FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1988 » No. 415/416
Alfred J. Noll

In die Schlangengrube

Wie die EG unsere Verfassung abschafft

Allüberall wird geeifert: Ministerialbeamte durchforsten auf Weisung übergeordneter Dienststellen das österreichische Recht auf seine EG-Verträglichkeit, kleinere und größere Geister des in Österreich ohnedies aufs Parteipolitische verkürzten Öffentlichen Lebens mahnen unentwegt zum raschen Beitritt; die Mehrzahl der Zeitungen sieht Österreich bei nicht baldigem Anschluß an den „Markt der 320 Millionen“ schon als „Wirtschaftsprovinz“, „definitives technologisches Entwieklungsland“.

Lassen wir einmal unberücksichtigt, was sich in den diversen Predigten an Orientierungslosigkeit, Opportunismus und Spekulation vereinigt — staunens- und auch festhaltenswert ist die Rolle der Rechtswissenschaft innerhalb dieses Prozesses der beabsichtigten Aufgabe österreichischer Eigenstaatlichkeit. Die Jurisprudenz und die Juristen, also jene im 19. Jahrhundert entwickelte Hilfswissenschaft des sieg- und weitgehend ideologielosen Bürgertums im deutschsprachigen Raum und deren mit der Rettung des Staatsschiffes betrauten Vertreter, sind ganz in den Sog des „Anschlußsyndroms“ (Erwin Lanc) geraten und treiben — ohne ihre auch vormals nur schwach ausgeprägte Fähigkeit zur Kurskorrektur bewahrt zu haben — stracks in die Tiefe. „Tiefe“ bezieht sich hier natürlich nicht, wie einige vorschnelle Leser annehmen könnten, auf das geistige Niveau der im Rahmen der Auseinandersetzung um die völker- und verfassungsrechtliche Statthaftigkeit eines Anschlusses Österreichs an die EG abgegebenen Stellungnahmen. Just das Gegenteil ist der Fall: Ganz unvermutet erheben professorale Juristen wirtschaftspolitische Spekulationen in den Rang verfassungsrechtlicher Prämissen, bekommen so ausschnittweise die — freilich meist unbegriffene — Realität des gesellschaftlichen und internationalen Lebens ins Blickfeld und verausgaben sich (wenn sie für gutächterliche Tätigkeit entsprechend belohnt werden) auch noch in der Entwicklung völkerrechtlicher Konstruktionen. Das bietet insgesamt das Bild eines „Abschieds von Hans Kelsen“ — ein Roman, der mit dem Untertitel „Politisierung des Rechts“ freilich erst noch zu verfassen wäre.

Man könnte sich die Sache einfach machen und am selben Strick, wenn auch in entgegengesetzte Richtung, ziehen. So falsch wäre das vielleicht gar nicht: Das geltende Völker- und Verfassungsrecht unter den Leitstern des jeweils als politisch für richtig Erachteten stellen — und vielleicht gäb’s das dann wirklich! — (rechts-)politisch diskutieren, so wie das seinerzeit vom aufstrebenden Bürgertum mit den Postulaten Meinungsfreiheit, Öffentlichkeit etc. wohl auch gedacht und beabsichtigt war. Nur, wie es scheint, spielt es das nicht. Ministerielle Geheimniskrämerei, mediale Propaganda und der — Habermas paraphrasierend — eigentümliche Zwang des nicht vorhandenen Arguments, auf den zur Vermeidung öffentlicher Auseinandersetzungen immer noch Verlaß ist, lassen bürgerliche Utopien des 19. Jahrhunderts immer noch als erstrebenswert und eben keineswegs als schon abgetan erscheinen.

Verzichten wir also — weil es den Zustand entwickelter bürgerlicher Öffentlichkeit in Österreich noch nicht gibt — auf eine politische Diskussion (freilich nur bis zum Ende dieses Beitrages) und schwingen wir uns auf die Ebene rechtlicher Argumentation, d.h. zunächst einmal: lesen wir die Gesetze!

