FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1992 » No. 458/459
Ivan Illich

Gesundheit in eigener Verantwortung: Danke, nein!

Die Substantivierung des Lebens im 19. und 20. Jahrhundert — eine Herausforderung für das 21. Jahrhundert

Sie haben mich hierher [*] eingeladen, obwohl sie sehr wohl wußten, daß ich ihrem Vorhaben widersprechen werde. Ich bin davon überzeugt, daß Gesundheit und Verantwortung einer verlorenen Vergangenheit angehören, und daß ich — da ich weder Romantiker, Phantast noch Aussteiger bin — auf beides verzichten muß. Nur wenn es mir gelingt, diesen Verzicht auf Gesundheit und auf Verantwortung eindeutig zu artikulieren, kann ich dem Vorwurf entgehen, hier als ihr Alibikritiker aufzutreten.

Ich halte diesen Vortrag auf die Einladung von Prof. zur Lippe, um ein größeres gemeinsames Projekt zur „Wiederentdeckung der Akese in der höheren Bildung“ vorzustellen. Und ich kann ihn deshalb vortragen, weil ich ihn mit Herrn Dirk von Bötticher vorbereiten konnte. Jeden Satz haben wir in einer Gruppe junger Freunde diskutiert, die sich auch mit anderen Referenten an diesem Kongreß, wie Erwin Chargaff, Susan Sontag, Barbara Duden, Robert Duggan und Debabar Banerji, intensiv beschäftigt haben. Wenn ich also im folgenden „wir“ sage, dann meine ich uns. Wir beschäftigen uns mit Selbstverständlichkeiten und ihrer Geschichte, also mit Annahmen, die so trivial erscheinen, daß sie einer kritischen Prüfung entgehen könnten. Der Verzicht gerade auf diese Annahmen bietet jedoch die einzige Möglichkeit, die uns verbleibt, dem, was Jaques Ellul la technique nennt, kritisch gegenüberzustehen. Wir versuchen, uns ihrer zu entledigen, und nicht, sie zu fliehen. Daher sage ich zur „Gesundheit in eigener Verantwortung“ ein klares „Nein“.

Was ich riskiere, ist ziemlich klar: In fünf Richtungen kann unser „Danke, Nein!“ zu Ihrem Vorschlag einer neuen hygienischen Autonomie genau zum Gegenteil von dem, was wir wollen, eingesetzt werden:

1. Erstens kann das „Nein“ als Bevormundung verstanden werden. Gesundheit, so sagt man, sei zu wertvoll, ja heilig, um sie dem Gutdünken von Laien zu überlassen. Mit dieser eitlen Entmündigung habe ich nichts zu tun. Seit 30 Jahren setze ich mich öffentlich für die restlose Entkriminalisierung der Selbstbeschädigung ein. Ich bestehe auf der unverkürzten Tilgung aller Paragraphen, die Drogenkonsum, Abtreibung oder unzünftiges Heilen reglementieren. Ich baue mein Argument — in der Nachfolge von Paul Goodman — auf der Achtung auf, die wir der Würde des Schwächsten schulden.

2. Zweitens hat mein grundsätzliches Nein nichts mit der vermeintlichen Knappheit an Heilmitteln zu tun. Mehr Menschen denn je krepieren täglich am Hunger, nicht am Mangel an Medizin oder Operationen. Je ärmer Menschen sind, umso hilfloser werden sie zu Opfern immer billigerer Medizin. Seit zwei Jahrzehnten vertrete ich die Position, daß medizinischer Konsum genauso wie Schnaps, Rauchen und Glücksspiel mit einer progressiven Luxus-Steuer belegt werden soll. Aus der Besteuerung von Dialyse, Bypas und ACT sollen einfache medizinische Anwendungen, wie Blinddarmoperationen, für alle finanziert werden.

