FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1963 » No. 114
Claus Gatterer

Jugoslawien ohne Jugoslawen

Zweiter Teil des Reiseberichts

Jedes Jahr im Herbst, wenn sich die Hotels an der Adria und in den Bergen leeren, wenn die Volksbanken darangehen, die von den Ausländern ins Land gebrachten Devisen zu bilanzieren, setzt in Jugoslawien eine in Europa wohl einmalige Völkerwanderung ein. Die Jugend lernt die Heimat kennen. Eine Schule aus Mazedonien wird in das slowenische Postonja versetzt, Montenegriner nach Bled, Schüler aus dem innersten Bosnien beginnen das neue Arbeitsjahr in kroatisch-dalmatinischer Umgebung, Slowenen und Kroaten wiederum werden in die südlichen Landesteile verschickt. So steht für viele Schüler am Anfang jedes Schuljahrs eine etwa zwei Wochen dauernde halbferiale Übergangsperiode, von der die Staatsführung hofft, sie werde die Mühe und den Aufwand lohnen. Es ist großzügige, angewandte Staatsbürgerkunde.

Der jugoslawische Kommunismus — die KPJ war schon 1920, nach dem rapiden Niedergang der Sozialdemokratie, drittstärkste Partei in der Skupstina — stand von Anfang an in Opposition zum groß-serbischen Unitarismus. Das Ziel der Kommunisten war die Schaffung einer Föderation jugoslawischer Sowjetrepubliken, als Teil einer gesamtbalkanischen Föderation von Sowjetrepubliken. Durch bundesstaatlichen Aufbau einerseits und Eliminierung der „Konflikte der nationalistischen Bourgeoisien“ (Djilas) [1] anderseits wollte man das Nationalitätenproblem lösen, das sich in der Zwischenkriegszeit explosiv verschärft hatte. Vor zwanzig Jahren, im November 1943, gab der „Antifaschistische Rat der Volksbefreiung“ (AVNOJ) in dem vorübergehend befreiten bosnischen Jaice dem Land jene föderative Struktur, die nach 1945 realisiert wurde. Auch die neue Verfassung hat daran nichts Wesentliches geändert.

„Kaiser Franz Joseph Tito“

Jugoslawien hat wohl die „Konflikte der nationalistischen Bourgeoisien“ durch Ausschaltung der Bourgeoisie eliminiert. Das Nationalitätenproblem besteht aber weiter. Es hat sich in jüngster Zeit, im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Rezession und den in Titos „Bergpredigt“ [2] verkündeten „Neuen Maßnahmen“ sogar verschärft.

Man muß zugeben, daß kein Land Europas vor der Aufgabe steht, drei „Staatsvölkern“, drei Konfessionen und einem halben Dutzend Minderheiten ein Zusammenleben in Gleichberechtigung und Harmonie zu bieten. Es ist eine Aufgabe, die unlösbar scheint. Nirgends sind klare Trennungslinien. Es leben Slowenen in Kroatien, Kroaten in Bosnien und Serbien, Serben, Montenegriner und Albaner überall, und wenn diese nationale „Verschachtelung“, dieses Ineinandergreifen der diversen Völkerschaften auch dazu beiträgt, daß die Gegensätze sich abschleifen, so wirken anderseits die alten nationalistischen Vorurteile hartnäckig weiter. Jeden geschichtsbewußten Jugoslawen erinnert das alles an Österreich-Ungarn; bei vielen erweckt die Parallele Unbehagen, bei anderen Zuversicht. Ein herzegowinischer Tierarzt, der seine Studien noch im kaiserlichen Wien absolviert hat, meinte durchaus optimistisch, „Kaiser Franz Joseph Tito“ habe zu Jugoslawiens Glück gelernt, daß nicht Persönlichkeiten oder abstrakte Verfassungen einen Vielvölkerstaat zusammenhalten können, sondern nur der gerechte Ausgleich.

Nach der Volkszählung 1961 gibt es in Jugoslawien 7,1 Millionen Serben, 4 Millionen Kroaten, 1,5 Millionen Slowenen, 1 Million „Jugoslawen“, 0,9 Millionen Mazedonier, 0,8 Millionen Albaner, je 0,5 Millionen Montenegriner und Ungarn sowie 0,3 Millionen Türken. Dazu Zigeuner (100.000), Slowaken (100.000), Bulgaren (60.000), Volksdeutsche (60.000), Ukrainer und Weißrussen (50.000), Italiener (40.000), Wallachen (40.000), Tschechen (30.000) und Russen (10.000).

