FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 204/I/II
Heinz Kuby

Ist die EWG demokratisierbar?

III. Teil einer Analyse

4.

Am Übergang zur „definitiven“ Phase der EWG ist eigentlich nur eines definitiv: das Defizit an Politik. Die gemeinschaftlichen „Sachzwänge“ haben zugenommen, auch die Bereitschaft, ihnen zu entsprechen, aber die dazu benötigte politische Macht ist nicht mitgewachsen.

4.1.

Wie wahrscheinlich ist eine Politische Union? Was braucht es dazu an Politikinvestition?

Die Integrationspolitik ging von Anfang an über wirtschaftliche Absichten hinaus. Ihr politisches Motiv war staatliche Veränderung, um zusätzlichen Entscheidungsbedarf zu decken. Das war das Motiv der Montanunion und anfangs sogar noch der EWG.

Dieser Ansatz ist gescheitert — und wir stellen das ohne Bedauern fest. Die treibenden Kräfte waren damals eine Kombination von Schwerindustrie und Militärs, und das ganze Unternehmen stand, vielleicht unvermeidlich, unter dem Doppelstern amerikanische Vormundschaft und kalter Krieg. Die Spekulation war: die wichtigsten Machtkomplexe aus der nationalen Verfügungsgewalt herauszulösen und einer Gemeinschaftsinstitution zu unterstellen, die dadurch zu einem neuen Machtzentrum würde. Der Rest würde gleichsam mit physikalischer Notwendigkeit in das neue Kraftfeld einbezogen, und so würden die staatlichen Strukturen zweckmäßig umgewandelt.

Im Rückblick fällt es leichter, die politischen und gesellschaftlichen Folgen dieses Integrationsansatzes abzuschätzen, sie wären nicht glücklich gewesen. Denn die Gründer übersahen oder sahen kein Problem darin, daß der Machtvorsprung des Kombinats Militär-Schwerindustrie unweigerlich den Charakter der Gemeinschaft bestimmt hätte.

4.2.

Nach dem Scheitern des Projekts der Verteidigungsunion, mit deren Hilfe man dann die Politische Union unschwer hätte erzwingen können, verlor sich der Wille zur staatlichen Veränderung.

Von „links“ gab es fast überhaupt keine Impulse, weil man die Chancen einer transnationalen Politik nicht wahrzunehmen vermochte. Man blieb defensiv, paßte sich aber im nachhinein Schritt um Schritt an.

Das Ergebnis des Politikverzichts war die EWG. Der neue Ansatz beruhte darauf, Machtfragen nicht zu stellen, sondern stets nur Sachfragen. Das ist das Geheimnis der funktionalistischen Methode. Sie war nicht erfolglos, insbesondere in der Unternehmerschaft und ihren politischen Vertretern, insofern das Bedürfnis da war und da ist, von staatlichen Grenzen unbehindert sich auszubreiten und auf den anderen Märkten gleiche Handlungsbedingungen zu erhalten wie die einheimische Konkurrenz. Das ließ die vielbemühten Sachzwänge zur politischen Kraft werden.

Die Spekulation auf staatliche Veränderung wurde dabei nicht aufgegeben, und das ist es, was vermutlich die Tatsache erklärt, daß viele sich für ein neues Europa engagieren konnten, obwohl sie subjektiv gewiß nicht Handlanger partikularer Profitinteressen waren oder obwohl sie sogar konträre Absichten verfolgten.

Aber dieses Konzept wird man vulgär-marxistisch und bürokratisch nennen müssen: Man erwartete sich vom Entstehen eines gemeinsamen Marktes für Waren und Dienstleistungen das Entstehen einer neuen politischen Struktur. Die Politik reagierte tatsächlich, aber man täuschte sich darüber, wie sie reagierte.

4.3.

