsens besteht nicht bloß darin, daß er die politische Manipulierbarkeit der naturrechtlichen und dialektischen Leerformeln nachwies. In seiner bahnbrechenden Untersuchung „Society and Nature“ [13] zeigte er, daß in der vorwissenschaftlichen Weltbetrachtung das Naturgeschehen weitgehend nach Analogie der Sozialformen gedeutet wird und daß diese Deutung bestimmte Konsequenzen nach sich zieht. Wie so viele geniale Leistungen beruht auch diese darauf, daß einfache und naheliegende, aber gerade deshalb zumeist übersehene Sachverhalte erkannt und folgerichtig ins Bewußtsein gehoben werden. Vor der Entwicklung der Naturwissenschaften gab es noch keinen Begriffsapparat, mit dem das physische Geschehen in objektiver Weise hätte erfaßt werden können. Daher deutete man damals das Universum im ganzen wie auch seine einzelnen Ausschnitte oder Abläufe häufig nach dem Modell von Vorgängen und Verhältnissen, die im Alltag wichtig und emotional bedeutsam sind. Insbesondere vollzog sich dieser Deutungsprozeß nach dem Modell der sozialen Beziehungen, aber auch nach dem Modell der künstlerisch-handwerklichen Fertigung oder der grundlegenden Lebensprozesse.

An Hand umfangreichen ethnologischen Materials zeigt Kelsen, in wie hohem Maße diese soziomorphe Deutung der Natur — vor allem die Auffassung der Kausalität nach dem Vorbild der Vergeltung — das Denken der Primitiven bestimmt. Und nicht nur dieses. Auch die mit den Vorsokratikern beginnende abendländische Tradition der Philosophie ist lange Zeit davon ausgegangen, daß die Welt als Rechts- oder Herrschaftsordnung einem einzigen Gesetz oder Souverän unterstehe. Noch in der Neuzeit haben hervorragende Denker die „Naturgesetze“ als Dekrete des göttlichen Willens aufgefaßt, denen die Naturobjekte „gehorchen“ wie die vergesellschafteten Menschen den staatlichen Gesetzen. Ihrer Eigenschaft als Äußerungen der göttlichen Allmacht verdanken die Naturgesetze ihre Allgemeingültigkeit, Notwendigkeit und Unverbrüchlichkeit. Es war eine der großen Leistungen David Humes, daß er die kausalen Beziehungen nicht mehr als Verwirklichung der aus dem Willen Gottes erflossenen „ewigen Gesetze“ auffaßte und ihnen daher das Prädikat der Notwendigkeit absprechen konnte. Damit war der Weg frei für die Neufassung des Begriffes der Kausalität; der letzte Schritt auf diesem Weg — die Ersetzung der Kausalität durch die statistische Wahrscheinlichkeit — gilt mit Recht als Revolution im wissenschaftlichen Denken.

Die Gesellschaft als Modell

Von Kelsen sind auf diesem Gebiet wesentliche Anregungen ausgegangen. Unter anderem versuchte auch der Verfasser dieser Würdigung, Kelsens Einsicht in die grundlegende Bedeutung sozialer Modellvorstellungen mit den Erkenntnissen geistesverwandter Denker — Heinrich Gomperz, Vilfredo Pareto, Max Weber — zu kombinieren. [14] Jüngsthin schilderte der Tübinger Biologe Hans M. Peters in einer tiefschürfenden und kenntnisreichen Untersuchung die Rolle soziomorpher Modelle an Hand konkreter Fälle aus der Geschichte der Biologie. [15] Obgleich Peters nur indirekt von Kelsen beeinflußt ist, bestätigt seine Arbeit sehr weitgehend dessen Thesen. In „Society and Nature“ hatte Kelsen gezeigt, wie sich der Kausalitätsbegriff unter dem Einfluß sozialer Vorstellungen bildet und schließlich von diesen loslöst. Ähnlich berichtet Peters:

Um ‚Übertragung‘ des Modells auf die Natur, wie es oft heißt, handelt es sich also nur im Anfangsstadium des Erkenntnisprozesses. Mit ihr zugleich setzt ein gegenläufiger Vorgang der Ablösung ein. Er ergibt sich aus den Unstimmigkeiten zwischen dem Modell und dem Realzusammenhang, auf den es sich richtet. Diese Unstimmigkeiten sind der Anlaß zu dem Versuch, auf der Seite des noch unbekannten Zusammenhanges Daten zu finden, an welche seine vorläufig unter dem Bilde des Modells bereits aufgefaßten Einzelzüge angeschlossen werden können. In dem Maße, wie dieser Versuch Erfolg hat, übernimmt die Orientierung am Realzusammenhang die Steuerung des Prozesses, bis schließlich das Modell belanglos zurückbleibt. [16]

