FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1985 » No. 374
Ernest Borneman

In Panik vor dem souveränen Bürger

Zensur: Hier und heute werden nicht durch traditionelle, verankerte Formen schöpferische Menschen zum Schweigen gebracht, sondern durch indirekten, sich in den Grauzonen des Rechts bewegenden Terror einer Mikro-Minderheit.

In der Bundesrepublik Deutschland, wo die Niederlage der SPD-FDP-Koalition vor zwei Jahren eine Interessenvertretung der Unternehmer an die Macht gebracht hat, zeigen sich die kulturellen Façetten einer als Volkswirtschaft verkleideten Unternehmerpolitik fast ebenso deutlich wie im England der Margaret Thatcher und im Amerika des Ronald Reagan.

Der bundesdeutsche Familienminister Heiner Geissler (CDU) versteht unter Familienpolitik vor allem den Kampf gegen Frauenemanzipation, Geburtenregelung und Sexualerziehung. Das gesamte von den beiden vorausgegangenen Regierungen hergestellte Lehrmaterial für den schulischen Sexualunterricht — einschließlich Filmen, Videobändern, Dias und Informationsmappen — ist von seinem Ministerium zurückgezogen und eingestampft worden. Neue Gesetze zur Einschränkung des Schwangerschaftsabbruchs werden vorbereitet. Durch finanzielle Bestechungen verschiedener Art sollen die Frauen aus der Berufstätigkeit heraus- und in den patriarchalischen Haushalt zurückgelockt werden.

Im Funk und Fernsehen herrscht eine deklariert regierungshörige Politik, der fast alle Linken und Liberalen zum Opfer gefallen sind — entweder durch Entlassung oder Versetzung, durch Einschüchterung oder durch zähneknirschende Selbstzensur.

An zahllosen öffentlichen Bibliotheken sind linke und liberale Bibliothekare verwarnt, versetzt oder entlassen worden. Viele Tausende von Büchern sind unter dem Vorwand des Linksdralls und der Volksverhetzung entfernt worden.

Fast die Hälfte aller von früheren Regierungen für das Entwicklungsministerium hergestellten Bücher und Filme sind zurückgezogen und unter dem Vorwande, daß sie die Beziehungen zu befreundeten Regierungen, etwa zu Südafrika, gefährden könnten, eingestampft worden.

Polizeieinsätze gegen Buchhandlungen häufen sich. Unter dem Vorwand des Kampfes gegen Pornographie und Obszönität werden vor allem linke Buchhändler vor Gericht zitiert. Durch Beschlagnahme ihres Warenlagers werden sie finanziell pönalisiert. Linke Verleger wie der Geschäftsführer des Rowohlt Verlages werden in langwierige und kostspielige Prozesse wegen angeblicher Verstöße gegen das Jugendschutzgesetz verwickelt.

Zitat oder Geld

Die politische Trendwende gibt sich gern als moralische Trendwende aus. Sie benutzt die bürgerliche Angst vor jeder unverhüllten Form der Sexualität als Mittel zur Unterdrückung jeder unverhüllten Form des politischen Protests. Dabei werden gezielte Konzessionen an die Vorurteile des Kleinbürgertums vorgenommen, um die Stimmen der Kleinbürger zu gewinnen. So hat der bundesdeutsche Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU) die ehemals recht fortschrittliche Tendenz des bundesdeutschen Filmförderungsgesetzes durch Novellierung auf den Kopf gestellt. In seiner ursprünglichen Form wollte das Gesetz künstlerische und experimentelle Filme gegen die Konkurrenz der kommerziellen Filmindustrie schützen und ihnen sowohl bei der Produktion wie beim Verleih finanziell unter die Arme greifen. Zimmermann dagegen argumentierte, staatliche Mittel dürften nicht für Minderheitsfilme ausgegeben werden, da diese nur Selbstdarstellungen der Filmemacher seien oder den Sinn für Anstand und Moral verletzten.

Man beachte diese Gleichstellung von Anstand und Moral mit Profit und Popularität. Zimmermann verlangte, es müßten vor allem „publikumswirksame Filme“ gefördert werden, da sie im Einklang mit dem Volksempfinden stünden und dadurch die Stabilität im Staate sicherten.

Dieses Argument hatte bereits im Vorjahre dazu gedient, die Förderungsbeträge für die Regisseure Rainer Werner Fassbinder, Herbert Achternbusch und Rüdiger Neumann zu verweigern. Neumann hatte in den Vorspann seines Dokumentarfilms „Meridian“ das bekannte Zitat des US-Präsidenten Ronald Reagan eingebaut, daß ein begrenzter Atomkrieg in Mitteleuropa durchaus denkbar sein. Zimmermann bestritt keineswegs die Korrektheit des Zitats, stellte den Regisseur aber trotzdem vor die Entscheidung: Entweder Geld und kein Zitat, oder Zitat und kein Geld.

Im friedlichen, immer ein wenig hinter dem rabiaten Deutschland herhinkenden Österreich hat die rotblaue Koalition noch nicht so deutlich den Charakter einer Konterrevolution angenommen wie die schwarzblaue in der Bundesrepublik. Trotzdem zeichnen sich auch bei uns die ersten Merkmale neuer Maulkorbbestrebungen ab.

Ärgernis für Herrn Karl

Ein Warnsignal war die Klage der drei Parlamentsklubs, die sich in unheiliger Allianz gegen den Schriftsteller Humbert Fink verbündet hatten, weil er es gewagt hatte, einige ungenannte Parlamentarier als „habgierige Karrieristen“ zu bezeichnen, „die sich an politische Futtertröge drängen und die, während sie sechsstellige Nettobezüge einstreichen, das Engerschnallen des Gürtels und die allgemeine Opferbereitschaft predigen“. Fink stützte sich auf Zitate bedeutender Parlamentarier von Kreisky bis Mock und bot den Wahrheitsbeweis an. Das Gericht jedoch sah keine Veranlassung, die Zeugen zu laden, und verurteilte Fink, weil er einen „Angriff auf die Grundfesten des Staates“ geführt habe.

Eine solche Empfindsamkeit des Parlaments und ein solches Urteil lassen Schlimmes befürchten. Vorboten dessen, was da auf uns zukommen mag, lassen sich an jenem österreichischen Seismographen ablesen, der auf dem Küniglberg steht. Linke und emanzipatorische Fernsehprogramme wie „Prisma“ und „Teleobjektiv“ sind schon weg vom Fenster. „Club 2“ gibt’s nur noch jeden zweiten Donnerstag. „Die Galerie“ und „Aufgeblättert“ stehen auf der Abschußliste.

Gerd Bachers scheinbar so sinnvolles, in seiner Symmetrie und Logik so bestechendes „Funktionsmodell“ hat den Nachteil, daß es einem deklariert konservativen Generalintendanten noch größere Machtfülle garantiert, als er eh schon besitzt. Bachers wiederholt geäußerte Gleichsetzung von Einschaltziffern mit Erfolg bedroht uns mit einem popularistischen ORF, in dem es keinen Platz mehr für Minoritäten und unbequeme Künstler gibt.