Der zweite Integrationsansatz ist unvermeidlich an der Realität der Staaten aufgelaufen und ist an ihnen — der „einzigen politischen Realität“ nach dem Wort de Gaulles — gescheitert. De Gaulle exekutierte sein Integrationsverdikt, und seit 1965 etwa ist die europäische Politik von dem Bemühen bestimmt, diese Lektion zu lernen. Er stellte die Machtfrage, und ihr konnten auch seine Gegner nicht ausweichen. Heute beherrscht die „gaullistische“ Einschätzung der Gemeinschaft die Szene, nicht nur, nicht einmal in erster Linie von Frankreich her.

De Gaulle hatte begriffen: die Gemeinschaft ist ein schwerer Ballast für eine aktive nationale Politik, weil sie die nationale Handlungsfreiheit einengt; und zugleich eine ungeheure Chance für den, der diesen schwerfälligen Körper würde politisch erfassen und bewegen können. Seine Antwort auf diesen Widerspruch war der schwer nachzuweisende Versuch, auf gaullistisch-französische Weise die Quadratur des Zirkels zu erzwingen. De Gaulle wollte den Politikbedarf der Gemeinschaft — an politischer Konzeption, an Willen und Durchsetzungsfähigkeit — aus dem Überschuß an französischen weltpolitischen Ambitionen decken.

4.4.

Gescheitert ist inzwischen, mit de Gaulle selbst, auch sein Aus- und Abweg, obwohl er nach wie vor als einzig gangbarer gepriesen und begangen wird; und so den jüngsten Plänen für eine Politische Union im Minilook Modell gestanden hat. Aber das Gebilde ist so abgemagert, daß selbst de Gaulle die Patenschaft dafür verweigern würde. Im Vergleich müssen seine Vorschläge von Anfang der sechziger Jahre heute als Traumtänzerei eines europäischen Extremisten erscheinen. Die Pläne der sechs Außenminister von Viterbo spiegeln nichts mehr wider als den Willen, selber freie Hand in der Außenpolitik zu behalten und der Haltung der Partner dabei soweit möglich sich zu versichern. Sie wollen ein Hilfsinstrument für die nationale Außenpolitik schaffen, das auch nicht einmal den Ansatz für eine gemeinsame Politik bietet.

5.

Die Schaffung einer Gemeinschaft durch Politikverzicht ist an der politischen Realität, den Staaten, gescheitert. Im Umkehrverfahren ist de Gaulles Bemühen, die Staaten wieder zu den „einzigen politischen Realitäten“ zu machen, ebenso gescheitert. Die Winkelzüge seiner vielfältigen Nachahmer scheitern an der Realität der Gemeinschaft, das heißt an der Notwendigkeit, gemeinsame Entscheidungen zu treffen, die teils auf gemeinsame, teils auf nichtgemeinsame Interessen antworten sollen.

Die Widersprüche der EWG beschränken sich aber nicht auf die außenpolitische Kooperation. Sie sind als Antagonismen der Gemeinschaft auf allen Handlungsfeldern gleichsam eingebaut.

5.1.

Der erste, grundlegende Widerspruch der EWG besteht zwischen der Organisation der produktiven Kräfte und der politischen Struktur. Die produktiven Kräfte Westeuropas könnten in Raum und Qualität entfaltet werden, aber die durch die Staaten bestimmte politische Struktur behindert dies. „Sachzwänge“ hier, dort das Selbstbeharrungsstreben der Politikmonopole, der Staaten also und der politischen Organisationen. Hier das Bedürfnis, die politische Struktur an die Erfordernisse der Produktivkräfte anzupassen: „Wirtschaftsunion“ also, das heißt Überwindung der nationalen „Souveränität“ — dort das ebenso zwingende Bedürfnis, Macht zu suchen und zu verteidigen, wo die Machtkonkurrenz im Gang ist: in den bestehenden Staaten.

5.2.

