FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 130
Max Brod

Kafka stand niemals beiseite

Rede zur Eröffnung der Prager Kafka-Ausstellung

Mit der nachfolgenden, in tschechischer Sprache gehaltenen Rede eröffnete Max Brod am 23. Juni 1964 die Prager Gedenk-Ausstellung für Franz Kafka. Der Achtzigjährige war zu diesem Zweck eigens aus Tel Aviv in seine und Kafkas Geburtsstadt gekommen und hatte die Genugtuung, seine Rede — die es an Hinweisen auf die metaphysischen und religiösen Hintergründe des Kafka’schen Oeuvres nicht mangeln ließ — in der tschechischen Presse unverändert abgedruckt zu sehen. Das ist um so bemerkenswerter, als ja in Prag, anderseits und begreiflicherweise, auch die Tendenz besteht, das „Prager Visum für Kafka“ von der Erfüllung gewisser Bedingungen abhängig zu machen, genauer: von der Ausfüllung gewisser dogmatischer Formulare. Daß Max Brod, zur Deutung Kafkas berufener als irgend ein andrer, nichts dergleichen getan hat und damit gerade in Prag auf Respekt und Verständnis stieß, gibt seiner Rede zusätzliches Gewicht. Er hat sie nun selbst ins Deutsche übersetzt und dem FORVM zur Veröffentlichung übergeben.

„Reifwerden“ — so heißt eine wundervolle Symphonie meines großen Freundes Josef Suk. Und sollte man mich fragen, welchen Titel ich für die Biographie Franz Kafkas wählen würde, so fiele meine Wahl auf den gleichen Titel: „Reifwerden“.

Franz Kafka starb in jungen Jahren. Sein Lebenswerk blieb unvollendet. Er hat ein Leben gelebt, das von ständigem Suchen erfüllt war. Aber was war es recht eigentlich, was er gesucht hat? Meiner Meinung nach immer nur eines: er hat sein ganzes Leben lang die Reinheit der Seele gesucht, die unegoistische, absolute, bedingungslose Reinheit. Und Reinheit bedeutet Gerechtigkeit; soziale Gerechtigkeit dem Nächsten gegenüber, jedem Menschen gegenüber — und Gerechtigkeit auch gegenüber der metaphysischen Welt, wie dies im Buche Hiob ausgesprochen ist.

Als wahrer Sohn der Stadt Prag wurzelte Kafka stark im Prager Boden und seine dichterische Seele war vom Zauber der alten Stadt bestrickt. Und als wahrer Sohn Prags wurzelte er nicht nur in der tschechischen und deutschen Kultur, sondern ebenso in der uralten jüdischen. Er ist sich frühzeitig seines Judentums bewußt geworden und beschäftigte sich hingebungsvoll und begeistert mit der jüdischen Lehre. In ihrer Ethik, in der jüdischen Tradition fand er die Wege zu dem, was er suchte. Noch heute erinnere ich mich, wie er mir einmal — es war am Abend, an der Ecke des Altstädter Rings und der Langengasse — aus einer Talmud-Anthologie die Worte unseres Lehrers aus der Römerzeit, Schimon bar Jochai, vorlas: „Mir ist ein Wunder widerfahren, daher will ich eine für die Allgemeinheit nützliche Einrichtung treffen.“

Gerade diese Synthese war charakteristisch für Kafka: die Synthese des Realismus mit dem Wunder, mit der Phantasie, mit der reichen, spielerischen Schöpferkraft seines Geistes, der unablässig arbeitete und arbeitete — bis die tückische Krankheit ihn faßte und vernichtete. Ein tragischer Fall und zugleich, wenn man so sagen darf, ein ironischer. Denn heute ist diese Krankheit heilbar. Hätte Franz nur noch einige wenige Jahre ausgehalten, so könnten wir ihn noch heute unter uns sehen. Und was für eine freundliche Erscheinung wäre Kafka, unter uns lebend, auf der Höhe seines Schaffens, seiner nahezu übermenschlichen Fähigkeiten, seiner Weisheit, seiner glühenden Liebe ...

Ich habe eben von Ironie gesprochen. Ironie, Humor, Paradox — diese Essenzen gehörten in gleicher Weise zu seiner Kunst wie zu seiner einzigartigen Persönlichkeit. Er konnte ja auch fröhlich sein. Er liebte das Leben und dessen scherzhafte Seiten, liebte den Fortschritt und daher auch den Neuaufbau der alten Heimat Israel. Gestatten Sie mir bei dieser Gelegenheit eine kleine Bemerkung. Ich freue mich sehr, daß Kafkas Werk heute in seiner Geburtsstadt anerkannt und geschätzt wird. Aber ich freue mich nicht darüber, daß manche Interpretationen — hier und in anderen Ländern, ich denke da zum Beispiel an den lächerlichen Versuch des amerikanischen Professors Weinberg aus Kafka einen Dekadenten machen wollen, einen Verzweifelten, einen Schwächling, der dem Leben ausweicht, so etwas wie ein interessantes Gespenst oder einen negativen Romantiker etwa im Stil von Edgar Allan Poe. Franz, der mehr als zwanzig Jahre lang mein bester Freund war, mit dem ich fast täglich zusammenkam und nicht selten auch zweimal am Tag — dieser Franz Kafka war ein lebensvoller, ein höchst aktiver und „positiver“ Mensch. Er interessierte sich für alles mögliche, für Sport und Theater und Kino, für Tiere und für den Zirkus, für das künstlerische Leben Prags und für das Leben des Volkes. In seinem Fühlen war er vollkommen einfach, wiewohl sein Intellekt die kompliziertesten Wege ging, manchmal auch labyrinthische und rätselhafte Wege. Mein guter, unvergeßlicher Freund Georg Mordechai Langer, Autor des bedeutenden religionsphilosophischen Werkes „Neun Tore“, hat Kafka und mich in der hebräischen Sprache unterrichtet und in der chassidischen Lehre. Von dieser Lehre führt eine direkte Linie zu jenem ewigen Suchen nach Gerechtigkeit, das wir ebenso bei Kafka finden wie in dem großartigen Theaterstück „Peripherie“ von František Langer, dem Bruder Georgs.

Die Welt Franz Kafkas ist weit. Wir stehen erst am Anfang ihrer Erkenntnis. Kafka war ein Prophet. Seine zarte Seele hat den Terror der Nazi-Bestien vorausgefühlt und der Schatten dieser unglückseligen Zukunft, die er selbst nicht mehr erleben mußte, liegt über der Melancholie seiner Romane „Der Prozeß“ und „Das Schloß“. Dennoch bewahrte er einen unzerstörbaren Glauben an den allmenschlichen Frieden und an den Fortschritt des Menschengeschlechts. Will man sein edles Bild nicht verzeichnen, dann muß man ihn als einen exemplarischen Menschen sehen, als einen jener Großen, die nur selten unter uns auftreten. Und dazu paßt es auch, daß Kafka so arm und demütig war. Nichts könnte seine Demut besser beweisen als ein Ausspruch des weisen Rabbi Tarfon aus dem Buch „Pirke awot“, das heißt „Sprüche der Väter“, den Kafka oft und oft zitiert hat: „Es ist nicht an dir, das Werk zu vollenden — dennoch darfst du nicht untätig abseits stehen.“

So war es und das kann ich beschwören. Wenn es um etwas Großes und Gutes ging — nie stand Franz Kafka abseits. Er war eine anima candida, eine reine Seele.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1964
, Seite 495
Autor/inn/en:

Max Brod:

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Begriffsinventar

Personen