Freilich vollzieht sich diese Loslösung zunächst bloß in der Wissenschaft, und die Öffentlichkeit — auch das gebildete Publikum — nimmt davon kaum Notiz. Vor allem aber streben die „naturphilosophischen“, d.h. ideologischen Deutungen des Kosmos nach einer Konservierung der Modelle, denen sie ihre Existenz verdanken:

Wenn innerhalb der kritischen Forschung Denkmodelle nur im Hinblick auf ihre Funktion bei der Entschlüsselung des Problemgebietes interessant sind, auf das man das Augenmerk gerichtet hält, so wendet sich das Interesse des großen Publikums gerade umgekehrt an das Modell als solches. Dem vielschichtigen, schwer zu handhabenden Material der Wissenschaft fernstehend, an den Umgang mit ihren Methoden nicht gewöhnt, hält es sich vor allem an die Analogie. Diese ist so viel leichter zugänglich, als die Realzusammenhänge es sind, auf welche die Analogie abzielt, und mit dem Bilde glaubt man schon die Sache selbst zu haben. Die Unterschiede zwischen den sachlichen Aussagen der Lehre und den Bildern, unter denen diese in mühevoller Forschung eben erst gewonnen wurden, tauchen wieder unter in banalen Gleichsetzungen. [17]

Diese Gleichsetzungen und Verwischungen werden jedoch in erster Linie nicht durch die mangelnde wissenschaftliche Schulung des Publikums gefördert, sondern durch ihre ideologische Brauchbarkeit. Die soziomorphen Bilder — nicht aber die wertneutralen wissenschaftlichen Begriffe — erlauben es, bestimmte moralisch-politische Gesichtspunkte und Normen in das Naturgeschehen hineinzulegen und mit Hilfe von Zirkelschlüssen wiederum daraus abzulesen, wie dies die Naturrechtsideologien tun.

Ein verwandtes, besonders eindrucksvolles Beispiel bietet der Sozial-Darwinismus, der etwa um die Jahrhundertwende seinen Höhepunkt erreichte. Darwins Theorie von der natürlichen Zuchtwahl wurde durch die Bevölkerungslehre von Malthus (und in weiterer Folge durch Hobbes’ „Krieg aller gegen alle“) angeregt. Für einen populärphilosophischen Darwinismus lag nichts näher, als den „Kampf ums Dasein“ in alle Erscheinungen der belebten und selbst der unbelebten Natur hineinzuinterpretieren und ihn dann als „allgemeingültiges Gesetz“ auf die Gesellschaft rückzubeziehen — wodurch die ökonomische, politische und militärische Konkurrenz des Kapitalismus, Imperialismus und Militarismus jener Zeit gewissermaßen eine kosmische Rechtfertigung erhielt.

Kelsens Anschauungen sind — wie es mit bahnbrechenden Leistungen der Wissenschaft der Fall zu sein pflegt — auf heftigen Widerstand gestoßen. Weil man seine Thesen sachlich nicht widerlegen konnte, versuchte man sie zu diskreditieren, indem man sie als destruktiv bezeichnete und ihnen fatale Auswirkungen zuschrieb. Nun sind auch die schlimmsten Konsequenzen schlechterdings kein Argument gegen die Wahrheit einer wissenschaftlichen Behauptung; es wird z.B. kein einziger Satz der Atomphysik dadurch widerlegt, daß die Menschheit mit Hilfe dieser Disziplin Selbstmord begehen kann. Dennoch muß man sich auch mit solchen Einwänden befassen, da sie häufig vorgebracht werden und eine nicht zu unterschätzende Publikumswirkung erzielen.

Es ist nicht zu leugnen, daß die Ansichten Kelsens manche Menschen beunruhigen können, doch ist es sehr fraglich, ob sie die unerwünschten Folgen zeitigen, die man ihnen gern zuschreibt. Gewiß bietet der Rechtspositivismus keinen ideologischen Rückhalt bei politischen Auseinandersetzungen, und er täuscht auch nicht vor, hiebei einen erkenntnismäßigen Rückhalt zu gewähren — wie dies die Naturrechtslehren tun. Da sie nur Scheinbegründungen bereits vorausgesetzter ethisch-politischer Positionen darstellen, sind sie selbst in eine Mehrzahl einander oft schroff widersprechender Richtungen aufgespalten. Sie geben dem nach Rat und Sicherheit verlangenden Menschen

ebenso viele und ebenso verschiedene Antworten wie der relativistische Positivismus. Sie ersparen dem Individuum nicht die Wahl. Aber jede dieser Naturrechtslehren gibt dem Individuum die Illusion, daß die Gerechtigkeitsnorm, die es wählt, von Gott, der Natur oder der Vernunft stammt, daher absolut gültig ist und die Möglichkeit der Geltung einer anderen ihr widersprechenden Gerechtigkeitsnorm ausschließt; und für diese Illusion bringen viele jedes sacrificium intellectus. [18]