Der zweite Widerspruch eröffnet sich zwischen den produktiven Kräften und der sozialen Organisationsform dieser produktiven Kräfte. Die größeren Produktivkräfte erlauben den einzelnen und Gruppen ein höheres Maß an Selbstverwirklichung und Befreiung. Das wird aber durch die Organisation des ökonomischen Alltags verhindert. Immer mehr Macht wird produziert, aber über den Gebrauch dieser Macht wird nicht von den Urhebern — dem „Volk“ — bestimmt. Mehr Macht im ganzen durch die zunehmende Produktion wie durch die Integration — aber im Widerspruch dazu zunehmende Ohnmacht der einzelnen Menschen — womit die Grundlage der Demokratie unterhöhlt wird.

5.3.

Der dritte Widerspruch ist der zwischen Anspruch nach demokratischer Legitimation aller Macht, die sich nur in den bestehenden Staaten vollzieht, und realer Verhinderung demokratischer Selbstbestimmung, die mit der Organisation der Produktivkräfte übereinstimmt, das heißt in der Gemeinschaft. Die politischen Regime unserer Länder bedürfen zu ihrer Erhaltung der Legitimierung durch jene, von denen verfassungsgemäß „die Gewalt ausgeht“: dem „Volk“. Im Widerspruch dazu verweigern politisch mächtige Gruppen heute die dafür nötige Reformation der Machtorganisation, das heißt die Integration der Staatenmacht in die Gemeinschaft, weil dabei das Risiko ihnen zu groß erscheint, daß jetzt bevorrechtete Machtgruppen eine Machteinbuße erleiden.

5.4.

Diese unaufgelösten Widersprüche bestimmen die Szene in Westeuropa. Es führt keiner der bisher eröffneten Wege aus dem Teufelszirkel der Machtproduktion und Reproduktion in den bestehenden Staaten heraus. Macht wird weiterhin gewonnen und bewahrt in den Staaten, nirgends sonst. Aber die sich um die Macht bewerben, werden zunehmend zum Einbekenntnis ihrer Inkompetenz gezwungen: weil sie von ihren Lenkungszentren her den sozio-ökonomischen Prozeß immer weniger autonom „steuern“ können. Jener neue Handlungsrahmen für wirtschaftliche und soziale Entwicklung, die Gemeinschaft, ist aber zugleich für die Akteure nicht mehr rückgängig zu machen: sie aufzugeben, würde innenpolitisch wie wirtschaftspolitisch zu teuer kommen.

Die Art, wie sich Regierungen und Parteien auf diese Situation einzurichten versuchen, ist die klassische: alle direkten Anforderungen und näherrückenden Probleme werden mit den vorhandenen Instrumenten geregelt, in allen Stockwerken der Regierungskomplexe. Und in den Dachstübchen wird die langfristige, die „wirkliche“ Gemeinschaftslösung vorbereitet.

Die politische Aktion folgt keiner Strategie, sondern ist „Realpolitik“: flexible Anpassung an die jeweiligen Erfordernisse. Man richtet sich ein auf ein permanentes Krisenmanagement, in dem nur eines bei allen sechs gleich und gleichbleibend ist: die Maxime, die politische Macht, über die man verfügt, jedenfalls nicht gefährden oder beeinträchtigen zu lassen, sie dort zu halten, wo sie ist: bei den politischen Apparaten, die jetzt über sie verfügen.

Da das für alle sechs (morgen vielleicht zehn) gilt, ist unschwer vorauszusehen, wie die Suppe schmecken wird, in der sie — jeder nach eigenem Rezept und auf den eigenen Geschmack hin — rühren. (Die gemeinsame Landwirtschaftspolitik bietet auch hier die erste Kostprobe.) Gewiß ist nur, daß die, die sie auszulöffeln haben werden, nicht darum befragt werden.

6.

Oder verspricht, was in den Dachstuben vorbereitet wird, eine Alternative? Bietet, was von den Demokratisierungsbestrebungen bisher sichtbar wurde, eine reelle Chance, die Machtverhältnisse in den sechs (oder zehn) Ländern zu verändern oder auch nur die Auszehrung der bestehenden demokratischen Institutionen aufzuhalten? Versprechen sie jene Macht der Gemeinschaft zuzuschießen, die zum Aufbau der Wirtschaftsunion nötig ist? Vor allem: Woher soll die Macht kommen, die jene Demokratisierung ermöglicht?