3. Auch sage ich mein „Nein!“ nicht als globaler Denker, der freie Bahn für Ökodiktaturen will. Kein mir denkbares Kontrollsystem bietet Rettung vor der Flut von Giften und Strahlen und Waren und Zeitgenossen, die Mensch und Tier kränken wie nie zuvor. Die Welt ist ausweglos geworden. Ich lebe im Gemachten, immer weiter weg von der Schöpfung. Was das bedeutet, mit welchem Schrecken das droht, weiß ich heute. Vor einigen Jahrzehnten wußte ich es noch nicht. Damals erschien es mir möglich, in der gemachten Welt für ihre Herstellung Verantwortung mitzutragen. Heute weiß ich erst, was Ohnmacht ist, „Verantwortung“ ist zur durchsichtigen Illusion geworden. In einer solchen Welt reduziert sich „Gesund-sein“ auf eine Kombination von Technikgenuß, die alle drei unvermeidlich Privilege sind. Der blaue Mais, um den der Kalender des Dorfes noch kreist, ist schon vor 15 Jahren vertilgt worden. Geld für die giftige Technik, mit der Hybriden wachsen, hat man nicht. Gegen die Giftwolken, die von der Plantage herüberwehen, gibt es keinen Schutz. Aber neue Beamtenstellen für Gesundheitspädagogik werden eingerichtet, und etwas fällt dabei auch für die grünen Barfußenthusiasten ab. Mein „Nein!“ ist deshalb sicher kein „Ja“ zu einer Gesundheitspädagogik, die Verantwortung für die Verwaltung von Giftsystemen auf sich nimmt.

4. Und schon gar nicht sage ich mein „Nein“ zu einer neuen Ethik der Selbstverantwortung für Gesundheit deshalb, weil ich Krankheit und Kränkung als Gelegenheit zur Selbstfindung wahren sollte. Die Zumutung, daß wir die unvermeidlichen Epidemien des postindustriellen Zeitalters als eine höhere Art der Gesundheit auf uns nehmen sollten, ist eine unter Pädagogen derzeit modische Frechheit. Unterricht im Leiden und Sterben ist unverschämt. Belieferung mit Trauerberatung, Sterbepädagogik, Gesundheitsplanung zielt direkt auf die Zerstörung der Kunst des Leidens und des Sterbens, die sich in Jahrhunderten herausgebildet hat.

Was heute kränkt, ist neu. Was die Epoche seit der Kristallnacht bestimmt, ist die anwachsende Selbstverständlichkeit des bodenlosen Bösen, das Hitler und Stalin noch vertuscht haben, das aber heute zum Thema für die gehobene Diskussion über Atom, Gen, Gift, Gesundheit und Wachstum geworden ist. Das sind Übel und Verbrechen, vor denen wir sprachlos sind. Ungleich Tod, Pest und Teufel, lassen sich diese Übel nicht nützen. Sie sind unmenschlicher Ordnung. Sie zwingen uns zur Ohnmacht, Hilflosigkeit, Gewaltlosigkeit, ashimsa. An diesem Bösen können wir leiden, wir können an ihm zerbrechen, aber es nicht deuten. Erleiden kann es nur der, der in Geduld sich und seine Freunde gut leiden kann. Unser „Nein!“ ist also himmelweit entfernt von jedem „Ja“ zu den Begleiterscheinungen des Fortschrittes.

5. Endlich wäre es entweder dumm oder boshaft, das „Nein!“ von dem ich spreche, als zynische Gleichgültigkeit zu deuten. Ganz im Gegenteil! Zuvorderst in unseren Überlegungen stehen die Vielen. Das sind die Unzähligen, denen vier Entwicklungsjahrzehnte den kulturellen, technischen und architektonischen Raum zerstört haben, in denen ererbte Leidens- und Sterbenskunst gepflegt werden konnten. Die überwiegende Mehrzahl ist arm und wird ärmer. Wenn wir „Nein“ zum Import von Gesundheiten sagen — in Fremd- oder in Eigenregie — so sprechen wir in erster Linie von etwas mir Undenkbaren: vier Milliarden im Neuen Elend. Nur damit, daß wir mit dem Danke-Nein bei uns selbst beginnen, können wir versuchen, bei ihnen zu stehen. Der Grund unseres ethischen Neins steht also nicht im Dienst dieser Fünf: dem professionellen Paternalismus, der Knappheitsideologie, dem Systemdenken, der Befreiungs-Psychologie oder der neuen Vernunft, die besagt, daß gegen die Entwicklungsfolgen in der vierten Welt kein Kraut gewachsen ist. Denn es wächst, das Kraut: Es heißt Selbstbegrenzung. Und Selbstbegrenzung steht im Gegensatz zur modischen Selbst-Hilfe, Selbst-Verwaltung oder gar Selbst-Verantwortung, die alle drei die Selbstintegration in das Weltsystem zum kategorischen Imperativ machen. Der Verzicht auf Gesundheit scheint uns heute ein Ausgangspunkt für ethisch, ästhetisch und eudämonisch züchtiges Verhalten zu sein. Und diese Selbstbegrenzung weigere ich mich als Selbstverantwortung zu bezeichnen. Ich spreche lieber von Zucht.