Angst macht mir auch Bachers wiederholt geäußerte Überzeugung, daß Mitarbeiter des ORF den ORF nicht kritisieren dürfen, da sie von ihm bezahlt werden. Das ist, als ob Parlamentsabgeordnete keinen Aspekt des Staates kritisieren dürfen, da sie ja vom Staat bezahlt werden — eine immens enthüllende Sicht des Demokratieverständnisses dieses für Österreich so bedeutsamen Generalintendanten.

Nominell gibt es in Österreich keine Zensur, aber die Institutionen, von denen sowohl Künstler wie Schriftsteller abhängen, um überleben zu können, haben natürlich — genau wie der ORF — die Mittel, uns entweder zum Gehorsam oder zum Schweigen zu bewegen, indem sie den Geldhahn zudrehen. Im Falle des ORF kann das geschehen, indem der Generalintendant einfach das Signal in den Computer füttert: „Sperre im Hondis.“ Hondis ist das Honorardispositionssystem. Der, für den es gesperrt ist, kann vom ORF nicht mehr honoriert werden.

Verglichen mit der regulativen Macht des Kapitals ist dann auch das Bundesverfassungsgesetz vom 12. Mai 1982, das uns die Kunstfreiheit als eigenständiges Grundrecht garantiert, recht machtlos. Denn nach den Kommentaren zum neuen Artikel 17a des Staatsgrundgesetzes hat diese Freiheit ihre Grenzen, wo sie mit anderen Grundrechten kollidiert. Und diese anderen Grundrechte kommen vor allem den volkswirtschaftlichen Interessen zugute. Erfahrungsgemäß obsiegen bei solchen Rechtskollisionen die materiellen über die ideellen Interessen.

Ein nur scheinbar ideelles Interesse ist das des Staatsbürgers, der sich gegen die Freiheit der Kunst wehren kann, wenn ein Kunstwerk bei ihm Argernis erregt. Hier unterscheidet sich die österreichische Gesetzgebung negativ von der bundesdeutschen. Denn im Gegensatz zu der Haltung des österreichischen Gesetzgebers, der den künstlerisch unbeleckten Normalbürger zum Gradmesser der Anstößigkeit macht, bestimmen die relevanten Gesetze der Bundesrepublik ausdrücklich, daß nicht der Herr Karl, sondern nur der „künstlerisch aufgeschlossene oder zumindest um Verständnis bemühte Staatsbürger“ entscheiden dürfe, ob ein beanstandetes Werk anstößig sei oder nicht.

In dem klassischen Präzedenzfall der Klage gegen Jean Genets „Notre-Dame-des-Fleurs“ entschied das Hamburger Landgericht: „Das sittliche Empfinden, wie es normal und durchschnittlich breitere Volkskreise beherrscht, kann solange nicht zum Wertmesser einer Kunstrichtung gemacht werden, als die besonderen Anschauungen dieser Kunstrichtung gar nicht in das Bewußtsein der breitesten Allgemeinheit übergangen sind.“

Mit einem Gesetz dieser Art wäre es unmöglich gewesen, Filme wie „Das Liebeskonzil“ und „Das Gespenst“, Bühnenstücke wie „Stigma“ oder „Was heißt hier Liebe?“, Bühnenensembles wie das Theater am Landhausplatz in Innsbruck oder die Volksschauspiele in Telfs zu zensieren. Das war nur möglich, weil die zuständigen österreichischen Gerichte willens waren, die Mentalität der Anstoßnehmer mit der des Volkes gleichzusetzen und damit der Reaktion Tür und Tor zu öffnen.

Der Gesetzgeber ging von der Annahme aus, daß der Staatsbürger, der ein Kunstwerk als gotteslästerlich empfindet und gegen den Künstler Strafanzeige nach § 188 StGB erstattet, ein religiös normal empfindender Durchschnittsbürger sei. Der Gesetzgeber nahm ebenfalls an, daß der Staatsbürger, der ein Kunstwerk als jugendgefährdend empfindet und gegen den Künstler Strafanzeige nach § 208 StGB oder §§ 1 u. 2 (1) lit. b. des Pornographiegesetzes erhebt, ein sexuell normal empfindender Durchschnittsbürger sei.

Tatsächlich hat es sich aber herausgestellt, daß während der letzten Jahre keine einzige Strafanzeige dieser Art von einem Durchschnittsbürger eingereicht worden ist. Dazu sind diese Gesetze und deren Handhabung viel zu kompliziert. Statt dessen sind fast alle überprüfbaren Strafanzeigen dieser Art während der letzten Jahre von Mitgliedern oder Handlangern politischer oder religiöser Interessengemeinschaften (Pressure-Gruppen) geleistet worden — von professionellen Anstoßnehmern, die sich in ihren eigenen Äußerungen nicht nur als religiöse Fundamentalisten, sondern auch als deklarierte Gegner aller parlamentarischen Parteien und des parlamentarischen Systems ausgewiesen haben. Es handelt sich also keineswegs um österreichische Normalbürger, sondern um Sprecher organisierter Gruppen am extrem rechten Flügel der Bevölkerung.

Das geht aus ihren Stellungnahmen zur NS-Zeit hervor. Beispielsweise:

Wir verfassen gerne Zeitdokumente, die später einmal beweisen sollen, daß es eigentlich zwischen Schandtaten der Nazis und den Schandtaten der Demokraten so gut wie keinen Unterschied gab.

Die Nazischweine wurden von den ‚Demokratischen Schweinen‘ abgelöst. Das ist so ziemlich der einzige Unterschied.

Genossen, bei mir zieht die Masche nicht! Bei mir genügt es einfach nicht, zu plärren: ‚Pfui Hitler, nieder mit den Nazis‘.

Beachtenswert ist es, daß sich diese Leute nicht nur gegen die „lasche“ Amtskirche, gegen die „Eunuchen“ in der ÖVP, die „Liberalen“ in der FPÖ und die „Marxisten“ in der SPÖ wenden, sondern auch — wie zu Hitlers Zeiten — gegen die angeblich alle Parteien beherrschenden „Freimaurer“.

Wenn die österreichischen ‚Kunstexperten‘ den unwiederstehlichen Drang verspüren, Menschen und ihre Überzeugungen zu besudeln, dann sollen sie sich einmal Personen ihrer Gesinnung zum Spotte aussuchen. Vielleicht läßt sich der Freimaurer und Unterrichtsminister Dr. Zilk, der Altbundeskanzler Dr. Kreisky, oder Bundeskanzler und Freimaurer Dr. Sinowatz eine solche Herabwürdigung gefallen.

Wir fordern Strafverfolgung im Namen des Gesetzes! Wir werden sehen, ob die Staatswanwaltschaft Innsbruck das Gesetz achtet und Strafverfolgung einleitet, oder ob sie den Weisungen der Wiener und Innsbrucker Freimaurerlogen gehorcht.