Das meiste von dem, was in jüngster Zeit als neuer Ansatz gefeiert oder als Forderung offiziell verfochten wurde, sind nur aufgewärmte Vertragsartikel, die die Regierungen einvernehmlich bisher beiseite geschoben haben: Stärkung des Europäischen Parlaments, seine Direktwahl, Stärkung der Kommission, vertragsgemäße Anwendung der Mehrheitsregel im Ministerrat. Und das, was davon möglicherweise durchgesetzt werden kann, ist zum Teil von sehr zweifelhaftem Wert, zum Teil sogar verschärft es noch die antidemokratische Tendenz.

6.1.

Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Ministerrat zum Beispiel erlauben den Regierungen einmal mehr, sich der innenpolitischen Widerstände gegen von ihnen gewünschte Gemeinschaftsentscheidungen und Kompromisse zu entledigen und sich der demokratischen Kontrolle ihrer Machtausübung zu entziehen: „Wir sind, oder wären, überstimmt worden.“

6.2.

Das Verhältnis zwischen Regierungsmacht und Europäischem Parlament nimmt immer Züge an, die dem Machtverhältnis zwischen den reichen Industrieländern und Entwicklungsländern gleichen: Man tut etwas für die Benachteiligten, um das eigene Gewissen zu beruhigen, beider Produktivität wächst — nur etwas ungleich: die Machtdifferenz verringert sich nicht, sie wird ständig größer.

Was dem Europäischen Parlament bisher an Kontroll- und Budgetrechten zugestanden wurde, betrifft Marginalwerte. Die Regierungen beschließen in einem Beratungsturnus über die landwirtschaftlichen Preise — Ausgaben, die ein Vielfaches von dem ausmachen, was das Parlament in monatelangen Verhandlungen wird am Verwaltungsbudget ändern können. Immerhin, so trösten sich viele, die Schildkröte ist schon gestartet, und da sie zäh ist, wird sie dem Regierungsrennpferd den Wettlauf sauer machen.

6.3.

Das Kraftfutter der Schildkröte sollen direkte Wahlen zum Europäischen Parlament sein. Sie sind eine Art Deus ex machina, wenn alle anderen Auswege sich als Sackgassen erweisen; das Wundermittel, das alle Widerstände gegen die Demokratisierung der Gemeinschaft überwinden soll. Was ist vernünftigerweise davon zu erwarten: für die Demokratie? Mehr als von nationalen Wahlen? Wie wird sich eine solche Wahl unter den gegebenen politischen Bedingungen auf das parlamentarische System in Westeuropa auswirken: zugunsten seiner Stärkung — oder drohen solche Wahlen nicht eher die Krise dieses Systems zu beschleunigen?

Gewiß ist: Ein direkt gewähltes Europäisches Parlament würde in Konkurrenz zu den nationalen Parlamenten treten müssen. Man kann entweder im Gemeinschaftsparlament über die Konjunkturpolitik beschließen oder in den nationalen Parlamenten. Kann Macht hier suchen oder dort. Das bringt den Politiker in einen Konflikt. Wo findet er seine Machtbasis: In seiner nationalen Partei oder in einer erst zu schaffenden Fraktion des Europäischen Parlaments? Sollte seine Wahl auf das Gemeinschaftsparlament fallen, wird er sich gegen mächtige Gruppen „zu Hause“ behaupten müssen. Aber die Machtkonkurrenz bleibt national, es mögen die Sachprobleme noch so sehr nach gemeinschaftlicher Entscheidung verlangen.

Vorauszusehen ist, daß nur solche Gruppen zu einer effektiven Fraktionsbildung im Europäischen Parlament fähig sein werden, die von vornherein auf die Änderung der politischen Verfassung der Gemeinschaft ausgehen und in allen Gemeinschaftsländern ein identisches Bedürfnis ansprechen.