Für die einzelnen Republiken werden folgende Einwohnerzahlen angegeben: Serbien 4,1 Millionen; Kroatien 3,8 Millionen; Bosnien-Herzegowina 2,6 Millionen; Slowenien 1,4 Millionen; Mazedonien 1,2 Millionen; Montenegro 0,4 Millionen. Die autonome Wojwodina mit einer starken ungarischen Minorität hat 1,7 Millionen Einwohner, das überwiegend skipetarisch (albanisch) besiedelte autonome Gebiet Kossovo-Metohija 0,7 Millionen.

Die Ziffern zeigen, daß sich Republik- und Nationalitätengrenzen nirgends decken.

Zwang zum Föderalismus

Das interessanteste Detail in obiger Aufschlüsselung besteht darin, daß sich eine Million Staatsbürger schlicht als „Jugoslawen“ bekennen. Die neue Verfassung enthält obendrein die Bestimmung, „daß jedem Bürger Jugoslawiens das Recht zusteht, sich über seine Volkszugehörigkeit nicht zu äußern“. [3] Wer von diesem Recht Gebrauch macht, wird — zum Unterschied von den Jugoslawen, die sich als Slowenen, Kroaten, Serben oder Türken bezeichnen — zu einem „Jugoslawen“ in Gänsefüßchen, der sich gleichwohl den Geboten des Föderalismus zu unterwerfen hat. Wenn etwa ein mohammedanischer Bosnier, der sich als „Jugoslawe“ fühlt und bekennt, in Slowenien lebt, muß er seine Kinder in die slowenische Schule schicken.

Hinter dem Jugoslawien-Bekenntnis steht nicht so sehr die Überwindung der Nationalität als die wirtschaftliche und soziale Emanzipation. In der Tat finden wir die meisten „Jugoslawen“ in Bosnien-Herzegowina, dort also, wo die mohammedanische Bevölkerung — die der österreichischen Okkupation wie dem jugoslawischen Zwischenkriegsstaat mit der gleichen apathischen Indifferenz gegenüberstand — am zahlreichsten ist, wo aber auch die kroatisch-serbischen Gegensätze im Zweiten Weltkrieg mit dem mörderischen Fanatismus mittelalterlicher Glaubenskriege ausgetragen wurden. In Bosnien bedeutet das Jugoslawien-Bekenntnis ebenso wie in Mazedonien oder Montenegro die Befreiung vom Balkan, den Anschluß an Mitteleuropa, den Aufstieg auf das kulturelle, soziale und wirtschaftliche Niveau der mit reicherer Mitgift ausgestatteten Republiken Slowenien und Kroatien, es bedeutet Schuhe und WC, elektrisches Licht und Wasserleitung, Schulen und Verdienstmöglichkeiten.

In seiner Unterredung mit dem Vorstand der „Journalistengewerkschaft“ meinte Tito, [4] „daß es absurd ist, jemanden zu zwingen, Angehöriger einer Nationalität, Serbe, Kroate, Slowene zu sein, wie es absurd ist und dumm wäre, von einzelnen zu verlangen, sie sollten darauf verzichten“. Tito hat die Gefahren des Entwicklungsgefälles zwischen „mitteleuropäischen“ und „balkanischen“ Republiken erkannt. Er weiß, daß bei den Wohlhabenden das Gefühl besteht, sie würden von den Unterentwickelten um die Früchte ihrer Arbeit gebracht, und bei den Unterentwickelten das Gefühl, sie würden von den Wohlhabenden ausgebeutet. Die einen wie die andern sind, um ihre Thesen zu belegen, mit Beispielen rasch zur Hand — etwa mit dem Bankrott jener von einem Lehrer gegründeten Schuhfabrik in Mazedonien, die Luxusschuhe für den Export produzierte und dann zusammenbrach. Warum, forschte ein slowenischer Freund, haben sie Luxusschuhe fabriziert und nicht das simple Schuhwerk, das in Mazedonien noch immer Mangelware ist? Warum sind der Lehrer und sein Mitarbeiterstab im Handumdrehen Millionäre geworden, die Arbeiter und Angestellten drei Monate lang ohne Gehalt geblieben? Und wer, „wenn nicht wir“, wird die Mittel aufbringen, um der mazedonischen Gemeinde nun zu einem neuen Betrieb zu verhelfen?