1. Neutralität und Beitritt zur EG

Das Bundesvertassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs (BGBl. 1955/211) besagt, und verpflichtet damit auch zwingend alle Staatsorgane, in seinem Art. I: „Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrecht erhalten und verteidigen.“ Abs. 1

Das scheint einfach zu verstehen und kaum des Streites wert. Abs. 2 setzt fort: „Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinem militärischen Bündnis beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet nicht zulassen.“

Das ist vorerst alles: „Österreich hat keine anderen Neutralitätspflichten übernommen als jene, die im obengenannten Verfassungsgesetz bereits ausdrücklich (explicite), teils einschlußweise (implicite) niedergelegt sind ... Insbesondere haben die Großmächte anerkannt, daß es eine sinngetreue und erschöpfende Erfüllung der im Moskauer Memorandum vom 15. April 1955 von unserer Bundesregierung übernommenen Neutralitätspflichten bildet“, wie der Altmeister der österreichischen Völkerrechtslehre Alfred Verdross schrieb (Die immerwährende Neutralität Österreichs2, 1980, 34).

Neben den „klassischen“ Pflichten des dauernd Neutralen (unparteiisches Verhalten gegenüber den Krieg führenden Parteien etc.) war auch damals schon klar, daß „Österreich jeweils sorgfältig zu prüfen haben (wird), welche Politik der Rechtspflicht zur Wahrung seiner militärischen Neutralität am besten entspricht und vor allem bei Abschluß von Verträgen oder beim Beitritt zu internationalen Organisationen zu erwägen haben (wird), ob und insoweit ein solcher Akt die ‚Unabhängigkeit nach außen‘ und die ‚Unverletzlichkeit seines Gebietes‘, deren Behauptung die Neutralität dienen soll, gefährden oder beeinträchtigen könnte“, wie etwa im Jahre 1957 der Verfassungsrechtler Hans Spanner notierte (Adamovich — Spanner, Handbuch des Österreichischen Verfassungsrechts, 1957, 73). Und spätestens seit dem einflußreichen Aufsatz von Zemanek über „Wirtschaftliche Neutralität“ (Juristische Blätter 1959, 249) setzte sich als herrschende Lehre in der österreichischen Völkerrechtswissenschaft durch, daß es auch sogenannte „Vorleistungspflichten“ für den dauernd Neutralen gäbe, d.h. daß er bereits in Friedenszeiten gehalten ist, keine Verpflichtungen einzugehen, die geeignet wären, ihn direkt oder indirekt in einen künftigen Krieg zu verwickeln oder von vornherein parteiisch machen würde.

„Aus diesem Grund darf der dauernd Neutrale keine Allianzverträge (nicht einmal Defensivallianzen!) schließen, aber auch keine solchen wirtschaftlichen Verträge, die ihn zur wirtschaftlichen Basis der Kriegsführung anderer Staaten machen könnten“, lautet deshalb die Zusammenfassung etwa beim Linzer Professor für Völkerrecht Heribert Franz Köck (Ist ein EWG-Beitritt Österreichs zulässig?, 1987, 17). Einen Beitritt Österreichs zur EG erachtet die herrschende Lehre in der Völkerrechtswissenschaft schon deshalb für unzulässig. Wenn nämlich beispielsweise der Ministerrat der EG in einem bewaffneten Konflikt, an dem seine Mitgliedstaaten beteiligt oder auch nicht beteiligt sind, einseitige Ausfuhr- oder Einfuhrverbote erlassen würde, müßte sich Österreich fügen, falls es Vollmitglied wäre — und so seine Neutralitätspflicht verletzen, die ja eine Gleichbehandlung der kriegsführenden Parteien normiert.

Weil nun — wie oben nochmals nachgelesen werden mag — die dauernde Neutralität Österreichs die Behauptung der Unabhängigkeit zum Ziel hat, also eine zweckgebundene Neutralität ist; und diese Unabhängigkeit mit jeder Form der Integration, „die einen so weitgehenden Souveränitätsabbau in sich schließt, daß der betreffende Staat im politischen oder wirtschaftlichen Bereich rechtlich oder faktisch nicht mehr allein über seine Lebensfragen entscheiden kann, unvereinbar (ist)“ (edb. 19), ist ein EG-Beitritt Österreichs verboten.