Aber der Übergang zu einem funktionierenden Gemeinschaftsparlament wird unter den jetzt gegebenen Bedingungen der Machtkonkurrenz zweifellos von den nationalen Apparaten und Verfassungen bestimmt sein. Das wird das Verfahren prägen wie die Erfolgschancen begrenzen.

Aber nehmen wir an, ein direkt gewähltes Europäisches Parlament kann zusammentreten, man räumt ihm sogar ein rudimentäres Budgetrecht ein und verbessert die Konsultationsverfahren. Was würde damit an der realen politischen Verfassung Westeuropas geändert? Die Gemeinschaftsgesetze würden weiterhin von einem Organ beschlossen, das vom Parlament weder gewählt noch gestürzt werden kann, nämlich vom Ministerrat.

Und die Kommission, die dem Parlament Rechenschaft schuldet, wird ebensowenig vom Parlament gewählt. So daß das vorgesehene Mißtrauensvotum keine politische Bedeutung gewinnen kann. Das direkt gewählte Parlament hätte damit noch kein verantwortliches Gegenüber.

Man mag es drehen, wie man will: eine parlamentarische Demokratie ist nicht funktionsfähig ohne Regierung, eine Regierung, die aus dem Parlament hervorgeht, ihm verantwortlich ist und von ihm erneuert wird. Sonst gibt es keine europäische parlamentarische Demokratie.

7.

Bei diesem Stand der Analyse: Was ergibt sich daraus für die Perspektiven einer europäischen Politik?

Der antagonistische Widerspruch zwischen Organisation der Produktivkräfte und politischer Struktur macht es völlig unmöglich, eine gleichsam wertfreie Europapolitik anzustreben, jene vermeintlich neutrale, dem Streit der Interessen enthobene Europapolitik, die jedem vorteilhaft und niemandem schädlich wäre. Wir werden der Herausforderung der Integrationspolitik viel eher gewachsen sein, wenn wir die Wertneutralität als Illusion durchschaut haben und uns auf die nicht zu umgehenden Konflikte einstellen.

7.1.

Die erste Frage ist deshalb: Welches Europa wollen wir? Es gibt nur eine kleine Zahl von relevanten Alternativen. Das Europa, das wir ins Werk setzen, wird entweder fortfahren mit Nachahmung und Konkurrenz schlechter Vorbilder aus Vergangenheit und Gegenwart, das heißt die politischen Produktivkräfte unterdrücken, durch die Organisationsform des Alltags, vermittels der Zerstörung der Persönlichkeit, so daß wir zur Interaktion, zum freien Zusammenhandeln und zur Solidarität immer weniger fähig sind. Oder wir werden in Europa Zustände schaffen, in denen wir uns im Alltag, nicht bloß theoretisch und dem Anspruch nach, sondern in der konkreten Lebensgestaltung befreien können. Was ohne Konflikt zweifellos nicht möglich ist. In einer ehrwürdigen, wenn auch viel mißbrauchten Terminologie kann man sagen: Wir müssen wählen zwischen einer linken und einer rechten Politik für Europa.

Dies läuft hinaus auf — scheuen wir nicht vor dem Wort zurück — eine Utopie: die Utopie der Demokratie, wie sie ja unter historisch erledigten Voraussetzungen zur Grundnorm unserer demokratischen Grundgesetze geworden ist. Die Utopie eines Zustands, in dem die produktiven Kräfte eine Welt bilden, in der gut leben ist. Die Utopie eines Prozesses, in der viele Menschen die Fähigkeit entwickeln, die immer vorhandenen Konflikte offen auszusprechen und fair auszutragen, was Vielfalt und Reichtum aller menschlichen Beziehungen ermöglichen kann, nicht bloß nur der öffentlichen Beziehungen.

Damit ist einer der wundesten Punkte aller linken Strategien angerührt — Ursache ihrer folgenschwersten Schwäche. Während die Reformisten sich nur auf die übernommenen Staaten einlassen — eben auf jene unzulänglichen Staaten, unter denen wir leiden —, sind die Orthodoxen, die theoriebewußten Gruppen auf einen negativen Glauben eingeschworen: das Dogma vom Absterben des Staates.