Tito als Schiedsrichter

Er sei der Ansicht, sagte Tito, [5] „daß die auf dem Boden Sloweniens, Kroatiens und teilweise auch Serbiens geschaffenen Mittel in den unterentwickelten Republiken und Gegenden ... nicht immer dafür verwendet wurden, wofür sie bestimmt waren. Man hätte z.B. nicht zulassen dürfen, daß dort monumentale Gebäude errichtet wurden, die im Augenblick nicht notwendig waren, sondern man hätte darauf hinarbeiten sollen, daß die Industrie und alles andere, was ausgebaut werden muß, auch tatsächlich ausgebaut wird.“

Die Parteiführung redet offen über solche Schwierigkeiten und gibt sich dabei durchaus undoktrinär. Das trägt wesentlich dazu bei, die Situation zu entschärfen. Die dem Patienten kundgemachte Diagnose wird zum wesentlichen Bestandteil der Therapie. Und die Popularität Titos beruht zu keinem geringen Teil darauf, daß man fühlt, er sei eine über den Nationalitäten stehende Schiedsinstanz. Wenn man Kroaten, kommunistische wie andersgesinnte, klagen hört, sie hätten nichts davon, daß Tito Kroate sei, so klingt das geradezu als Bestätigung dieser seiner Stellung.

Von einem Angehörigen der ungarischen Minderheit erfuhr ich, daß in der Wojwodina das nationale Problem durch die wirtschaftliche Rezession aktualisiert worden sei. Man gebe der Minderheit Schulen, Zeitungen, Kulturstätten, eigene Beamte, die Möglichkeit, sich vor Gericht uneingeschränkt der Muttersprache zu bedienen, aber wenn nun ein Betrieb gezwungen sei, Arbeitskräfte abzubauen, dann seien es ungarische und nicht serbische.

In Istrien findet man kaum doppelsprachige Aufschriften, aber man kann bald feststellen, daß der italienischen Minderheit in ihrem Siedlungsraum durchaus jenes Mehr an Rechten gegeben wird, das sie braucht, um gleichberechtigt bestehen zu können. Für viele der rund 40.000 in Istrien verbliebenen Italiener hat das Aufgehen im kommunistischen Staat ein soziales Avancement gebracht. Die große Fluchtwelle der Jahre 1943 bis 1946 hat vor allem den Mittelstand betroffen. Kaufleute, Handwerker und Beamte sind nach Italien ausgewandert und haben ihre Läden, Werkstätten und Büros leer zurückgelassen (das bäuerliche Hinterland war hier, wie im Raum Triest—Görz, stets slowenisch). Zurückgeblieben sind die Arbeiter, von denen viele in jugoslawisch geführten Partisanenbrigaden gekämpft hatten. In die freigewordenen Läden und Werkstätten sind nicht, wie man erwarten sollte, Slowenen eingezogen, sondern zumeist Italiener, die sich aus Arbeitern in Kaufleute und Handwerker verwandelt haben, und deren ökonomische Dynamik viele Slowenen nicht ohne Unbehagen beobachten.

Kommunistische Kirchturmpolitik

Gegner des Regimes geben ohne weiteres zu, daß die Minoritäten heute mit Rechten ausgestattet sind, von denen sie im alten Jugoslawien nicht einmal zu träumen wagten, doch fügen sie meist hinzu: „Was wollen Sie? Der Staat kann sich diese scheinbare Zersplitterung leisten, denn die Partei hält alles in ihrem eisernen Griff.“ Dieser Einwand hat eine gewisse Berechtigung. Doch haben gerade die jüngsten Diskussionen in Jugoslawien bewiesen, daß auch im „Bund Jugoslawischer Kommunisten“ Raum für nationales Profil sein kann, solange nicht am System gerüttelt wird.

