FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1990 » No. 444
Ladislav Mňačko

Ich war für die Austreibung

Sein Buch „Wie die Macht schmeckt“ hat L. M. weltberühmt gemacht. Seit seiner zweiten Ausbürgerung im Prager Herbst 1968 lebte er im burgenländischen Örtchen Großhöflein; die erste, wegen Protests gegen tschechoslowakischen Partei- & Regierungs-Antisemitismus zur Zeit des Eichmann-Prozesses, als Prozeßberichter, hatte der Prager Frühling rückgängig gemacht. Jetzt, im Zustand der Rücksiedlung in die Slowakei, streitet er dort wider slowakisch-nationalistischen Separatismus. Im Forvm schreibt er weiterhin. Diesmal: unangenehme Botschaft an ehemalig Sudetendeutsche.

Ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen, die Zeitzeugen sind alt geworden, mehr als die Hälfte davon lebt wohl gar nicht mehr, aber der Hitlerkrieg wirft noch immer seine unheilvollen Schatten und, es ist zu befürchten, er wird es auch weiterhin tun. Die Wunden sind noch nicht verheilt, die Folgen — siehe das Desaster in Ost- und Mitteleuropa — immer noch verheerend. Die Zahl der Opfer immer noch nicht vollständig, noch heute sterben Menschen an ihren Spätfolgen. Großdeutschland wurde kleiner als vorher, bis vor kurzem in zwei Staaten geteilt, die sowjetische Vorherrschaft in ost- und mitteleuropäischen Ländern mit allen ihren unheilvollen Nachwehen — trotz des Zerfalls des Ostblocks — noch nicht bewältigt. Auch das, was in diesen Ländern geschah, ist der Hitlerschen Aggression zuzuschreiben, sie war die Ursache, alles andere, was danach geschah, die Folgen.

Ich muß offen bekennen, ich habe irgendwie Angst. Kaum ist es möglich geworden, das geteilte Deutschland zu vereinen, kaum haben sich die osteuropäischen Satelliten von der Vormundschaft der UdSSR und Beschränkung ihrer Souveränität befreit, schon treten neue Störfaktoren in Erscheinung, die Verwirrung und Unsicherheit schüren. Eins davon ist die Wiederbelebung der Sudetendeutschenfrage.

Die Regierung in Prag wäre gut beraten, so schnell wie möglich der neuentflammten Irredenta durch klare Verträge mit der Bundesrepublik Deutschland — nach dem Muster Polens — entgegenzutreten, um verbindliche Garantien für die Unverletzlichkeit der tschecho-slowakischen Grenzen zu erreichen. Die Erfahrung lehrt, daß Lippenbekenntnisse — etwa über den Frieden und gute Nachbarschaft — nur zeitbeschränkten Stellenwert haben, unter Umständen waren sie, sind sie — und es ist zu befürchten, daß sich auch in mehr oder weniger naher oder entfernter Zukunft daran nur wenig ändern wird — schnell widerrufbar. Für die Stabilisierung Europas braucht man zuverlässigere Garantien als nur Worte, wie gut diese auch immer gemeint sein mögen, sonst kann es vorkommen — die ersten Anzeichen sind ja schon da — daß man mit der Geschichte wieder willkürlich umgehen wird, sich auf die Vergeßlichkeit der Menschen verlassend. Das Abtun des neuentstehenden Problems mit der Behauptung, es handle sich ja bei den Deutschen um eine unrepräsentative Minderheit — seit den Erfolgen der von Schönhuber gegründeten Partei gilt es nicht mehr. In deutschen Wahlen ist diese Minderheit nicht mehr so unrepräsentativ, wie es auf den ersten Blick aussieht. Es scheint, daß die „Bewältigung der Vergangenheit“, oft als abgeschlossen proklamiert, noch gar nicht so weit fortgeschritten ist, wie es wünschenswert wäre. Das Gespenst des Revanchismus — auch von mir schon fast tot geglaubt — beginnt, die Idylle der europäischen Stabilität zu stören.