An dieses Dogma glaube ich nicht. Weder stimmt es mit der Erfahrung überein, noch ist es das Ziel.

Überall wird der Einfluß staatlicher Interventionen größer statt kleiner. Zu oft haben wir erfahren müssen, daß jede Initiative zur Emanzipation eben nur politisch, staatlich — nicht aber sachlich oder gesellschaftlich — entschieden wird. Sie wird politisch durchgesetzt oder scheitert politisch. Nirgends, weder in West noch in Ost, ist der Rüstungsstaat in seinem Vormarsch aufgehalten worden: er prägt mehr als alles andere die Bedingungen für Politik. Östliche und westliche Gesellschaftstheorie stimmen darin überein: Es ist die noch zunehmende Intervention des Faktors „Staat“, die das privatkapitalistische Gesellschaftsregime vor Zerrüttung und Katastrophen bewahrt, die bestehende Gesellschaftsordnung stabilisiert hat. Nirgends sind emanzipatorische Innenpolitik, sachliche Wirtschaftspolitik, gesellschaftliche und individuelle Freiheit möglich, wenn die außenpolitischen Bedingungen dafür ungünstig sind. Am schärfsten hat das die sowjetische Invasion der ČSSR gezeigt.

Der Versuch eines Sozialismus in Freiheit und im Rechtsstaat ist offenbar nur möglich in Verbindung mit einer angemessenen Militär- und Sicherheitspolitik. Die Chancen für einen sich ernst und beim Wort nehmenden demokratischen Sozialismus im Westen sollten nicht vorschnell höher veranschlagt werden.

Der Prager Vorgang hat überdies neuerdings bestätigt, daß die in Ost und West herrschenden Reaktionäre miteinander kollaborieren, während die emanzipatorisch gesinnten Gruppen, hier wie dort, zur praktischen Solidarität nicht fähig sind — es fehlen ihnen die politischen Mittel dafür.

Das Mittel dafür ist ein zweckmäßiger Staat. Er wurde bisher für sie nicht zum Aktionsziel. Wir wissen wohl, daß fast alle Macht, soweit sie nicht als äußerste Zerstörungskraft bei den beiden Weltmächten liegt, noch immer in unseren Nationalstaaten vereinigt ist. Sie haben uns gegenüber ein Monopol. Auch wir selber müssen ja bei unseren Aktionen mit den Nationalstaaten rechnen: mit nationalen Parteien, nationalen Verbänden, nationalen Rechts- und Verwaltungsapparaten (samt ihren internationalen Anhängseln) und mit einer dementsprechend nationalisierten Öffentlichkeit. Mit dieser Realität müssen wir rechnen, können uns mit ihr aber nicht abfinden. Wenn alle legitime Gewalt vom Volk ausgeht, dann muß sich das Volk nicht nur die Gesellschaft erkämpfen, die es braucht, sondern auch den Staat, den es braucht.

8.

Welches sind die Ziele einer emanzipatorischen Politik in und für Europa? Welches ist das geeignete Operationsfeld? Und welche politische Struktur muß auf absehbare Frist geschaffen werden, wenn Befreiung in dem gedeuteten Sinn gelingen soll?

8.1.

Ich halte dafür, daß das geeignete Operationsfeld für die Europäer Europa ist — und nicht in erster Linie die bestehenden Staaten oder die Welt insgesamt. Der Grund liegt auf der Hand: Die Produktivkräfte lassen sich nicht mehr national entwickeln, und auch immer weniger im kleineren lokalen oder regionalen Bereich. Die Unternehmens- und Kapitalkonzentration ist ja nicht primär von den derzeitigen Machtverhältnissen verursacht oder von den vorherrschenden privaten Profitinteressen. Auch wenn das Eigentum an Produktionsmitteln nicht in privater Hand wäre, wenn diese oder jene Form industrieller Demokratie verwirklicht wäre, würden die wirtschaftlichen Einheiten wachsen und häufig transnational operieren müssen, ja dann erst recht. Nicht in erster Linie auf diesem Feld zu operieren wäre also ungerechtfertigte Selbstbeschränkung.