Diese recht einfache und im Ergebnis doch eindeutige Rechtslage dürfte nun auch der Vereinigung Österreichischer Industrieller zu Ohren gekommen sein. Einem „vitalen Interesse“ der österreichischen Industrie folgend, gab sie an die Professoren Waldemar Hummer (Innsbruck) und Michael Schweitzer (Passau) den Auftrag, „die neutralitätsrechtlichen Aspekte der Verdichtung der Beziehung Österreichs zu den EG auszuarbeiten“, wie die Herren Beuerle und Krejci die vor den Gelehrten liegende Aufgabe bezeichneten. Und die Gelehrten entsprachen in ganz unerhörtem Maße: „Insgesamt zeigt sich ..., daß einem Beitritt zur EWG neutralitätsrechtlich nichts im Wege steht“, fassen sie unter dem Titel „Österreich und die EWG“ in den „Wirtschaftsanalysen“ (Hrsg. DIE ERSTE, 2/1987, 20) ihr Gutachten zusammen.

Nun läßt sich kaum leugnen, daß in dem Gutachten (erschienen im Signum-Verlag, Wien 1987) vieles enthalten ist, was richtig ist — in summa scheinen die beiden Autoren freilich die Empfehlung des ehemaligen Außenministers Tonćić-Sorinj (ÖVP) vorweggenommen zu haben, welcher in den „Österreichischen Monatsheften“ (5/1987, 12) längst meinte, „die für einen immerwährend neutralen Staat sehr wichtigen Völkerrechtsbelange sind nicht letzten Endes entscheidend ... Alles ist erreichbar, wenn man es will.“ — Es geht eben nichts über präzise Vorgaben des Auftraggebers!

Die Funktion des Kaninchens, das — jugendliches Publikum vorausgesetzt — da ganz unvermutet aus dem Zylinder gezogen wird, nimmt bei Hummer und Schweitzer der sogenannte Neutralitätsvorbehalt ein: Man brauche, so legen die Autoren des Industriellen-Gutachtens nahe, den in der EG zusammengeschlossenen Staaten lediglich zu erklären, „daß bei der Abstimmung im Rat die Berufung Österreichs auf sehr wichtige Interessen mit der Begründung, dies zur Einhaltung neutralitätsrechtlich zwingend vorgeschriebener Pflichten zu tun, nicht als Obstruktion eingestuft werden kann“ und „daß die Beachtung der neutralitätsrechtlich zwingend vorgeschriebenen Pflichten kein Mißbrauch i.S.v. Art. 225 Abs. 2 EWGV sein kann“. (Hummer/Schweitzer, Österreich und die EWG, 1987, 306)

Wie beim Kaninchentrick, so handelt es sich auch hier um eine den Zuschauern vermittelte Illusion, denn letztlich entscheidet darüber, ob eine derartige Berufung zu Recht erfolgt, also keinen Mißbrauch der Vorbehaltsklausel im Sinne des EWG-Vertrages darstellt, der Europäische Gerichtshof (EuGH) — und der ist das mit Abstand integrationsfreundlichste Organ der EG!

Die Schwächen dieser gerade in Juristenkreisen nur mangelnde Überzeugungskraft erheischenden Konstruktion wurden freilich neuerdings durch eine Theorie zu beseitigen versucht, die die gängigen Kunst- und Zauberstückchen der Jurisprudenz in den Schatten zu stellen geeignet scheint: Sollte der EuGH in einem solchen Konfliktfall „gegen“ Österreich entscheiden, Österreichs Berufung auf seine Neutralität als Mißbrauch bewerten, dann — so angeblich Stefan Griller in seiner eben fertiggestellten Habilitationsschrift — könne sich Österreich auf die ultra vires-Lehre berufen, derzufolge der EuGH (grobgesprochen) bei einer solchen Entscheidung über Österreichs Neutralität seine Kompetenzen überschritten hätte und ein solches Erkenntnis daher als nichtig, als rechtliches nullum anzusehen sei. Die US-Regierung wird sich mit ihrer Mißachtung des Internationalen Gerichtshofes in Sachen Nicaragua (das die USA verurteilende Erkenntnis ist in der Frankfurter Rundschau vom 2., 4.8.1986 nachzulesen), die BRD in ihrer Ignoranz gegenüber der Internationalen Arbeitsorganisation durch die in Aussicht gestellte Mißachtung der EuGH-Entscheidungen durch Österreich trefflich verstanden wissen.