Ich muß öffentlich gestehen, ich war im Krieg für die Austreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei, ich war es trotz der beschämenden und barbarischen Begleiterscheinungen, unter denen sie stattfand. Ich hatte für diese meine Einstellung sentimentale, subjektive Gründe, die aus meiner Erfahrung mit dem Nazismus stammten, aber auch historisch objektivierende Argumente, die zu dieser Bejahung führten. Man kann heutzutage, fast ein halbes Jahrhundert danach, wiederum auf die Vergeßlichkeit der Geschichte sich verlassend, nicht den grausamen Folgen des Hitlerkrieges nachweinen und sie unter Anklage stellen, ohne die Ursachen dieses — wiederum zugegebenen — Unrechts in Erwägung zu ziehen. Hier soll festgestellt werden: ohne diesen Hitlerkrieg wäre es zu keinerlei Austreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei, aus Polen, aus Ungarn, Rumänien, Jugoslawien und der Sowjetunion gekommen, ohne diesen Hitlerkrieg hätte kein Soldat der Roten Armee seinen Fuß auf deutschen Boden gesetzt, es wäre zu keiner Grenzverschiebung gekommen, die Deutschen hätten keine beachtlichen Landesteile einbüßen müssen. Und, um diese Hypothese zu erweitern, ohne Hitlerkrieg wäre es zu keiner „Befreiung“ der ost- und mitteleuropäischen Staaten durch die Sowjetmacht gekommen, mit dem über vierzig Jahre andauernden Desaster, verursacht durch die Herrschaft der moskauhörigen Quisling-Regimes in diesen Ländern. Wer diesen Ausgangspunkt der Geschichte ignoriert oder sogar verdreht — ich erinnere hier an den unlängst stattgefundenen «Historikerstreit» in der Bundesrepublik — kann, absichtlich oder nur ungewollt, zur Verbreitung explosiver Legenden beitragen. Das größte Unheil dieses Jahrhunderts — soweit es Europa betrifft — nahm seinen Anfang in Berlin. Diese These relativieren zu wollen, könnte unter Umständen Gefahren mit sich bringen.

Die Austreibung der Sudetendeutschen wird heutzutage von vielen deutschen Bürgern als historisches Unrecht empfunden, als ob sie — soweit es die dadurch in Mitleidenschaft gezogene Region betrifft — die einzige Austreibung in der Geschichte der böhmischen Länder gewesen wäre. Als ob, nur wenige Jahre zuvor, hunderttausende Tschechen ihre durch das Münchner Abkommen verlorene Heimat im abgetretenen Grenzgebiet nicht gleichfalls verloren hätten; sie hatten auch solche Orte verlassen müssen, wo die Bevölkerung mehrheitlich tschechisch war, unter frenetischem Jubel der mehr als achtzigprozentigen Mehrheit der später ausgetriebenen Sudetendeutschen.