Demokratie und Relativismus

Obgleich die Reine Rechtslehre Kelsens ideologiekritisch eingestellt ist und nach Ideologiefreiheit strebt, ist sie nicht politisch irrelevant — sonst hätte sie gewiß nicht so viel Widerspruch gefunden. Schon ein oberflächlicher Überblick läßt erkennen, daß die Ansichten Kelsens und verwandter Denker in autoritären Staaten abgelehnt werden und daß Vertreter dieser Ansichten dort mit Schwierigkeiten in ihrer akademischen Laufbahn — wenn nicht mit Schlimmerem — rechnen müssen. Hingegen bieten die Demokratien einen günstigen Boden für solche Anschauungen. Das kommt nicht von ungefähr. Herrschaftssysteme mit ausgesprochen hierarchischem Aufbau und großen Unterschieden an Macht, Besitz und Prestige benötigen das metaphysische Pathos des „Absoluten“, wie es den Naturrechtslehren eigentümlich ist. Die Demokratien mit ihrer verhältnismäßig ausgeglichenen Sozialstruktur haben es nicht notwendig, soziale Unterschiede für den Gebrauch der Unterschicht, aber auch der Privilegierten, ideologisch zu rechtfertigen.

Demgemäß hat das von Kelsen vertretene Prinzip der Toleranz in einer Demokratie die größte Aussicht auf Verwirklichung und wirkt festigend auf diese zurück. Freilich kann das kritische Denken auch dieses Prinzip nicht mit dem Anspruch auf absolute Gültigkeit vertreten. Vom Standpunkt rationaler Erkenntnis stehen für die Lösung menschlicher Interessenkonflikte nur zwei Wege offen: entweder das eine Interesse auf Kosten des anderen restlos durchzusetzen, oder ein Kompromiß zwischen den beiden herbeizuführen. Wer den sozialen Frieden als höchsten Wert voraussetzt, wird dem Kompromiß den Vorzug geben. Aber auch diese Lösung stellt nur die relative Gerechtigkeit her. Das gleiche gilt für die Gesinnung der Toleranz, aus welcher die Bereitschaft zum Kompromiß entspringt. Die Toleranz hat ihren Platz im Rahmen einer positiven Rechtsordnung, welche die gegenseitige Gewaltanwendung der Rechtspartner verbietet, aber ihre friedliche Meinungsäußerung nicht einschränkt. Toleranz im Sinne Kelsens bedeutet keine Selbstpreisgabe der Demokratie. Auch die demokratische Regierung darf Bestrebungen, sie mit Gewalt zu beseitigen, mit Gewalt entgegentreten — wann diese Mittel statthaft sind und wann nicht, läßt sich schwer entscheiden; darin liegt ein Moment der gefährlichen Unsicherheit: „Aber es ist das Wesen und die Ehre der Demokratie, diese Gefahr auf sich zu nehmen; und wenn die Demokratie diese Gefahr nicht bestehen kann, dann ist sie nicht wert, verteidigt zu werden.“ [19]

[1H. Kelsen: Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Charlottenburg 1928, S. 77.

[2H. Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953, S. 10 f.

[3Ebendort, S. 13 f.

[4Ebendort, S. 18.

[5Ebendort, S. 36.

[6Zur Kritik der naturrechtlichen Leerformeln vgl. auch H. Kelsen: Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 402 ff.

[7Über den Marxismus als Naturrechtstheorie vgl. H. Kelsen: The Communist Theory of Law, New York 1955, S. 20 ff.

[8E.-W. Böckenförde: Der deutsche Katholizismus im Jahr 1933, „Hochland“, 53. Jahrg. (1960/61), Heft 3, S. 226 ff.

[9H. Kelsen: The Political Theory of Bolshevism, California UP 1948, S. 19 ff.

[10Ebendort.

[11The Communist Theory of Law, S. 49 f.

[12Ebendort, S. 89 f.

[13Chikago 1943; eine deutsche Fassung ist unter dem Titel „Vergeltung und Kausalität“, Den Haag 1946, erschienen.

[14E. Topitsch: Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, Wien 1958. Ders.: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied—Berlin 1961.

[15H. M. Peters: Soziomorphe Modelle in der Biologie, „RATIO“, Jg. 1960, S. 22 ff.

[16Ebendort, S. 33.

[17Ebendort, S. 36.

[18Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 442.

[19Was ist Gerechtigkeit?, S. 42

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1961
, Seite 358
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Ernst Topitsch:

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