Verantwortlich für diesen Skandal ist FS 1-Intendant Wolf In der Maur! Wir fordern ihn auf zurückzutreten! Wir haben es satt, unsere christlichen Glaubenslehren von Marxisten und Freimaurern permanent mit Füßen treten zu lassen!

Machen wir uns nichts vor und sagen wir heraus, wer da Interesse habe an der Ausstrahlung solcher Stücke. Es sind das die Freimaurer und die Marxisten. Es geht daher primär nicht um das Schauspiel ‚Stigma‘, es geht zweifelsohne um die Zerstörung des katholischen Glaubens im österreichischen Volke.

Es ist kennzeichnend, daß sich die katholische Kirche niemals an dem Glaubenskrieg ihrer ungewollten Helfer gegen Fortschritt in Kunst und Wissenschaft beteiligt hat. Nur wenige, von ihren Glaubensbrüdern völlig isolierte Mitglieder des niederen Klerus haben sich überreden lassen, mit den Rechtsextremisten zu packeln. Die anderen sind allein schon vor den Methoden dieser Leute zurückgeschreckt.

Sprühdosen und Stinkbomben

Das Instrumentarium dieser Gruppen reicht von der einfachen Sachbeschädigung bis zum Bombenanschlag. Sie beschädigen oder zerstören Kinos oder Theater mit Jauche, Mist, Sprühoder Leuchtfarbe.

Zitat aus dem Munde eines der Täter:

Ich besprühte aus Protest mehr als zehn dieser schweinischen Bildtafeln mit oranger Farbe und wartete dann auf das Eintreffen der Polizei. Orange entsteht dann, wenn man in eine gelbe Farbe ‚rote Farbkörper‘ hineinmengt. Ähnliche Farbmischungen kommen auch im polizeilichen Alltag vor.

Sie gehen mit Bombendrohungen gegen Ausstellungen, Aufführungen und Filmtheater vor.

Als der antifaschistische Film „Die Erben“ anlief, drohten seine Gegner mit Bombenanschlägen auf alle Kinos, in denen er gezeigt wurde. Da unter ähnlichen Umständen ein frisch renoviertes Kino in der Bundesrepublik Deutschland, das einen von Rechtsradikalen beanstandeten Film gezeigt hatte, soeben völlig zerstört worden war, reagierten viele Kinobesitzer mit Stornierungen.

Als Felix Mitterers „Stigma“ in Telfs aufgeführt wurde, liefen wieder die üblichen Bombendrohungen ein. Außer einem protestierenden Leserbrief des Gemeinderats und Lehrers Michael Schmidt in der Tiroler Tageszeitung (4. Oktober 1982) geschah nichts, um die Urheber der Drohungen zur Rechenschaft zu ziehen.

Als die Gewerkschaftsjugend das Theaterstück „Was heißt denn hier Liebe?“ in der Arbeiterkammer Ried aufführen wollte und die Gegner des Stückes die Aufführung mit allen Mitteln zu verhindern suchten, lief kurz vor Beginn der Vorstellung eine anonyme Drohung bei der Sicherheitswache Ried ein, daß eine Bombe während der Vorstellung hochgehen werde. Der Sprecher der Pressure-Gruppe verkündetete ein paar Tage später: „Den anonymen Bombardeuren, welche die Aufführung um eine Stunde verzögerten, gilt ein dankbares Schmunzeln.“

Privates als Druckmittel

Um die Einfuhr von Filmen, die nicht mit dem Geschmack der Pressure-Gruppen übereinstimmen, zu verhindern, verschaffen sich diese Gruppen Exemplare der Drehbücher und schicken sie vor der Einfuhr des Films an alle strafverfolgenden Behörden und alle Zollämter mit der Auflage, den Film zu beschlagnahmen und Strafverfahren gegen den Importeur einzuleiten, sobald der Film in Österreich eintrifft.

Gleichzeitig wird das Drehbuch an hunderte von Sympathisanten verschickt, um deren Einflußnahme auf die Behörden zu mobilisieren. Urheberrechtliche Bestimmungen werden dabei ständig verletzt, denn Drehbücher dürfen nicht ohne Erlaubnis vervielfältigt werden.

Sie publizieren Privatadressen von Künstlern, ihre Privattelefon- und Autonummer. Sie veröffentlichen private Adressen, Telefon- und Autonummern von Bundesministern, Richtern, Staatsanwälten und anderen Behörden, die sich weigern, den Willen der Pressure-Gruppen zu erfüllen.

Diese Preisgabe des Privatlebens der Betroffenen soll die Anhänger und Sympathisanten der Pressure-Gruppen dazu veranlassen, die Opfer ihrer Kampagnen Tag und Nacht mit Telephonanrufen, Briefen und unaufgeforderten Besuchen zu bedrängen, um sie so zur Nachgiebigkeit zu bewegen. In fast allen Veröffentlichungen der Gruppen schlägt sich diese Praxis nieder. Kaum eine Person wird erwähnt, ohne daß auch die intimen Details ihres Privatlebens bloßgestellt würden. Das trifft manchmal auch die völlig Unschuldigen.

Ein junges Ehepaar etwa, das noch bei den Eltern wohnt, kommt mit ihrem Kind von einer Reise zurück, die Eltern sind nicht zu Hause. Von den Nachbarn erfährt das Paar, daß die Eltern erst nach Mitternacht zurückkehren werden. Sie gehen also mit dem schlafenden Kind ins Kino, um die Zeit totzuschlagen, bis die Eltern nach Hause kommen. Der dort laufende Film behagt einer Pressure-Gruppe nicht. Ein Späher der Gruppe notiert sich die Autonummern aller Kinobesucher, die das Kino mit Kindern betreten, da nach der Meinung der Gruppe der Film für Kinder schädlich sei, und veröffentlicht dann die Nummern der Besucher, um dem Kinobesitzer zu schaden. In Wirklichkeit trifft die Veröffentlichung aber die Eltern und ihre Kinder viel härter als den Kinobesitzer. Der eigentliche Zweck der Kampagne, die Schließung des Kinos, schlug fehl. Bei Freunden und Bekannten des betroffenen Ehepaars mußte dagegen der falsche Verdacht entstehen, es hätte die Angewohnheit, nachts ins Pornokino zu gehen und dabei auch noch die Kinder mitzunehmen.

Anonyme Anrufe

Die Pressure-Gruppen verfügen über eine große Anzahl von fanatischen Anhängern, die geschult worden sind, ihre Opfer durch telephonische Beleidigungen und Störungen zu zermürben. Besonders vor Gerichtsprozessen, die diese Leute systematisch gegen ihre Opfer anstrengen, rufen sie meist die ganze Nacht hindurch in unregelmäßigen Abständen an, um ihrem Opfer den Schlaf zu rauben und seine Verhandlungsfähigkeit zu schwächen.