2. Verfassungsprinzipien und EG-Beitritt

Nur weil der Beitritt verboten ist, wird er nicht weniger wahrscheinlich. Und offensichtlich befinden wir uns auch nicht im Bereich des Strafrechts, wo es nach § 15 Strafgesetzbuch möglich wäre, die Handlungen, die der Ausführung (Beitritt) unmittelbar vorangehen (Ansuchen, Absichtserklärung), gehörig zu pönalisieren. Man könnte sich freilich überlegen, ob nicht die jetzige Entwicklung genug Anlaß wäre, den seit 68 Jahren friedlich schlummernden Art. 145 B-VG aus dem Schlaf zu wecken: der Verfassungsgerichtshof könnte dann über Verletzungen des Völkerrechts erkennen, wozu er bis heute mangels eines besonderen Bundesgesetzes noch nicht berufen ist.

Und weil die Bereitschaft der internationalen Staatenwelt — insbesondere seitdem sich der „russische Bär“ in einen Joint ventures verheißenden und insgesamt doch recht friedlichen Nachbarn verwandelt —, ein völkerrechtswidriges Verhalten Österreichs entsprechend zu beantworten, gering sein dürfte, bleibt einer zunächst lediglich die Rechtsnormen als Gegenstand ihrer Erkenntnis auffassenden Rechtswissenschaft bloß die Aufgabe einer Verfassungsschadensminimierung; das folgende möge unter diesem Lichte gelesen werden:

Unsere Verfassung sieht im Art. 44 Abs. 3 B-VG vor, daß „jede Gesamtänderung der Bundesverfassung ... einer Abstimmung des gesamten Bundesvolkes zu unterziehen (ist)“. Was eine „Gesamtänderung“ ist, sagt die Verfassung nicht — und so ist Raum genug für Verfassungsinterpreten jeglichen Ranges, um die „leitenden Grundsätze“ der Bundesverfassung herauszulesen. Üblicherweise stößt die Verfassungsrechtslehre zumindest auf drei solcher Leitsätze: das demokratische, das rechtsstaatliche und das bundesstaatliche Prinzip; je politischer und inhaltsreicher der Verfassungsinterpret die Verfassung sehen mag, desto mehr Prinzipien kommen ihm in den Blick. Ermacora (Österreichische Verfassungslehre, 1970, 58) sichtete ihrer schon acht (Prinzip der Kontinuität der österreichischen Rechtsordnung, Prinzip des Anschlußverbots, republikanisches Prinzip, das rechts- und sozialstaatliche Prinzip, die formelle Trennung von Kirche und Staat, das Neutralitätsprinzip, demokratisches Prinzip).

Läßt man — das ist für unsere Absicht legtim — zunächst einmal die idealistisch-induktive Konstruktion und die damit verbundenen nur ideologisch begründeten Überhöhungen gewisser Verfassungswerte beiseite und nimmt die weitgehend anerkannte Prinzipiendreieinigkeit von demokratischem, rechtsstaatlichem und bundesstaatlichem Prinzip als Meßlatte der verfassungsrechtlichen Beurteilung eines EG-Beitritts, dann kommt man zu folgendem Schluß: Will die österreichische Regierung nicht wieder in den verfassungsrechtlichen Sumpf der Jahre 1934 ff. versinken, dann wird sie das österreichische Volk befragen müssen, ob es eine — gleich weiter unten näher skizzierte — Gesamtänderung unserer Verfassung haben will.

a) demokratisch?

„Art. 1 B-VG erklärt bekanntlich, daß Österreich eine demokratische Republik ist (Abs. 1) und „ihr Recht“ (!) vom Volk ausgeht (Abs. 2). Diese Formel — die, fast egal an welcher politischen Vorstellung man sie mißt, eine kontrafaktische Unterstellung ist — benennt das Prinzip, ihr kann aber nicht entnommen werden, ob Österreich eine demokratische Republik ist und ihr Recht tatsächlich vom Volk ausgeht. Das ist freilich auch nicht das Problem, das sich die österreichischen Verfassungsrechtler stellen; der Inhalt des demokratischen Prinzips ist denn auch reichlich verschwommen: „Wenn dem Art. 1 B-VG auch nicht der demokratische Charakter der Republik entnommen werden kann“, sagt etwa Robert Walter (Österreichisches Bundesverfassungsrecht, 1972, 105), „so ist die Bestimmung doch nicht ohne jeglichen normativen Gehalt. Sie hebt nämlich das — durch andere Bestimmungen verwirklichte (?) — demokratische Prinzip besonders hervor, woraus abzuleiten ist, daß eine Änderung der Organisation, die ein Abgehen von diesem Prinzip bedeutet, als eine Gesamtänderung der Verfassung anzusehen ist ...“ Der eigentliche Sinn des Prinzips liege nun aber in der klassischen „Identität von Herrschern und Beherrschten“; eine gewisse „Mittelbarkeit“ der demokratischen Legitimation sei zwar erlaubt — weil ja in der Verfassung selbst schon normiert —, aber „im Zweifel (müssen) alle Bestimmungen des B-VG im Sinne des programmatischen Leitsatzes des Art. 1, also in Übereinstimmung mit den Grundgedanken und mit der Grundhaltung der Staatsform der demokratischen Republik ausgelegt werden.“ (Adamowich — Spanner 103) Auch wenn mancher Zweifel daran hegen sollte, was genau die Haltung der hypostasierten Staatsform rechtlich sein soll — ein EG-Beitritt widerspricht dem demokratischen Prinzip der österreichischen Verfassung jedenfalls:

