FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1969 » No. 182/I
Hans-Werner Bartsch • Ernst Bloch • Wilhelm Dantine • Iring Fetscher • Helmut Gollwitzer • Herbert Heiss • Wolfgang Hildesheimer • Michael Landmann • Kurt Lüthi • René Marcic • Helge Pross • Erika Weinzierl • Wilhelm Weischedel • Ernst Wolf

In Sachen Israel

Offener Brief an Ministerpräsident Kossygin

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kossygin,

die Unterzeichneten erlauben sich, wegen des künftigen Schicksals des Staates Israel an Sie heranzutreten, Gerade angesichts der jüngst sich bedrohlich steigernden wechselseitigen Gewaltakte fühlen wir als Angehörige von Ländern, die die schwerste Katastrophe in der Geschichte des jüdischen Volkes verschuldet haben, eine bedrängende Verantwortung für Israel. Wir können es nicht schweigend mit ansehen, daß dort der substantiell tragende Kern desselben Volkes abermals von Vernichtung bedroht ist.

Bis heute haben die arabischen Staaten Israel weder de jure noch auch nur de facto anerkannt. Ihr erklärtes Ziel, aus dem sie nie ein Hehl gemacht haben, ist weder der bloße Rückzug Israels auf die Grenzen vom Mai 1967 noch die Verkleinerung seines Territoriums, sondern die totale Extermination des Staates sowie seiner sämtlichen jüdischen Bürger nach nationalsozialistischem Vorbild.

Andere Völker werden in Kriegen nur besiegt und besetzt; Israel würde „ausradiert“.

Wohl haben die arabischen Regierungen sich offiziell von Shukeiri distanziert, es bleibt aber die begründete Befürchtung, daß im Moment einer kriegerischen Verwicklung dann doch die chauvinistischen Kräfte die Oberhand gewinnen.

Daher erscheint es uns als ungeheuer gefährlich, die arabischen Staaten in ihrem Konflikt mit Israel einseitig moralisch zu unterstützen und sie bis an die Zähne mit den modernsten Waffen auszustatten. Die an sie ausgeschütteten Mittel kommen im gegenwärtigen Augenblick nicht dem Fortschritt der leidenden arabischen Völker zugute, denen zu helfen ihre rückständigen Regierungen weder fähig noch willens sind, sondern lediglich dem pathologischen Haß gegen Israel, hinter dem diese Regierungen ihre Unfähigkeit zu verbergen suchen. Durch die Rückendeckung der Sowjetunion ermutigt, könnten sie eines Tages auch gegen den Willen ihrer Protektoren den Auslöschungsfeldzug gegen Israel beginnen.

Als demjenigen Großstaat, der heute in der arabischen Welt den stärksten Einfluß besitzt, ist der UdSSR eine neue Verantwortung zugewachsen. Ausgleichend würde es bereits wirken, die Gewährung weiterer Hilfen von der Bereitschaft der Araber abhängig zu machen, mit Israel einen Modus vivendi zu finden. Der sich gegenwärtig vollziehende Ausbau der sowjetischen Position im Mittelmeerraum würde dadurch nicht gehemmt, da die Araber auch dann noch darauf angewiesen bleiben, mit der Sowjetunion zusammenzuarbeiten. Er würde auch von den anderen Großmächten um so bereitwilliger hingenommen werden, wenn sie in der Sowjetunion einen den Nahen Osten stabilisierenden Faktor erblicken dürften.

Mehr als jeder andere trägt ja der Nahostkonflikt in sich den Keim zu einem Weltkonflikt.

In der Sorge, die uns in diesem Augenblick beklemmt, wenden wir uns an Sie als den Spitzenfunktionär einer der beiden Großmächte, dessen Wort und Entscheidung auch für andere Teile der Welt schicksalhaft sind.

Der israelisch-arabische Gegensatz darf mit denjenigen Gegensätzen, von denen die Lehrbücher der Diplomatie empfehlen, daß man sie schüren und nutzen solle, nicht in Parallele gesetzt werden. Eine exklusive Araberfreundlichkeit impliziert als Möglichkeit die Existenzpreisgabe Israels, die doch zur Erreichung Ihrer Ziele keineswegs notwendig ist, ja ihnen auf weitere Sicht hinderlich wäre. Israel würde sinnlos nicht der großen Politik der Sowjetunion, sondern der kleinen Verblendung der arabischen Staaten geopfert werden, deren innere Probleme im übrigen dadurch um keinen Schritt weiter kämen, denn nicht Israel ist ihr Feind, sondern ihre eigenen Feudalherrscher und pseudosozialistischen Diktatoren sind es.