Während der Proben der von Dietmar Schönherr, Hans Brenner und Kurt Weinzierl geleiteten Tiroler Volksschauspiele rief ein angeblicher Tourist die Gendarmerie an und behauptete, eine Frau würde dort vergewaltigt. Durch Anrufe ähnlicher Art wurden die Proben der Truppe fast unmöglich gemacht.

Als Daniela Martschitz im Fernsehprogramm „Tritsch-Tratsch“ Kritik an der Kirche übte, wurde ihre Familie mit anonymen Anrufen und Drohbriefen überschüttet. Um 3 Uhr früh rief eine männliche Stimme an und meldete dem Vater, Dr. Ernst Martschitz, einem wegen seiner fortschrittlichen Ansichten bekannten Linzer Gynäkologen, seine Tochter sei bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und ihr Freund, der den Wagen gesteuert habe, läge schwer verletzt im Krankenhaus St. Pölten. Als die Mutter die Nachricht erhielt, brach sie mit einer Herzattacke zusammen. Erst als der Vater bei der Polizei und im Krankenhaus anrief, stellte es sich heraus, daß das Ganze nur ein Teil des gegen ihn und seine Tocher lançierten Telefonterrors gewesen war.

Die Macht von 0,04 Prozent

Vorgedruckte Formulare zur Erstattung von Strafanzeigen werden an Mitglieder und Sympathisanten der Pressure-Gruppen verteilt und brauchen nur noch unterschrieben und verschickt zu werden, um bei den Uniformierten den Eindruck zu erwecken, es habe eine spontane Protestwelle gegeben. So konnte es geschehen, daß bei der Kampagne gegen den Film „Das Gespenst“ der Öffentlichkeit die Illusion vermittelt wurde, nahezu 3000 Österreicher hätten unabhängig voneinander Strafanzeigen gegen einen Film erhoben, der in Österreich überhaupt noch nicht aufgeführt worden war.

Die Zahl 3000 zeigt übrigens das absolute Maximum an, das alle diese Pressure-Gruppen zusammen in Österreich mobilisieren können. In einer Bevölkerung von 7,5 Millionen macht das ganze 0,04 Prozent aus. Und diese 0,04 Prozent wagen es, die ganz Bevölkerung religiös und sexuell zu terrorisieren.

Systematische Provokation von Künstlern, Wissenschaftlern und anderen Gegnern der Pressure-Gruppen durch öffentliche oder private Beschimpfung und Verleumdung sollen das Opfer zu einer Entgegnung veranlassen, auf die der Provokateur mit einer Privatklage wegen angeblich übler Nachrede nach § 111 StGB reagieren kann. Jedes Wort, das das Opfer dann zu seiner Verteidigung sagt, kann wiederum als Anlaß zur nächsten Ehrenbeleidigungsklage verwendet werden, so daß die Prozeßlawine am Ende zur totalen Auspowerung des auserwählten Opfers führt.

Die Provokationen, mit denen das Opfer zur gerichtlich einklagbaren Überreaktion verleitet werden soll, sind von auserwählter Boshaftigkeit. So hieß es in der Flugschrift gegen Hermann Nitsch:

Ich habe es unterlassen, Herrn Nitsch Herman, 2185 Prinzendorf a.d. Zaya, Tel. 02533/380, wegen Verstoßes gegen § 188 StGB anzuzeigen, weil begründet anzunehmen ist, daß dieser Mensch psychisch krank ist, und so nicht schuldhaft handeln kann, demnach eine Strafanzeige mit Sicherheit nach § 90 StPO zurückgelegt werden würde. Wir fordern daher die Staatsanwaltschaft in Graz auf, von amtswegen eine Psychiatrierung des Herrn Nitsch anzuordnen, damit der Künstler sobald als möglich einer psychotherapeutischen Behandlung zugeführt werden kann.

In einer der zahllosen Flugschriften gegen Christian Broda, dessen für Österreich ungewöhnlich fortschrittliche Justizreformen die Pressure-Gruppen natürlich bis zur Weißglut verärgert hatten, hieß es einmal:

Herr Justizminister DDr. Broda!
— Ihre Beantwortung der parlamentarischen Anfrage des Tiroler Abgeordneten zum Nationalrat Dipl. Ing. Dr. Leitner ist eine einzige Frechheit. Warum sich die Abgeordneten eine solche Beantwortung gefallen lassen, weiß ich nicht; ich werde sie fragen. Wäre Österreich ein Rechtsstaat, wären Sie, Herr Bundesminister für Justiz, schon längst Ihres Amtes enthoben und eingesperrt.

Eine Meinungsäußerung der gleichen Leute über bestimmte Polizeibeamte:

Aus reichlicher, persönlicher Erfahrung mit Polizeibeamten möchte ich sagen, daß viele von ihnen sittlich so verkommen sind, daß sie tatsächlich nicht unterscheiden können, was unzüchtig ist, und was dem sittlichen Empfinden des Durchschnittsmenschen entspricht.

Antwortet das Opfer auf derartige Boshaftigkeiten mit einer Replik, so steht ihm sofort eine Privatklage wegen „strafbarer Handlungen gegen die Ehre“ ins Haus. Dabei kommt es überhaupt nicht darauf an, ob eine wirkliche Ehrenbeleidigung vorliegt, denn Privatklagen müssen verhandelt werden und können weder wegen Nichtigkeit noch wegen mangelnder Begründung zurückgelegt werden.

Wenn der Kläger nun nicht einmal sein eigenes Geld, sondern das seiner spendenfreudigen Hintermänner verwendet, und wenn er obendrein jedes Jahr einen Offenbarungseid schwört, so daß er finanziell nicht belangt werden kann, so kann es ihm völlig gleichgültig sein, ob er den Prozeß gewinnt oder verliert. Zahlen tut er sowieso nicht, und wichtig ist seinen Hintermännern vor allem die Zerstörung des Opfers. Ob das nun geschieht, indem das Opfer nervlich oder finanziell aufgerieben wird, kann ihnen gleich sein. Hauptsache, das Opfer wird zum Schweigen gebracht.

Jeder, der zurückschlägt, riskiert ein solches Schicksal. Als die Theaterleute vom Innsbrucker Landhausplatz die ständigen Bedrohungen, Nötigungen, Beschimpfungen und Verleumdungen mit einer kurzen Gegendarstellung in ihrem Theaterprogramm beantworteten, fanden sie sich sofort mit einer kostspieligen Klage wegen angeblich übler Nachrede konfrontiert. Das Theaterprogramm wurde beschlagnahmt. Gegen den Beschluß wurde keine Beschwerde erlaubt. Stolz verkündete der Kläger dann:

Aufgrund unserer hartnäckigen Arbeit wurden die sogenannten Gastspiele der Gruppe eine finanzielle Pleite, so daß die Gruppe Anfang März 1982 zu bestehen aufhörte. Herr Paar, der Chef der ‚Roten Grütze‘ zog sich in einen kleinen Ort nahe der tschechischen Grenze zurück und befindet sich heute in 2276 Reintal 170 (Tel. 02557/5295). Nach unbeschreiblichen Bemühungen hatten wir es geschafft, diese Gruppe zu isolieren.