Noch ein zweiter Grund spricht für eine „linke“ Europapolitik. Er liegt in den Widersprüchen zwischen nationalen Politikmonopolen und dem Politikbedarf der transnationalen Produktion. In dieser Spannung sind die Staaten wandelbar, und die Politikmonopole sind in Frage zu stellen.

8.2.

Welche politische Struktur muß in Europa angestrebt werden, damit eine Strategie der Befreiung Chancen hat?

Kann man sich vorstellen, der antipolitische Charakter des Alltags könnte überwunden werden, ohne daß es zu neuen Formen politischer Organisation, zu einem neuen Staat, kommt?

Die Aufgabe, nichtrepressive Institutionen einzusetzen, wird nicht durch die Abschaffung jeglicher politischen Institution gelöst werden können.

Die derzeit schädliche Machtverteilung kann geändert werden, wenn die sie bisher garantierende nationalstaatliche Struktur durch eine EWG aufgehoben wird, die das Ergebnis einer emanzipatorischen Politik ist. Die Grundlage dafür ist gegeben: in den parallelen Interessen der auf Befreiung drängenden Gruppen und einzelnen in allen europäischen Ländern.

Was ändert die Machtverteilung in der EWG? Alles, was die politische Integration fördert und damit die Staatenstruktur in Frage stellt. Alles, was verhindert, daß die zwischenstaatlichen und die gesellschaftlichen Konflikte in der Gemeinschaft weiterhin durch Krisenmanagement domestiziert werden.

Die Kräfte, die die staatliche Verfassung Europas verändern wollen, werden so — willentlich oder auch gegen ihren Willen — zu Verbündeten jener Kräfte, deren Ziel die Änderung der gesellschaftlichen Verfassung ist. In dieser Ergänzung von staatlicher Kontestation und gesellschaftlicher Kontestation sehe ich eine historisch günstige Konstellation.

8.3.

Erst in diesem Kontext gewinnen die durch die Gemeinschaft entstehenden oder offengelegten Konflikte, gewinnen damit ihre Institutionen politische Relevanz. Denn in dem Augenblick, da die Gemeinschaftskonflikte nicht mehr umwegig-national gesteuert, sondern in autonomen Institutionen ausgetragen werden können — und hätten diese auch nur ein Minimum an Autonomie —, in diesem Augenblick wird Gegenmacht produziert. Zur Veränderung in Staat und Gesellschaft in Europa und damit zum Ende von Stagnation und Krise wird es nur kommen, wo Gegenmacht akkumuliert und so die nationale wie die soziale Machtreproduktion aufgesprengt wird.

Welcher Art Institutionen bedarf es dazu? Als Ausgangspunkt die, die es gibt: ein wirklich transnationales Parlament und eine aus seiner Mitte hervorgegangene Exekutive. Denn ein Parlament als solches ist noch kein Machtfaktor: es ist dies nur in dem Maße, als es Regierung bilden und kontrollieren kann.

8.4.

Die Voraussetzungen dafür sind erst noch zu schaffen: eine gemeinschaftsweite Öffentlichkeit, die die getrennten nationalen Meinungsmärkte auflöst, die nationalen Informationsmonopole bricht; damit eine europäische Meinungsbildung ermöglicht.

Das wird möglich, wenn wir die Ursache für die nationale Separierung der Meinungsmärkte beseitigen: jene der Diplomatie entlehnte Regel, sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen. Diese Regel ist mit erfolgreicher Gemeinschaftspolitik nicht zu vereinbaren. Das, was in den Gemeinschaftsländern geschieht, betrifft alle; eine permanente Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Partnerländer ist daher legitim. Sie erzwingt die gemeinschaftsweite Diskussion und damit übernationale Meinungsbildung: einen „gemeinsamen Markt für Information“, einen „gemeinsamen Markt für Politik“; schafft damit letztlich die Voraussetzungen für eine gemeinsame Politik, die nicht wie bisher von Administrationen und Diplomaten betrieben, sondern von der Öffentlichkeit getragen wird. Damit entstehen auch die Bedingungen für ein gemeinsames Handeln von transnationalen Gruppen; nur so können Kooperation und Zusammenschluß von Gewerkschaften und Parteien über die staatlichen Grenzen hinaus vorbereitet werden.