Wir erinnern uns noch, daß die Sowjetunion 1948 als einer der ersten Staaten Israel anerkannt hat. Wir wissen, daß sie nicht in den apokalyptisch-verbrecherischen Träumen eines rückständigen Nationalismus denkt und bei aller Solidarisierung mit dem Standpunkt der Araber mäßigend auf sie zu wirken sucht.

Echter Sozialismus hat immer die Unterdrückung und Vernichtung von Völkern perhorresziert und sich, wie für die schwachen Klassen, so auch für die bedrohten Völker eingesetzt. Im Rahmen der internationalen Verbrüderung und Solidarität tritt er für die Selbständigkeit und Befreiung der Nationen ein. Was man allen Nationen zubilligt, das kann man auch der jüdischen Nation nicht vorenthalten. Gerade das Verhalten zu ihr ist zu einem Prüfstein für die humanen Absichten einer jeden politisch-gesellschaftlichen Bewegung in unserer Zeit geworden.

Die Grundlagen des Staates Israel wurden im 19. Jahrhundert von sozialistischer Jugend aus Rußland gelegt. Israel ist bis heute nicht nur wie die arabischen Staaten an der Präsentierfläche, sondern in seinem Kern sozialistisch, was sich nicht nur in den Kibbuzim, sondern auch in der beherrschenden Gewerkschaftsbewegung ausdrückt.

Dem steht freilich entgegen, daß Israel, wie jedes Entwicklungsland, auf ausländisches Kapital angewiesen war, das es naturgemäß zunächst aus dem Westen erhielt. Trotzdem ist die innenpolitische Situation offen. Ein Ausgleich mit den arabischen Nachbarn würde es Israel erlauben, seine politische und wirtschaftliche Abhängigkeit von den kapitalistischen Staaten abzubauen.

Mit Recht wirft die progressive Öffentlichkeit heute der amerikanıschen Politik vor, zugunsten kurzfristiger imperislistischer Interessen korrupte und diktatorische Regierungen zu unterstützen: durch ihre vorbehaltlose Parteinahme für die arabischen Staaten setzt sich die Sowjetunion demselben Vorwurf aus und bringt die sozialistische Bewegung als ganze in Mißkredit, schwächt ihre Idee und verwirrt ihre Anhänger.

Schon im Juni 1967 ist die Parole der auf Moskau blickenden kommunistischen Parteien, für die arabische Seite einzutreten, mit dem spontanen Gerechtigkeitsgefühl vieler ihrer Mitglieder in Konflikt geraten und hat zur Zersplitterung der Parteien geführt.

Israel hat keinerlei expansionistische Absichten, die dem im Vergleich mit den Nachbarn kleinen, mit Aufbauproblemen ringenden und an Bevölkerungsmangel leidenden Land zu unterstellen — wie die arabische Lügenpropaganda es tut — absurd ist. Gerade die Sowjetunion, die so lange durch den Weltkapitalismus in die Isolation gedrängt war, müßte Verständnis für einen Staat aufbringen, der sich nur mühsam einer von allen Seiten aufmarschierenden feindlichen Umwelt erwehrt, und solite nicht dulden, daß Aggressivität genannt wird, was in Wahrheit eine von außen aufgezwungene Verteidigung ist.

Mord an zwei Millionen

Die UdSSR hat nach dem Zweiten Weltkrieg ihrem Sicherheitsbedürfnis nicht nur durch ein umfangreiches Bündnissystem, sondern auch durch die Eingliederung großer neuer Gebiete Rechnung getragen. Wir sind keine Befürworter kriegerischer Annexion. Solange jedoch die Kriegsdrohungen der arabischen Führer sich täglich erneuern, müssen auch Israel verteidigbare Grenzen zugebilligt werden. Von ihm verlangen, daß es sich ohne Gegenleistung wieder zurückzieht, heißt erwarten, daß es selbst die Hand zu seiner Hinrichtung reicht.

Israel beharrt jedoch auf den jetzigen Grenzen nur notgedrungen, nur deswegen, weil die Araber nicht bereit sind, mit ihm zu verhandeln und ihm durch Anerkennung seiner Existenz einen stabilen Frieden zuzusichern. Werfen Sie Ansehen und Macht Ihres Landes in die Waagschale, damit ein solcher Friede zustande kommt! Dann wird die Festlegung für beide Teile annehmbarer Grenzen auf keine Schwierigkeiten stoßen.

Nach der Zerstörung des Ostjudentums durch Hitler kann das Judentum seine nationale Existenz nur noch in Israel bewahren. Überlassen Sie den Staat der arabischen Destruktionswut, so werden nicht nur zwei Millionen Menschen ermordet, sondern es verschwindet mit ihm ein ganzes Volk — das Volk, das der Menschheit die Bibel und Marx geschenkt und darüber hinaus für die Geschichte und den Sozialismus so viel geleistet hat. Das wäre die größte Schmach für die zivilisierte Welt.