Die Veröffentlichung einer Privatadresse und einer privaten Telefonnummer ist wieder ein unausgesprochener, aber unverkennbarer Aufruf, das Opfer auch noch per Brief, per Telefon oder gar per Eindringen in seine Wohnung zu terrorisieren. Die offensichtliche, geradezu sinnliche Befriedigung, mit der Menschen dieses Schlages das Leid anderer Menschen, besonders aber das Leid der von ihnen Verfolgten genießen, erlaubt tiefe Einblicke in ihr eigenes Geschlechtsleben. Menschen, die derart zwanghaft von der Lust am Verfolgen und Peinigen ihrer Mitmenschen besessen sind, dürfen nicht überrascht sein, wenn die vorgeblichen Motive der Verfolgung uns nicht als redlich zu überzeugen vermögen. Wer seines eigenen Glaubens so wenig sicher ist, daß er die Werke Andersgläubiger per Strafgesetz verbieten lassen will, der darf auch nicht überrascht sein, wenn die Andersgläubigen an seinem Glauben zweifeln.

„In ganz Österreich gejagt“

Sie drohen allen, die sich weigern, die Befehle der Pressure-Gruppen auszuführen, mit Strafverfolgung, sie nötigen Minister, Beamte, Gerichte, Staatsanwälte, Pfarrer, Schuldirektoren und andere Autoritäten, um sie zum Einschreiten gegen dieses oder jenes Kunstwerk zu zwingen.

So sandte einer der Aktivisten dieser Pressure-Gruppen im Februar 1984 das folgende Telegramm an das Justizministerium, um den Minister zum Einschreiten gegen die Verfilmung von Oskar Panizzas berühmtem, 1894 geschriebenem Stück „Das Liebeskonzil“ zu urgieren:

Habe ... den blasphemischen Film ‚Das Liebeskonzil‘ im Top-Film-Center, 1060 Wien, Rahlgasse, um 22 Uhr (Abendvorstellung) am heutigen Tage, 11.2.1984, besichtigt. Der Film ist eine der abscheulichsten Gotteslästerungen, die ich je gesehen habe. Der Film bildet den Tatbestand im Sinne des § 188 StGB. Fordere nachdrücklichst sofortige Beschlagnahme des Films. Strafverfolgung gegen alle, die die Aufführung des Films in Österreich ermöglichen ... Sollte der Film nicht unverzüglich beschlagnahmt werden, erstatten wir Strafanzeige gegen die Staatsanwaltschaft und organisieren österreichweit eine Unterschriftenaktion in allen Pfarren.

Tatsächlich werden derartige Unterschriftenaktionen regelmäßig mit Hilfe einiger Mitglieder des niederen Klerus organisiert, um nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die höheren Organe der Kirche unter Druck zu setzen.

Regelmäßig werden an die Bürgermeister der Gemeinden, in denen Ausstellungen unliebsamer Künstler oder Aufführungen unliebsamer Stücke stattfinden sollen, Telegramme der folgenden Art verschickt:

An Dr. Humer Franz, Bürgermeister, 4840 Vöcklabruck
An Josef Knoll, Bürgermeister, 4240 Freistadt
Nach § 40 der Gemeindeordnung hat der Bürgermeister für die Öffentliche Sittlichkeit zu sorgen. Rote Grütze verstößt eindeutig gegen die Wertauffassungen der meisten Gemeindebürger von Vöcklabruck und Freistadt. Fordern Aufführungsverbot des Pornospektakels!

Ein anderes Telegramm der gleichen Art:

Wir fordern ein sofortiges Spielverbot, Beschlagnahme aller Textbücher, Strafverfolgung gegen die Schauspielergruppe im Sinne des § 208 StGB, sowie Strafverfolgung gegen alle jene, die Beihilfe im Sinne des § 12 StGB leisteten.

Weigern sich die Autoritäten, den peremptorischen Forderungen, die sich den Anschein offizieller Anordnungen geben, zu folgen, dann folgt die Drohung der Bloßstellung durch Briefkampagnen:

Ich mache kein Hehl daraus, sollte das Druckwerk wider Erwarten nicht beschlagnahmt werden, machen wir eine Aussendung an alle Mitarbeiter, Pfarren und Schulen in Österreich.

An alle Seelsorger und Erzieher in Österreich wurde die folgende „eilige Mitteilung“ versandt:

Die marxistische Theatergruppe Rote Grütze Berlin (Theater am Landhausplatz) ist wieder auf Österreichtournee mit dem Pornotheater ‚Was heißt hier Liebe‘ und ähnlichen Stücken. Wir erstatten gegen jeden Anzeige, der diese Jugendverführung fördert! Wenn Sie irgendwo eine Ankündigung der Theatergruppe Rote Grütze sehen, rufen Sie (folgt eine Telefonnummer) oder schreiben Sie (folgt eine Adresse)!

Eine andere Aussendung in der gleichen Sache lautete:

Laßt die Kinder nicht verführen! Sogenannte Schauspieler, linke Aktivisten aus Deutschland, ziehen in Österreich von Ort zu Ort und spielen vor Kindern und Jugendlichen das Aufklärungsstück ‚Was heißt hier Liebe?‘ ... Der einzige Zweck dieses Stückes ist es, Kinder und Jugendliche zur sexuellen Freizügigkeit anzuregen. In diesem ‚Aufklärungsstück‘ wird jede Autorität in Frage gestellt, die Lust zum Selbstzweck und Prinzip erklärt, eine persönliche Hingabe ist nur etwas für Beschränkte und eine höhere Orientierung der Geschlechtskraft wird als triebfeindlich abgetan. Obwohl die Schauspielgruppe ‚Rote Grütze Berlin‘ eindeutig gegen § 208 des österreichischen Strafgesetzes verstößt, zögerten bisher die Staatsanwaltschaften, gegen sie einzuschreiten. Wir rufen alle Priester und Schuldirektoren zur Selbsthilfe auf: Verhindern Sie die Aufführung dieses Stückes in Ihrer Pfarre bzw. in Ihrem Schulsprengel! Verbieten Sie dem Klassenlehrer, Kinder zu solchen Aufführungen zu begleiten! Verständigen Sie sofort die zuständige Bezirkshauptmannschaft!

An den Bürgermeister von St. Veit an der Glan und den Leiter des dortigen Bundesgymnasiums erging folgendes Schreiben:

Sehr geehrte Herren! Gestern, 22. April 1981, erhielten wir mehrere Anrufe von besorgten Eltern aus St. Veit/Glan und auch aus Klagenfurt. Es hieß, die Theatergruppe ‚Rote Grütze Berlin‘ sei von der Obrigkeit der Stadt, von einigen Lehrern und vor allem vom Gewerkschaftsbund St. Veit an der Glan zur 850-Jahr-Feier eingeladen worden ... Meine Herren, ich glaube ohne Übertreibung sagen zu dürfen, daß so ein Stück sicher nicht in den Rahmen einer Jahresfeier paßt ... Auch werden wir jeden anzeigen, der die Kinder mit diesem Pornospektakel belastet.