Die „Konflikte der nationalistischen Bourgeoisien“ sind durch Konflikte der kommunistischen Bourgeoisien abgelöst worden. Laut Djilas ist für Kommunisten „die Betonung des Nationalismus nur eine Form wie jede andere, um die Parteienmacht zu stärken ... Die kommunistischen Bürokraten sind wilde Lokalpatrioten zugunsten ihrer eigenen Verwaltungsgebiete, auch wenn diese weder sprachliche noch nationale Einheiten bilden.“ [6] Hätte Djilas mit dieser überspitzten Analyse recht, dann müßte sich der ganze Nationalitätenkonflikt auf einen partei-internen Machtkampf reduzieren — er wäre dann in der Tat nur ein Scheinkonflikt. In seiner Rede auf dem Jugendkongreß” [7] wandte sich Tito gegen „jene wenigen Leute, darunter auch Kommunisten, denen es schwerfällt, das Wort ‚jugoslawisch‘ auszusprechen, als fürchteten sie, ihre nationalen und anderen Rechte könnten dadurch geschmälert werden“. Zugleich warnte er vor „hegemonistischen Bestrebungen bei einer Bevölkerung von geringer Zahl, die aber einen höheren Grad wirtschaftlicher Entwicklung erreicht hat ... Diese Art von Hegemonismus behindert die erfolgreiche Entwicklung der sozialistischen Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit.“ Ohne Zweifel war dies eine Warnung an die Adresse der Slowenen. Als schlicht „antikommunistisch“ und „bourgeois“ tat Tito „die absurden Ideen jener ab, die meinen, jede Nationalität und jede Republik in der sozialistischen Gemeinschaft müsse alle Attribute eines Staates haben ... Es gibt sogar einige nationalistische Elemente, die sagen, jede nationale Republik sollte ihre eigene Armee, ihre Währung und ihre Außenpolitik haben.“

Keine neue Nation

Wer die überaus lebhafte, erfreulich kontroversielle und auf beachtlichem Niveau stehende Diskussion über die neue Verfassung verfolgt hat, weiß, daß Tito da nicht gegen Windmühlen anreitet und daß es derlei Nationalisten auch unter den Kommunisten gibt. Ein junger Laibacher Intellektueller hat in dieser Diskussion für die einzelnen Teilstaaten das Sezessionsrecht verlangt; wenn der Staat, wie der Marxismus lehre, zum Absterben verurteilt sei, habe es keinen Sinn, ihn zunächst einmal in Eisenbeton aufzubauen. Als der Serbe Prof. Culinovic schrieb, „Jugoslawentum sei nicht einfach Ausdruck für die Zugehörigkeit zum gleichen Staat“, es entspringe vielmehr „der ethnischen Gemeinschaft aller jugoslawischen Völker“, mußte er sich von Marija Vilfan im ideologischen Organ der slowenischen KP sagen lassen, er kenne das Programm der jugoslawischen Kommunisten nicht; hier sei „nicht die Rede vom Schaffen irgendeiner neuen ‚jugoslawischen Nation‘ anstelle der bestehenden Nationen, sondern vom organischen Wachsen und Erstarken der sozialistischen Gemeinschaft ...“ [8]

Was „oben“ bei den internationalistisch geschulten Kommunisten solches Echo erzeugt, ist „unten“ kleinlicher Hader, wie man ihn nicht nur in multinationalen, sondern auch in national einheitlichen Staaten unter Bewohnern verschiedener Gebiete findet. Als mich in Mostar ein Betrunkener um etwas Geld anbettelte („Kopfweh, verstehst mi guat!“, sagte er in bestem k.u.k.-Österreichisch), sprach mich gleich darauf ein mohammedanischer Herzegowze an, um mir mitzuteilen, der Bettler sei ein Dalmatiner. An der dalmatinischen Küste torkelte ein Mann direkt aus einem Haustor vor mein Auto; mein Reisebegleiter, ein kroatischer Kommunist, erklärte sofort: „Bosnische Mann — bosnische Kultur.“ In Dubrovnik sah ich der Befreiungsfeier zu, einer eher eilfertigen Zeremonie mit Kranzniederlegung und Nationalhymne, ohne Reden und Pathos; ein Passant, mit dem ich mich in ein Gespräch einließ, meinte: „Die Befreiung war eine gute Sache. Wenn sie nur nicht durch Montenegriner erfolgt wäre.“