Aufmerksame Beobachter der EG haben längst die Frage gestellt, „ob die EG, deren Rechtsakte in ständig wachsendem Maße in den innerstaatlichen Bereich eindringen, dem Verfassungsgrundsatz der Demokratie noch gerecht werden.“ (Zuleeg, Der Vertassungsgrundsatz der Demokratie und die Europäische Gemeinschaft, Der Staat 1/1978, 29) Das scheint hierzulande noch niemand bemerkt zu haben! Das vollkommen unkontrollierte Zusammenspiel der EG-Bürokratie und der nationalen Ministerialbürokratien beunruhigt selbst so unverdächtige Parlamentarier wie Wolfgang Mischnik (FDP):

... Wenn man sich klarmacht, wo und wie heute politische Entscheidungen fallen, so sieht man, daß beispielsweise darunter Entscheidungen sind, die vom Deutschen Bundestag nicht oder nicht mehr und vom Europäischen Parlament noch nicht parlamentarisch kontrolliert werden können ... Meinem parlamentarischen Verständnis widerspricht es zutiefst, wenn Gesetzesinitiativen, die im Deutschen Bundestag keine Mehrheit finden, zum verbindlichen Recht qua EG-Verordnung oder EG-Richtlinie werden, ohne daß eine entsprechende parlamentarische Beratung und Beschlußfassung vorausgegangen ist.

(Arbeitskreis Europa, transnational 17/1980, 19)

Wiederum kann hier vollkommen unberücksichtigt bleiben, daß das Parlamentsverständnis von Lambsdorff & Co. nicht der letztgültige Maßstab von Volkssouveränität und Demokratie sein kann — aber die von Mischnik zutreffend benannte Praxis der Rechtsentstehung; die sich ausdehnende und für die Mitgliedstaaten verbindliche Judikatur des EuGH; die unzureichenden Kompetenzen des Europaparlaments; die zunehmend extensive Anwendung des Art. 100 EWGV („Angleichung von Rechtsvorschriften“) etc. etc. bewirken insgesamt eine Verstärkung der exekutivistischen Macht der EG-Bürokratie, die den Prinzipien bürgerlicher Demokratie kraß widerspricht und einen EG-Beitritt Österreichs jedenfalls als unvereinbar mit dem (noch) geltenden Verfassungsrecht erscheinen läßt. Man wird sich nach einem allfälligen Beitritt nostalgisch an jene Zeiten zurückerinnern, in denen das bei Wahlen übliche Ankreuzen einer Partei noch entfernt eine Beeinflussung der Politik durch die Herrschaftsunterworfenen suggerieren konnte.

Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Die österreichische Verfassung ist eine nach links offene, d.h.: gegenwärtiges Verfassungsrecht steht Versuchen einer zum Sozialismus führenden Gesellschaftsänderung nicht im Wege — der Bundesverfassung läßt sich kein Gestaltungsauftrag zur Einrichtung eines bestimmten Wirtschaftssystems entnehmen und der Verfassungsgerichtshof hat erklärt (nachzulesen etwa in der amtlichen Sammlung der Erkenntnisse des VfGH Nr. 5831), daß die freie Marktwirtschaft „kein Grundsatz“ der österreichischen Verfassungsordnung sei.