Stolz verkündete der Sprecher dieser Pressure-Gruppe am Ende der Hetzjagd:

Wir haben die Innsbrucker Pornospieler in ganz Österreich gejagt. Versuchten sie irgendwo aufzutreten, erhielten wir schon die Anrufe von unseren Mitarbeitern, und noch am selben Tage schickten wir an einen ausgewählten Kreis von Ortsbewohnern unsere Informationen. Dadurch erreichten wir viele Spielverbote. Es war eine ungeheure Arbeit.

Zwar verkünden diese Leute immer wieder, sie seien keine Terroristen und übten niemals Gewalt aus. Aber sie rufen so lange zu „Aktionen“ auf, bis einer der Angesprochenen das tun mag, wovon die Rädelsführer nur reden. Man erinnere sich an die Ermordung des fälschlich als Pornographen angegriffenen, als Jude und Freimaurer bezichtigten Schriftstellers Hugo Bettauer im März 1925 durch einen jungen Pornojäger, der die Jagdanleitungen seiner Oberen ein wenig zu wörtlich genommen hatte.

In Panik vor ...

Es ist ein Kennzeichen der Kampagnen gegen Schriftsteller, Schauspieler, Maler, Wissenschaftler und andere schöpferische Menschen, daß die Rädelsführer überall Feinde sehen, ohne sich je darüber klar zu werden, daß sie die Feindschaft der anderen durch ihr eigenes Verhalten erzeugen.

Ihnen will nicht eingehen, daß der Künstler gar nicht anders kann, als sie zu hassen, weil sie Kunst hassen. Ihr ewiger Versuch, Inhalte zu deuten, ohne Formen zu würdigen, enthüllt die schreckliche Laienhaftigkeit ihres Denkens.

Ihre Wahnvorstellung, sie verstünden etwas von dem, was sie anprangern, enthüllt sich in den folgenden zwei Beispielen:

Das Stück ‚Stigma‘ ist dramatisch betrachtet völlig bedeutungslos. Das haben die oben erwähnten Wissenschaftler, falls es sie überhaupt gibt, sicher auch persönlich festgestellt. Dramaturgie ist Handlungskunst. Von einem kunstvollen Ineinandergreifen der Handlungen kann keine Rede sein. Dummheiten sind nicht strafbar, wenn sie sich in Grenzen halten. Ein miserables Theaterstück ist daher auch kein strafbarer Tatbestand. Im Passionsspiel ‚Stigma‘ aber artet die Dummheit zu frechen Beleidigungen aus.

Stilelemente solcher Art mögen Psychopathen, Narren oder Halbnarren gut finden. Vielleicht finden sexuelle Perverse Gefallen an solcher Kunst. Wir aber verbieten uns, daß für eine solche Subkultur öffentliche Gelder verpulvert und unsere Fernseheinrichtungen mißbraucht werden!

Die Überzeugung aller freien Menschen, Kunst müsse frei sein, leuchtet diesen Leuten nicht ein, weil sie sich weder unter Kunst noch unter Freiheit etwas Positives vorstellen können.

Das Gezeter und Gejammer der Presse über die ‚Freiheit der Kunst‘ ist dermaßen dumm und zuwider, daß sich alle gesitteten Leute fragen, was ist das für eine verkommene Freiheit, in der es möglich sein darf, die Mitmenschen zu beleidigen, ihre Überzeugungen herabzusetzen und sogar ihre religiösen Überzeugungen und Empfindungen zu verletzen.

Oder:

So etwas soll Kunst sein? Für den durchschnittlichen Österreicher ist dieses Machwerk eine Ausgeburt eines Psychopathen und eine große Beleidigung der Person Jesus Christus, den rund 80 Prozent der Österreicher für den Sohn Gottes halten.

Wenn irgendwo in Österreich die Maul- und Klauenseuche ausbricht, schränken die Behörden das Grundrecht ‚Freizügigkeit der Person‘ ein, damit die Krankheit nicht verschleppt werden kann. ‚Freiheit der Kunst‘ ist ein anderes wichtiges Grundrecht, das aber eingeschränkt werden muß, sobald eine Subkultur wie das Theaterstück ‚Was heißt hier Liebe‘ auf die Kinder losgelassen werden soll.

... dem souveränen Bürger

Da ihnen Kunst ebenso fremd ist wie Freiheit, sind sie nicht fähig, das Selbstverständliche anzuerkennen: daß Freiheit der Kunst stets die Freiheit des Staatsbürgers einbeziehen muß, sich entweder ein eigenes Urteil über ein Kunstwerk zu bilden, oder das Kunstwerk zu ignorieren. Die Pressure-Gruppen leben in Panik vor dem souveränen Bürger, der eine solche Entscheidung selbständig zu treffen vermag, denn er macht ihre Tätigkeiten unnötig und enthüllt ihre Motive als schiere Anmaßung. Er macht ihnen und allen anderen klar, daß sie ihn zu bevormunden versuchen. Daß sie die Menschenwürde verachten, statt sie zu schützen. Daß sie die Gesetze mißbrauchen, statt sie zu ehren. Daß sie die Wortlaute der Gesetze zitieren und deren Inhalte in ihr Gegenteil verkehren.

Die Pressure-Gruppen verstehen es ganz vorzüglich, die Bürgermeister, Bezirkshauptmänner und Landesfürsten juristisch gegen die Bundesregierung auszuspielen. Sie weisen die Bürgermeister auf ihr „Recht“ hin, örtliche Verbote von Ausstellungen und Aufführungen auszusprechen. Sie vertrauen darauf, daß Berufungen gegen solche Verbote meist zu spät kommen. Und sie weisen die Bürgermeister heimtückisch darauf hin, daß der Künstler meist keinen Schadenersatz gegen eine Untersagung bei der Gemeinde geltend machen kann.

Sie kennen sich auch vorzüglich in jenen Landesgesetzen aus, die den Landesfürsten eine gewisse Autonomie gegenüber dem Bund und den Gesetzen der Republik verleihen. Obwohl im Bundesverfassungsgesetz bekanntlich festgelegt ist, daß die Zensur dem Grundrecht des Staatsbürgers widerspricht, haben manche Länder sich doch noch ein Zensurrecht in der Landesverfassung vorbehalten — so zum Beispiel Vorarlberg, das sich ausbedingt, Lichtspiele zu verbieten, die „das sittliche oder das religiöse Empfinden verletzen“.