Als ich zur Autofahrt durch Bosnien rüstete, wurde ich von Serben vor den Gefahren des Straßenverkehrs gewarnt: „Jeder Bosniak fährt, als säße er in einem Panzerwagen. Und wenn er sich einbildet, er muß überholen, dann überholt er, auch wenn er in den Tod fährt.“ Zur Illustration erzählte man mir den folgenden Fall, der sich in Belgrad zugetragen haben soll: Ein bosnischer Kondukteur fuhr mit der ihm anvertrauten Straßenbahn auf einer geraden, übersichtlichen Straße in einen Kleinwagen, der, auf die Möglichkeit zum Links-Abbiegen wartend, auf den Gleisen stand; vor Gericht erklärte der Kondukteur: „Ich konnte doch mit meiner großen Straßenbahn nicht wegen eines so kleinen Autos stehenbleiben.“ Nach mehreren tausend Kilometern Erfahrung auf jugoslawischen Straßen muß ich jedoch feststellen, daß dieses motorisierte Ehrgefühl offenbar Allgemeingut aller jugoslawischen Nationalisten ist.

Österreichern oder Deutschen kann es passieren, daß sie in dem ihre Autos bedeckenden blonden Staub die Aufschrift „SVAB“ finden, ein altes Schimpfwort für die Volksdeutschen. In Gebieten, wo man mit neidvoll-bewunderndem Klassenhaß zu den Slowenen aufblickt, werden auch aus Laibach oder Cilli stammende Autos mit dem bösen „SVAB“ verziert. Und wenn Serben die Slowenen ärgern wollen, geben sie vor, sie seien nicht imstande, deren „Stairisch“ zu verstehen.

Korrekt, aber ein Serbe

Den gewiß seltsamsten Unterricht zum Thema Nationalitätenfrage erhielt ich von einem kroatischen Pfarrer in einem dalmatinischen Dorf. Der frühere Bürgermeister der Gemeinde, Kroate und Kommunist, war verhaftet und zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt worden, weil er Staatsgelder veruntreut hatte. Nicht ohne eine gewisse Genugtuung zeigte mir der Pfarrer die Villa, die sich der korrupte Bürgermeister mit dem veruntreuten Geld gebaut hatte (sie wird nun an Touristen vermietet); dann aber bedauerte er, daß die Gemeinde diesen Bürgermeister verloren hatte. Warum? Gewiß, der neue war korrekt und obendrein parteilos — aber leider ein Serbe.

Dennoch gilt der Befreiungskrieg den meisten Jugoslawen als das große nationale Ereignis, als die erste gemeinschaftliche historische Tat aller jugoslawischen Völker. Die Erinnerung daran ist, obwohl sie im Schulunterricht, in der Literatur, in Ausstellungen unentwegt wachgehalten wird, im Lauf der Jahre allerdings erstarrt und verblaßt. In Jugoslawien vollziehen sich derzeit drei parallel verlaufende Prozesse: das Zusammenwachsen der Nationalitäten; jene wirtschaftliche Integration, welche die unterentwickelten Gebiete auf mitteleuropäischen Standard nachziehen soll; und die Entwicklung zum „Sozialismus“. Jeder dieser Prozesse löst Impulse aus, die den andern stören. Die dabei zutage tretende Unsicherheit oben oder Unrast unten als Zerfallserscheinung zu deuten, wäre kurzsichtig und falsch. Titos Staat ist heute so stabil, daß er den Partikularismus nicht zu fürchten braucht. Und die Nationalismen lassen sich, richtig gelenkt, als Lokomotiven der Entwicklung verwenden.

[1Milovan Dijilas, „Die neue Klasse“, Kindler, München.

[2Als „Bergpredigt“ wird Titos Rede vom 5. Mai 1962 (Eröffnung des Kraftwerks bei Split) bezeichnet.

[3Edvard Kardelj, „Exposé über die Verfassung der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien“, in: „Über das Verfassungssystem der SFRJ“, Internationale Politik, Belgrad 1963.

[4Internationale Politik, Heft 309, Februar 1963, Belgrad.

[5Internationale Politik, Heft 309, Februar 1963, Belgrad.

[6Milovan Dijilas, „Die neue Klasse“.

[7„Speech of President Josip Broz Tito, Yugoslav Youth Congress“, Belgrad 1963.

[8Zitiert nach P. Jakovlevic, „Illusion der Einheit“, in: „Die politische Meinung“, 81/8. Jahrgang, Bonn.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
1963
, Seite 279
Autor/inn/en:

Claus Gatterer:

Leiter des außenpolitischen Ressorts der „Presse“, ehemals Mitherausgeber und seit langem ständiger Mitarbeiter des FORVM.

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