Durch einen EG-Beitritt würde Österreichs derzeitige kapitalistische Wirtschaftsordnung normativ und unabänderlich fixiert. Erinnert sei bloß an die Interventionsversuche insbesondere der BRD, nachdem die Italienische Kommunistische Partei 1976 bei den Parlamentswahlen 34,4 Prozent der Stimmen erhalten hatte und eine Regierungsbeteiligung der KP in Sichtweite kam. Helmut Schmidt hatte damals begonnen, von einer „europäischen Innenpolitik“ zu sprechen, die eine Einmischung in die Angelegenheiten Italiens ermögliche.

Streng juristisch hat wiederum Zuleeg (Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaften, in: Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ordnungsprobleme der Europäischen Gemeinschaften, 1978, 93 f.) gemeint: „Hier ist die ... Einsicht am Platze, daß der EWG-Vertrag eine Wirtschaftsverfassung begründet hat, die stärker als die nationalen Verfassungen die Wirtschafts- und damit auch die Gesellschaftspolitik festlegt. Gelangt in einem Mitgliedstaat eine politische Richtung ans Ruder, die sich dieser Einsicht verschließt, besteht die Gefahr, daß der Gemeinsame Markt in seinen Grundfesten erschüttert wird ... In einer zentral verwalteten Wirtschaft ließen sich die Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes nicht mehr verwirklichen. Deshalb wäre die Einführung einer Planwirtschaft in einem Mitgliedstaat Vertragsbruch. Die Mitgliedstaaten sind zur Beibehaltung der Marktwirtschaft verpflichtet.“ — Was das österreichische Bürgertum im Kampf gegen die Sozialdemokratie bis heute nicht geschafft hat, die normative verfassungsmäßige Verewigung des Kapitalismus, ein EG-Beitritt würde es möglich machen.

b) rechtsstaatlich?

Von einem rechtsstaatlichen „Prinzip“ liest man in der Verfassung natürlich auch nichts. Anerkennung gefunden hat aber die Ansicht, daß im und durch den Rechtsstaat Rechtssicherheit bestehe, daß also „die Entscheidung der Gerichte bis zu einem gewissen Grad voraussehbar und so berechenbar ist, daß sich die rechtsunterworfenen Subjekte in ihrem Verhalten nach den voraussehbaren Gerichtsentscheidungen richten können“, wie Kelsen das Erfordernis einmal umschrieben hat (Reine Rechtslehre2, 1960, 257).

Es gibt also — ungeachtet weiterer begrifflicher Festlegungen — die Formel „Rechtsstaat = Rechtssicherheit“.

Ein EG-Beitritt Österreichs würde die international (manchmal freilich zu Unrecht) gerühmte Rechtsstaatlichkeit negativ beeinflussen bzw. das rechtsstaatliche Prinzip verletzen: Es genügt hier, auf die vielfältigen Probleme des Dualismus von innerstaatlichem und EG-Recht und insbesondere auf die Frage der unmittelbaren Geltung von EG-Recht (Verordnungen) hinzuweisen. Hinzu kommt weiters, daß die Organe der EG weder an den in den Verfassungen der Mitgliedstaaten enthaltenen Grundrechtskatalog noch an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden sind. Daher kann die Verletzung dieser Rechte auch nicht vor dem EuGH geltend gemacht werden. Darüber hinaus werden in der EG fortlaufend Tatsachen im Sinne eines Ausbaus der Verträge und einer engeren sachlichen Verflechtung geschaffen. Vor allem die eigentlich der staatlichen Hoheitsgewalt unterliegenden Aufgaben werden in einem Prozeß ständiger Neufestsetzung der Kompetenzbegrenzung zwischen EG und Mitgliedstaaten zunehmend geteilt und so „ersetzt durch die gegenseitige Bedingtheit der einzelstaatlichen Daseinsvoraussetzungen und also durch sachliche Verhältnisse, die der einzelstaatlichen Souveränität unabhängig von ihrem Willen vorgegeben sind.“ (v. Simson, Der politische Wille als Gegenstand der Europäischen Gemeinschaftsverträge, in: ders., Der Staat und die Staatengemeinschaft, 1978, 146)