Sicher, sie waren eine Minderheit, und wie tolerant sich der Staat ihnen gegenüber auch benahm, die Sudetendeutschen fühlten sich, manchmal zu Unrecht, gegenüber der Mehrheit des tschechischen Volkes benachteiligt. Besonders die verheerende Wirtschaftskrise anfangs der 30iger Jahre hatte die hochindustriellen Randgebiete des tschechischen Beckens in arge Not gebracht. Auch besonnenen Prager Politikern wurde allmählich klar, daß da etwas geschehen mußte, um das Problem der großen Arbeitslosigkeit der deutschen Minderheit zu lösen, immerhin innerhalb des gemeinsamen Staates. Bis zur Machtergreifung durch die Nazi in Deutschland schien ein Konsens möglich. Die Machtübernahme Hitlers hat die Lage im Sudetenland schlagartig verändert, die Nationalisten und Hitlerbewunderer und -anhänger radikalisiert. Nur mit dem Wunsch „Heim ins Reich“, der von der überwiegenden Mehrheit der Sudetendeutschen unterstützt wurde, wählte man, in Einzelfällen unbewußt, aber meist bewußt, den Krieg. Wie anders konnte dieses „Heim ins Reich“ erreicht werden? Die Rechnung ging auf. Die Tschechoslowakei wurde vorerst amputiert, wenige Monate später zerstückelt, von den Deutschen besetzt und annektiert. Hitler, siegesbewußt und auf unheimliche Weise offen — mit geradezu brutaler Offenheit hat er seine Pläne vorausgesagt: sie sollten in der Ausrottung des tschechischen Volkes gipfeln. Und er bediente sich bei der Verwirklichung dieser Pläne der landeskundigen Sudetendeutschen, die damals, über unerträgliche Unterdrückung durch die Tschechen klagend, mit Elan und Gründlichkeit die brutalste Unterdrückung der in das Großdeutsche Reich einbezogenen Tschechen gefordert und aktiv unterstützt hatten. Böhmen und Mähren sollten total germanisiert und enttschechisiert werden, mit den grausamen Mitteln des Völkermordes. Die Pläne dieser Genozide und auch die ersten praktischen Schritte zu ihrer Durchführung sind der Welt dokumentarisch erhalten geblieben, in den Reden und Schriften Hitlers, in denjenigen eines Heinrich Himmler. Diese Pläne waren publiziert und bekannt, ihr Gedankengut wurde von den meisten Sudetendeutschen gutgeheißen. Sie sind noch heute für jeden, der sich dafür interessiert, erreichbar. Die Rechnung steht also: Austreibung als Vergeltung für die nicht vollzogenen Genozide.

Im „ewigen Kampf des Germanentums gegen das Slawentum“ hat sich das Blatt zuungunsten der Hitlerschen Pläne gewendet. Die Tschechen haben seit Anfang ihrer Geschichte mit der Gefahr der Germanisierung zu tun gehabt. Nur zu oft wurden sie Opfer der germanischen Expansion. Besonders arg haben diese Germanisierung die Habsburger nach der Schlacht am Weißen Berg vorangetrieben. Der Kaiser ordnete an, daß alle tschechischen Protestanten, die Nachfahren der Hussiten, das Land zu verlassen hatten. Hunderttausende wählten damals den Weg ins Exil. Der Rest, der blieb, sollte schon damals — Hitler war nicht der Vater dieser Idee — eingedeutscht werden. Die tschechischen Nationalisten führen die Verdeutschung des Sudetenlandes auf diesen Versuch zurück, das tschechische Volk zu entmündigen und zu germanisieren. Sie übertreiben, wenn auch nicht ganz. Natürlich unterlag ein Teil der Bevölkerung von Böhmen der Verlockung, als Mitglied des Herrenvolkes an den damit verbundenen Privilegien mitzunaschen. Auch in rein tschechischen Gebieten wurde das Deutsche Amts- und Pflichtsprache. Nein, die Austreibung Sudetendeutscher war nicht die erste in diesem Land. Die Tschechen fühlten sich während der ganzen Zeit ihrer Geschichte von Germanenexpansionen bedroht, unterdrückt, dem Untergang geweiht.

Nach der Gründung der ČSR schlug der Versuch, mit der deutschen Minderheit zu einem korrekten Verhältnis — von Freundschaft konnte ja nie die Rede sein — zu kommen, wegen der Idee des von Hitler gepredigten Pangermanismus, die auch das Sudetendeutschtum fast total infiziert hatte, fehl. Ja, unter ihnen fand Hitler wohl die am meisten fanatisierte Anhängerschaft.