8.5.

Was bedeutet all das für die Lohnabhängigen und ihre legalen Vertretungen?

Die Tendenz ist immer deutlicher nachzuweisen, daß die wichtigsten Unternehmen sich zunehmend transnational organisieren oder kooperieren und die Gewerkschaften automatisch in Nachteil geraten, wenn sie sich nicht zur Gegenwehr entschließen.

Hat man noch vor einigen Jahren abgewinkt, als erwogen wurde, eine offensive Mitbestimmungsdiskussion in allen Gemeinschaftsländern auszulösen, so ist dieser Vorbehalt nun wohl schwächer geworden.

Ähnlich könnte man die Gründung eines EBFG als einen ersten Schritt hin zu einer aktionsfähigen europäischen Gewerkschaftsbewegung auffassen.

Schließlich ist gegenüber der Zusammenarbeit mit Gewerkschaften, die anders ausgerichtet sind als etwa der DGB, an die Stelle emotionaler Diskussionsverweigerung nun doch eine Haltung der realistischen Zurkenntnisnahme getreten.

Auch Ansätze zu einer transnationalen Kooperation von Parteien sind zu verzeichnen. Die Anwesenheit von Mitgliedern der kommunistischen Partei Italiens im Europäischen Parlament könnte zu einer Versachlichung dieser heiklen Debatte veranlassen.

Wollen die linken Parteien und die legalisierten Vertretungen der Lohnabhängigen ihre transnationale Verschmelzung einleiten — als Vorbedingung für eine Strategie der Befreiung?

8.6.

Aber organisatorische Veränderungen sind bloß Mittel und Vehikel die Frage wird sein, wofür. Wird mit ihrer Hilfe alter Wein in neue Schläuche gegossen? Die Freisetzung von Konflikten garantiert noch keine bessere Regelung, und neue Organisationen sind noch nicht bessere Organisationen. Sollen sie das Gefäß für neuen Wein sein, so muß neuer Wein zuvor produziert werden. Müssen vor allem die auf Emanzipation gerichteten Kräfte aus dem vorpolitischen Raum heraustreten und den ihnen angemessenen Handlungsraum — dort also, wo die Produktivkräfte organisiert werden — annehmen. Müssen die politischen Organisationen die Herausforderung annehmen, die ihnen durch die Kontestation der staatlichen Verfassung in den Gemeinschaften wie der gesellschaftlichen Verfassung durch die Emanzipationsbewegung erwächst.

Das verlangt, die Fragestellung und den Protest der Kräfte, die sich — und dies ursprünglich gar nicht freiwillig — als außerparlamentarische Opposition verstehen, nicht zu verteufeln und abzuweisen, sondern — wie die Jungsozialisten in München erklärten — sie anzunehmen, sie in die Parteien einzubringen und in den Wettstreit um die bessere Antwort einzutreten.

Unter solchen Auspizien mag sich in Westeuropa eine neue Perspektive für Demokratie eröffnen, mag Westeuropa eine neue Funktion in der Welt gewinnen. Wer nur das Bestehende behalten will: in Staat und Gesellschaft, sollte die Finger auch von der staatlichen Veränderung lassen. Sie wird jedenfalls gefährlich für den Willen zur Bewahrung des Status quo. Die Auspizien für diesen sind schlecht. Änderung hat begonnen, auf beiden Feldern: die Frage ist, in welcher Richtung, zu technokratischer Diktatur als erste Stufe von Schlimmeren oder zu radikaler Demokratie.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1970
, Seite 1070
Autor/inn/en:

Heinz Kuby: Beamter des Europäischen Parlaments.

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