Dieser faktische Prozeß wird juristisch ergänzt durch den Umstand, daß der EuGH seinem Selbstverständnis nach in seiner Tätigkeit davon ausgeht, den gemeinschaftlichen Vorschriften zu möglichst großer Wirksamkeit im Sinne der Vertragsziele zu verhelfen — wobei diese „Vertragsziele“ häufig und zunehmend in der alles und nichts sagenden, in jedem Fall aber weit dehnbaren Perspektive einer westeuropäischen politischen Union gesehen werden, wie man leicht wiederum bei Zuleeg (Eine Gemeinschaft durch das Recht, EG-magazin 3/1983, 12 ff.) nachlesen kann. Dazu kommt mit Art. 235 EWGV, der eine Art Generalklausel hinsichtlich der Rechtssetzungsbefugnis der EG zur Verfolgung ihrer Ziele darstellt, ein weiteres Element, das bereits innerhalb der EG bedeutende Rechtsunsicherheit produziert. Ein EG-Beitritt Österreichs würde im übrigen für das österreichische Rechtsnormensystem ähnliche Auswirkungen wie das Ende deutscher Herrschaft in Österreich 1945 bedeuten: Keiner weiß mehr, welche Rechtsnorm aktuell gilt.

c) bundesstaatlich?

Auch hier benennt die Verfassung nur das Prinzip: „Österreich ist ein Bundesstaat. Der Bundesstaat wird gebildet aus den selbständigen Ländern: ...“ (Art. 2 B-VG) Da die österreichische Verfassungslehre bis heute nicht weiß, was ein Bundesstaat ist — „Ein einheitlicher Begriff steht nicht in Verwendung.“ (Walter 108 f.); „... es gibt aber keine allgemeingültige Struktur des Bundesstaates!“ (Ermacora 252); „Sucht man die typisch verfassungsrechtlichen Grundelemente des Bundesstaates zu ermitteln, gerät man in bedeutende Schwierigkeiten ...“ (Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986, 421) — ist es freilich problematisch, in einem EG-Beitritt einen Verstoß gegen das bundesstaatliche Prinzip zu sehen. Nur soviel: Die zwischen Bund und Ländern getroffene Kompetenzverteilung (Art. 10 ff. B-VG), alles was unter konservativer Flagge als „kooperativer Föderalismus“ segelt und auf eine erweiterte Kompetenz der Länder bedacht ist, dürfte durch einen EG-Beitritt in windarme Gewässer versetzt werden. Für kleinliche Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern hat die EG keinerlei Verständnis; so greift etwa das allgemeine Subventionsverbot nach Art. 91 Abs. 1 EWGV in die Strukturpolitik und die Ausgabenverantwortung der Länder ein; die Möglichkeiten der Gemeinden, zum Beispiel in ihrem Bereich öffentliche Arbeiten zu vergeben und die Arbeitslosigkeit zu mildern, wird durch die EG-Vorschrift beschnitten, nach der solche Arbeiten im Amtsblatt der EG öffentlich und für alle Unternehmen aus dem EG-Bereich zugänglich auszuschreiben sind etc. etc.

Nimmt man etwa die Erfahrung der BRD, so waren im Jahr 1980 21% aller im Bundesrat zur Beratung anstehenden Vorlagen Vorschläge der EG-Kommission, im Jahre 1981 waren es bereits 25% — die Zahl steigt weiter. (Vgl. Raderschall, Bundesrat und Europäisches Parlament, Zeitschrift für Parlamentsfragen, 2/1982, 205) Da der Bundesrat aber nicht praktisch wirksam auf den Beschlußmechanismus der EG einwirken kann, wird die in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes der BRD normierte Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung zunehmend auf kaltem Wege ausgehöhlt. In Österreich würde es kaum anders laufen und das bundesstaatliche Prinzip verkäme endgültig zum bloßen ideologischen Mäntelchen eines ineffektiven und letztlich funktionslosen Bundesrates.

Das Ergebnis ist eindeutig, was seine rechtliche Seite betrifft: Ein EG-Beitritt ist Österreich verboten und würde gleichzeitig bei verbotwidrigem Verhalten eine Totalrevision der Verfassung im Sinne des Art. 44 Abs. 3 B-VG bedeuten — es wäre deshalb jedenfalls einer Volksabstimmung zu unterziehen. Über das Ergebnis einer derartigen Abstimmung entscheiden freilich nicht das FORVM und seine LeserInnen, sondern just diejenigen, die sich entgegen völker- und verfassungsrechtlicher Bindungen ihr Weiterleben ohne Anschluß nicht so recht vorstellen können — und das hatten wir doch schon mal.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1988
, Seite 24
Autor/inn/en:

Alfred J. Noll:

Geboren 1960, lebt in Wien als Rechtsanwalt. Vater zweier erwachsener Töchter, von einer derselben zum Großvater geadelt.

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