Was haben sie dann aber nach der Niederlage Hitlers erwartet? Daß das von den Okkupanten gemarterte, dem Untergang vorbestimmte tschechische Volk mit «Vergessen wir, was sie uns angetan haben» reagieren werde? Mit «Wir bitten euch um Verzeihung, daß ihr uns gemordet, gefoltert, entmündigt, entwürdigt habt» Womit konnten denn die Deutschen haften für das unsagbare Unglück und die Zerstörung, die sie der Welt gebracht haben? Womit sollten und wollten sie diese Megaverbrechen wiedergutmachen? Die Welt einigte sich darauf, daß sie für dieses Verbrechen haftbar seien, als Nation, als Staat. Wer konnte es den Tschechen übelnehmen, daß sie, nach so vielen unheilvollen Erfahrungen mit den Deutschen, sich nach Sicherheit sehnten? Das Sudetendeutsche „Heim ins Reich“ hat sie fast ihre nationale Substanz gekostet.

Könnte es zu einer Reprise der Sudetendeutschen Krise kommen? Die Kriegsjahre haben das tschechische Volk zu der — inwieweit richtigen, soll hier nicht erörtert werden — Erkenntnis gebracht, daß ein Zusammenleben mit einer zahlenmäßig so großen und gegenüber dem Tschechentum feindlich eingestellten Minderheit nicht möglich sei. Außerdem lechzten sie nach Vergeltung für die an ihnen begangenen Verbrechen, an denen die Sudetendeutschen aktiv gehörig beteiligt waren. Sie wollten Heim ins Reich — also nutzte man die Gunst der Stunde und schob sie ebendorthin ab, um sie loszuwerden. Das klingt brutal und ist auch brutal und wurde auch brutal organisiert und durchgeführt. Aber auch Brutalität hat ihre Nuancen.

Ich erinnnere mich an den Augenblick, als wir, die von einem Jagdkommando gehetzten Partisanen, über den glühenden Trümmern des Bergdorfes Ploština in Ostmähren standen. 27 Männer hatte dort die SS bei lebendigem Leib verbrannt. Im April 1945! Da schrie ein Kumpel von uns: «Kommt nach Deutschland, wir werden mit einem deutschen Dorf dasselbe tun!» Wir hätten auch gehen können, aber wir gingen nicht. Wir haben, zwei Wochen vor dem Ploština-Massaker, fünfzig von uns gefangene deutsche Soldaten am Leben gelassen, sie nicht einmal gedemütigt. Wir waren keine Engel und pflegten nicht gerade Edelmut. Aber wir zogen nicht nach Deutschland, der adäquaten Vergeltung wegen. Die Russen, wie schwer sie auch in besetzten deutschen Gebieten gehaust haben, taten es auch nicht. Die Geschehnisse von damals sind nicht mit den Maßstäben des heutigen Standes der sensibilisierten Humanität zu betrachten. Wer hätte es den Russen, und nicht nur ihnen, übelnehmen dürfen, falls sie auf volle Vergeltung ausgegangen wären? Hätte man sich an Hitlers moralische Prinzipien gehalten, wäre es heute um das deutsche Volk wohl schlecht bestellt. Man tat es aber nicht. Es ist an den Deutschen, darüber nachzudenken, warum eigentlich nicht ...

Ich war für die Austreibung der Sudetendeutschen.

Ich wäre, unter ähnlichen Umständen, auch heute nicht dagegen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1990
, Seite 6
Autor/inn/en:

Ladislav Mňačko:

Geboren 1919 in Valašské Klobouky, gestorben 1994 in Bratislava. Nach der deutschen Besetzung der damaligen Tschechoslowakei wurde er als Zwangsarbeiter in ein Essener Bergwerk „dienstverpflichtet“. Bekannt geworden durch Reportagen aus der Welt der Arbeit, wurde er in den 60-er Jahren zunehmend kritisch gegenüber der Sowjetunion und der tschechoslowakischen KP. Emigirerte 1967 nach Israel, kehrte während des Prager Frühlings in die Tschechoslowakei zurück, emigierte nach dessen Niederschlagung nach Österreich und kehrte 1991 in die Slowakei zurück.

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