Israel zu schützen, empfinden wir als eine Ehrenpflicht, die durch die vom Judentum mitgeprägte Geschichte des europäischen Geistes und durch das Unrecht, das Europa seit dem Mittelalter gegen das jüdische Volk auf sich geladen hat, uns als Europäern auferlegt ist.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1969
, Seite 53
Autor/inn/en:

Helmut Gollwitzer:

Professor für protestantische systematische Theologie an der Freien Universität Berlin, Mitherausgeber des NEUEN FORVMS (vgl. „Christen und Krieg“, Febr. 1967; „Liebe mit Gewalt, Thesen Zur Theologie der Revolution“, Anf. Febr. 1969). Geb. 1908 in Bayern, stand vor 1933 den Sozialisten nahe, dann Mitglied der Bekennenden Kirche, unter Einfluß Karl Barths und Martin Niemöllers. Als dieser ins KZ gebracht wird, übernimmt er dessen Pfarre in Berlin-Dahlem. 1940 zur Wehrmacht, 1945 bis 1950 russische Gefangenschaft. Neben theologischen Schriften Bericht aus dieser Gefangenschaft: „Und führen wohin Du nicht willst“ (1954).

Iring Fetscher:

Geb. 1922, Dr. phil., ist o. Professor für die Wissenschaft von der Politik an der Universität in Frankfurt am Main. — Veröff. u. a.: „Marx — Engels Studienausgabe“ (Hrsg.), 1966; „Der Rechtsradikalismus“, 1967; „Karl Marx und der Marxismus“, 1967; „Politikwissenschaft“, 1968; „Rousseaus politische Philosophie", 21968; „Hegels Lehre vom Menschen“, 1970; „Der Sozialismus“ und „Der Kommunismus“, (Hrsg.; Reihe „Mächte und Kräfte unseres Jahrhunderts“), 1968 und 1969; Marx/Engels „Die Geschichte im 19. Jahrhundert“ (Hrsg.), 1969. — I. F. ist Mitglied des internationalen Redaktionsbeirates des NEUEN FORVMs.

Ernst Bloch:

René Marcic: Dr. jur., Österreichs führender Staats- und Rechtsphilosoph, Vertreter der Kelsen’schen Schule, Mitglied der Strafrechtskommission, ehemals Chefredakteur der „Salzburger Nachrichten“ und erster Vorsitzender des Österreichischen Presserates, bedarf als langjähriger Mitherausgeber des FORVM weder in seinen akademischen (Dekan und Mitschöpfer der Salzburger Universität) noch in seinen publizistischen Funktionen (zuletzt „Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit“, Springer-Verlag) der näheren Vorstellung.

Wilhelm Dantine: Ordinarius an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien, gilt als eines der Häupter unter den „Progressiven“ seiner Konfession sowie in der ökumenischen Bewegung des Näherrückens aller christlichen Konfessionen. Er ist Vizepräsident der internationalen Teilhard-de-Chardin-Gesellschaft‚ Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Paulus-Gesellschaft, österreichische Sektion, Mitherausgeber des Neuen FORVM.

Kurt Lüthi:

Geboren 1923 in der Schweiz, ist Ordinarius für systematische Theologie an der evangel.-theol. Fakultät der Universität Wien. Hauptinteresse: Theologische Grenzgespräche und Dialog. Bücher: Judas Iskariot in der Geschichte der Auslegung, Zürich 1955; Gott und das Böse, Zürich 1961; Moderne Malerei, in: Kurt Marti, Kurt Lüthi, Kurt von Fischer: Moderne Literatur, Malerei und Musik — Entwürfe zu einer Begegnung zwischen Glaube und Kunst, Zürich 1963.

Hans-Werner Bartsch:

Herbert Heiss:

Wolfgang Hildesheimer:

Michael Landmann:

Helge Pross:

Erika Weinzierl:

Vorstand des Instituts für kirchliche Zeitgeschichte am Internationalen Forschungszentrum Salzburg und Dozentin für österreichische Geschichte an den Universitäten Wien und Salzburg, Vizepräsidentin der Katholischen Aktion Österreichs und Mitherausgeberin des Neuen FORVM. Zu ihren größeren Veröffentlichungen gehören: „Geschichte des Benediktinerklosters Millstatt“, „Die österreichischen Konkordate von 1855 und 1933“, „Österreichs Katholiken und der Nationalsozialismus“ u. a.

Wilhelm Weischedel:

Ernst Wolf:

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