Josef Handl, Sekretär des Fachverbandes der Lichtspieltheater, sagt dazu: „Theoretisch könnte ein Antrag auf Verfassungswidrigkeit beim Verfassungsgerichtshof gestellt werden. Praktisch aber gibt es keinen formellen Weg dazu, weil es sich um eine Verordnung handelt.“

Ähnlich ist die Situation in Tirol. § 25 des Tiroler Veranstaltungsgesetzes (Gesetz vom 28. Juni 1958, LGBl. 27/58) sagt: „Veranstaltungen, die das Ansehen eines Berufsstandes herabsetzen, das sittliche, religiöse oder vaterländische Empfinden verletzen oder verrohen oder sittenschädigend wirken“ sind verboten.

Als das Bühnenstück „Was heißt hier Liebe“ anstandslos und mit großem Beifall in Tirol lief, richtete eine der Pressure-Gruppen eine Beschwerde wegen Verfassungsbruchs an den Tiroler Verfassungsdienst und die Abgeordneten zum Tiroler Landtag. Den Ärger der Gruppe hatte der Landeshauptmann-Stellvertreter, Kulturreferent und Vorsitzende des Theaterausschusses, Dr. Fritz Prior, erregt, weil er sich standhaft geweigert hatte, dem Druck der Mikrominderheiten nachzugeben und das Stück zu verbieten. In einer ihrer Aussendungen schrieb die Gruppe:

Dr. Prior ist ein leitender Beamter der Tiroler Landesregierung und bekommt monatlich S 82.152,— (14 mal). Es ist zu bedauern, wenn tausende Briefe notwendig sind, Herrn Dr. Prior an seine Pflicht und an den Wahlauftrag zu erinnern. Dr. Prior möge sich eine private Firma suchen, deren Chef es ihm gestattet, solange gegen das eigene Unternehmen zu wirtschaften. Wir fordern die Absetzung des Dr. Prior als Kulturreferenten.

Als Dr. Prior sich obendrein bereit erklärte, die Theatergruppe durch einen Zuschuß zu subsidieren, forderte die Pressure-Gruppe den Tiroler Verfassungsdienst auf, ihn wegen Verfassungsbruchs zu verurteilen, da er ein „Pornotheater“ mit Landesmitteln gefördert habe. Außerdem solle er den gezahlten Zuschuß aus eigener Tasche an das Land Tirol zurückerstatten. Der Klage wurde die übliche, immer wieder bei diesen Gruppen auftauchende Drohung hinzugefügt: „Wir behalten uns eine Strafanzeige wegen Mißbrauchs der Amtsgewalt vor.“

Diese Methode, einen ausgewählten Vertreter der Bundes- oder Landesregierung, der Gemeinde oder der zuständigen Institution unter Druck zu setzen, indem man ihn eines Vergehens beschuldigt, kann bei schwachen Menschen recht erfolgreich sein, da es natürlich sehr viel weniger zeit- und nervenraubend ist, dem verlangten Verbot zuzustimmen, als sich in eine langwierige Gerichtsverhandlung verwickeln zu lassen.

Außer mit Klagen wegen Mißbrauchs der Amtsgewalt durch Duldung strafbarer Tatbestände nach § 302 StGB arbeiten die Pressure-Gruppen hauptsächlich mit Klagen wegen Begünstigung nach § 299 StGB, wegen Beihilfe nach § 12 StGB und wegen Unterlassung der Verhinderung einer mit Strafe bedrohten Handlung nach § 286 StGB.

Als Felix Mitterers Passionsspiel „Stigma“ vor zwei Jahren von einer dieser Pressure-Gruppen angegriffen wurde, wurde nicht nur der Autor wegen angeblichen Verstoßes gegen § 188 StGB (Herabwürdigung religiöser Lehren) verklagt, sondern es wurden gleichzeitig Strafanzeigen gegen den Bürgermeister, den Vizebürgermeister und den Kulturreferenten der Gemeinde Telfs, sowie den Bezirkshauptmann-Stellvertreter von Innsbruck-Land wegen Beihilfe und Mißbrauchs der Amtsgewalt erhoben. Der Zweck war der, die Beamten durch Strafandrohung dazu zu bewegen, sich mit den Klägern gegen den Beklagten zu verbünden.

Als „Stigma“ am 12. Oktober 1982 vom ORF in FS 1 ausgestrahlt wurde, verklagte die gleiche Pressure-Gruppe nicht nur den ORF wegen angeblicher Verletzung des Rundfunkgesetzes, sondern erstattete auch Strafanzeige gegen den verantwortlichen Programmintendanten persönlich, um ihn dazu zu bewegen, lieber die Ausstrahlung zu untersagen, als persönlich angeklagt zu werden. Für den Fall, daß er sich weigere, dem Willen der Gruppe nachzugeben, wurde dem Intendanten auch noch angedroht, ihn nach § 8 (1) Ziff. 3 des Rundfunkgesetzes absetzen zu lassen.

Als der ORF einen hohen Beamten der Tiroler Landesregierung, einen Vertreter des Landesschulrates Tirol, einen vom Bischöflichen Ordinat entsandten Universitätsprofessor, einen wissenschaftlichen Vertreter des Institutes für Germanistik der Universität Innsbruck und den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Gutachter nannte, die das Stück keineswegs gotteslästerlich oder obszön fanden, drohte die Pressure-Gruppe, auch diese Gutachter als „Strafnebentäter“ anzuzeigen und zwar wegen Beihilfe und (soweit es sich um Amtspersonen handelte) wegen Mißbrauchs der Amtsgewalt.

Als Hermann Nitsch vor drei Jahren im Kulturhaus der Stadt Graz eine umfangreiche Ausstellung präsentierte und weder die Staatsanwaltschaft noch der Bürgermeister noch der Leiter des Kulturhauses bereit war, dem Drängen der organisierten Mikrominderheiten auf Schließung der Ausstellung nachzugeben, zeigten sie nicht etwa ihn an, sondern den Bürgermeister und den Leiter des Kulturhauses — und zwar wegen Unterlassung der Verhinderung einer mit Strafe bedrohten Handlung, und außerdem den Ersten Leitenden Staatsanwalt wegen Begünstigung und Mißbrauchs der Amtsgewalt.

Keineswegs ist der scheinbar so widersinnige Versuch, ehrenhafte Leute gerade wegen ihrer Ehrenhaftigkeit (und standhafte Leute gerade wegen ihrer Standhaftigkeit) strafrechtlich belangen zu wollen, immer erfolglos. Das österreichische Recht und die österreichischen Richter tendieren zu formaljuristischen Entscheidungen „wertfreier“ Art. Das heißt: Der eigentliche menschliche Wert, den das Gesetz schützen will, geht zugunsten der wörtlichen Erfüllung des Gesetzesparagraphen verloren. Die Gefahr, von einer dieser Pressure-Gruppen um seine Existenz gebracht zu werden, ist also selbst für hohe Staatsdiener nicht von der Hand zu weisen.

Als Staatsanwalt Dr. Olscher in Wien sich mit Recht weigerte, den Film „Das Liebeskonzil“ wegen angeblicher Gotteslästerung zu verbieten, erhob eine dieser organisierten Mikrominderheiten Strafanzeige gegen ihn wegen angeblichen Mißbrauchs der Amtsgewalt, Beihilfe zur Herabwürdigung religiöser Lehren und Begünstigung des Filmverleihers. In einer namentlich gezeichneten, öffentlichen (und leider nie von der Staatsanwaltschaft inkriminierten) Aussendung schrieb der Sprecher dieser Gruppe:

Die volle Verantwortung trägt der Erste Leitende Staatsanwalt Dr. Olscher, den ich öffentlich als Verräter bezeichne. Wir fordern, daß dieser verräterische Staatsanwalt Dr. Olscher, der offensichtlich jedes Empfinden verloren hat, was sich gehört, auf die Straße gesetzt wird, damit er sich dann einen Dienstgeber suchen kann, der es ihm gestattet, ihn so um seine Rechte zu betrügen, wie er das im gegenständlichen Falle als Staatsanwalt mit dem österreichischen Volke praktizierte.

Klinische Fälle

Gegen viele andere Staatsanwälte, Richter, Rechtsanwälte und Beamte, die nicht willens waren, sich dem Diktat solcher Sekten zu beugen, haben deren Sprecher Beleidigungen im gleichen Tonfall gerichtet. Nur wenige der Beleidigten und Verleumdeten haben geantwortet. Dabei gingen sie von der berechtigten Annahme aus, daß Gegenklagen gegen diese Leute nur deren Eitelkeit, Publizitätssucht, Menschenverachtung und Demokratiefeindschaft fördern würden.

Ich halte diese Logik für richtig und betrachte die daraus gezogenen Schlüsse trotzdem für falsch. Denn man schafft ein Übel nicht ab, indem man vorgibt, es nicht zu sehen. Der Widerstand gegen gut organisierte Pressure-Gruppen fordert von dem isolierten Opfer allerdings viel Kraft, viel Zeit und viel Geld. Ich habe das am eigenen Leibe erfahren, denn als diese Leute im Jahre 1981 aus heiterem Himmel (ich war keinem von ihnen je begegnet) an den damaligen Rektor meiner Universität einen in vielen Tausenden von Exemplaren verteilten offenen Brief sandten und ihn aufforderten, mich zu entlassen, da ich angeblich weder Matura noch Hochschulstudium besäße und meine Titel offensichtlich erschwindelt seien, ging ich zum Rechtsanwalt, um sie zu verklagen. Und als mein Rechtsanwalt mir von einer Klage abriet, da ich von diesen angeblich mittellosen Verleumdern sowieso nie eine Entschädigung erhalten würde, rief ich öffentlich zum Widerstand gegen sie auf — und wurde prompt meinerseits wegen angeblicher Ehrenbeleidigung von ihnen verklagt.

Diese Leute haben mir keineswegs vorgeworfen, wie sie das üblicherweise bei den von ihnen Beklagten tun, ich hätte irgendetwas veröffentlicht, das obszön oder gotteslästerlich sei — nein, ich wurde angegriffen, nur weil ich einen Beruf ausübe, der diesen Leuten nicht geheuer ist: Ich bin Sexualwissenschaftler. Ich beschäftige mich berufsmäßig und rational mit einer Materie, die diese Leute zwanghaft beherrscht. Menschen, deren Leben sich nur noch um Pornographie und deren Verhinderung dreht, sind für uns klinische Fälle. Wir durchschauen sie, und das ist ihnen unheimlich.

Andererseits sagt es schon etwas über die politische Trendwende aus, wenn jemand nur wegen seines Berufes fürchten muß, sein ganzes Leben lang in einen kostspieligen Gerichtsprozeß nach dem anderen verwickelt zu werden. Da bleibt von der verfassungsmäßig garantierten Freiheit der Berufsausübung nicht mehr viel übrig.

Es laufen bereits fünf Prozesse dieser Leute gegen mich, von denen ich den ersten in zwei Instanzen gewonnen habe. Das hat mir aber nicht viel genützt, denn da der Gegner sich ja als mittellos ausgibt, kann ich nicht einmal meine Rechtsanwaltskosten von ihm zurückbekommen — von meiner verlorenenen Zeit und meinem verlorenen Einkommen ganz zu schweigen.

Da meine Gegner nichts zu verlieren haben und offensichtlich über unbegrenzte Geldmittel verfügen, kann es ihnen durchaus gelingen, mich in den Bankrott zu treiben. Das scheint der Zweck der Sache zu sein. Ich bin trotzdem nicht willens, mich zu beugen, und hoffe, daß auch andere die gleiche Unbeirrbarkeit zeigen werden.

„Berechtigtes“ Ärgernis?

Obgleich ich die negative Wirkung bestimmter Horrorfilme und bestimmter sadistischer Videobänder keineswegs beschönigen will, scheint es mir unverzeihlich, die Pornographiegesetze gegen schöpferische Menschen zu mobilisieren. Jeder Versuch, Kunstwerke nach ihrem sogenannten „Inhalt“ zu beurteilen und sowohl die Form wie den künstlerischen Zweck unerwähnt zu lassen, sollte von den Gerichten abgewiesen werden.

Ähnlich steht es mit dem Versuch, Kunstwerke zu zensieren, weil sie von unkünstlerischen Menschen als gotteslästerlich empfunden werden. Wenn ein gläubiger Künstler unter der Oberflächlichkeit mancher Sonntagschristen leidet und die Scheinheiligkeit mancher Rituale in einem Kunstwerk anprangert, dann darf man das nicht als Herabwürdigung religiöser Lehren bestrafen — auch dann nicht, wenn es bei manchen Kirchgängern „Ärgernis“ erregt, weil sie nicht zwischen Kunst und Herabwürdigung zu unterscheiden vermögen und den Zweck des Werkes, ein besseres Christentum herbeizuführen, nicht erkennen können. Das Gesetz stellt ausdrücklich auf „berechtigtes“ Argernis ab. Ein „Ärgernis“, das mangelndem Verständnis entspringt, kann aber nicht als berechtigt gelten.

Selbst wenn wir uns des Argumentes halber den Vorstellungen der Verständnislosen anschließen und einen Augenblick lang vorgeben, Werke von Nitsch oder Kolig, Stücke wie „Stigma“ oder „Was heißt hier Liebe“, Filme wie „Das Liebeskonzil“ oder „Das Gespenst“ übten negative Wirkungen aus, dann wären diese Wirkungen nach allen humanen Maßstäben immer noch sehr viel weniger schädlich als die gehässige, rachsüchtige, menschenfeindliche Verfolgung durch Drohungen, Bloßstellungen, Beschimpfungen und Verleumdungen, durch Psycho- und Telephonterror, durch böswillige Strafanzeigen und durch nervenzerreibende, finanziell zerstörerische Gerichtsprozesse.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1985
, Seite 25
Autor/inn/en:

Ernest Borneman:

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