Die Vorstellung von der Gesundheit der europäischen Moderne stellt einen Bruch mit der galenisch-hippokratischen Tradition dar, die dem Historiker wohl bekannt ist. „Gesund“ war für die griechischen Philosophischen ein Begriff für die harmonische Mischung, die wohlgefügte Ordnung, das vernünftige Zusammenspiel der Urelemente. Gesund war, wer sich so, wie er eben zur Welt gekommen war, in die Harmonie des Weltalls fügt. Gesundheit war für Plato eine somatische Tugend, so wie Tugend seelische Gesundheit. Im „gesunden Menschenverstand“ hat sich die deutsche Sprache — trotz aller Kritik von Kant, Hamann, Hegel und Nietzsche — noch etwas von dieser kosmotropen Qualifikation erhalten. Seit dem 17. Jahrhundert hat dann der Versuch, die Natur zu beherrschen, das Ideal der Gesundheit in den Menschen, der damit schon kein Mikrokosmos mehr war, verlegt. Diese Umstülpung hat der so geschaffenen akosmischen Gesundheit den Schein der Machbarkeit verliehen. Unter dieser Hypothese der Machbarkeit hat sich „Gesundheit als Besitz“ seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhundert durchgesetzt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde es selbstverständlich, von „meinem Körper“, „meiner Gesundheit“ zu sprechen. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wird der Anspruch auf Glück verbrieft. Parallel materialisiert sich der Anspruch auf Gesundheit. Wie dieses Glück, so ist diese neuzeitliche Gesundheit eine Verklärung des besitzergreifenden Individualismus. Brutaler und auch überzeugender konnte eine auf selbstgefälliger Hab-Sucht begründete Gesellschaftform nicht legitimiert werden. Und wiederum parallel setzt sich die Vorstellung einer Verantwortung des einzelnen in einer demokratischen Gesellschaft durch, die ihm den Anschein der ethischen Macht über immer entlegenere Regionen der Gesellschaft und über immer spezialisiertere Formen der beglückenden Dienstleistungen gibt.

Gesundheit und Verantwortung waren also im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch glaubwürdige Ideale. Heute sind sie Elemente einer verlorenen Vergangenheit, in die es kein Zurück gibt. Gesundheit und Verantwortung sind normative Begriffe, die uns heute keine Richtung mehr geben können. Wenn ich versuche, mein eigenes Leben nach diesen unwiderbringlichen Idealen der Aufklärung auszurichten, so werden sie mir zum Unheil — so kränke ich mich selbst. Um jetzt würdig leben zu können, muß ich entschieden auf Gesundheit und Verantwortung verzichten. Verzichten sage ich, nicht darauf pfeifen — der Gleichgültigkeit rede ich nicht das Wort. Ich muß die Ohnmacht auf mich nehmen, um Vergangenes trauern, auf Unwiederbringliches verzichten. Die Ohnmacht aushalten, die, wie Marianne Gronemeyer zeigt, mich des Bewußtseins, meiner Sinne berauben kann. Ich glaube fest an die Möglichkeit des Verzichtens. Verzicht ist keine Berechnung. Verzicht bedeutet und fordert mehr als Trauer um das Unwiederbringliche. Verzicht erlöst aus der Ohnmacht und hat mit Resignation, mit Impotenz und schon gar mit Verdrängung nichts zu tun. Verzicht ist heute kein geläufiger Begriff mehr. Wir haben kein Wort mehr für mutigen, disziplinierten, selbstkritischen und in Gemeinschaft vollzogenen Verzicht — und von dem spreche ich. Ich will ihn mal Askese nennen. Ich hätte gern ein anderes Wort, denn Askese läßt heute an Flaubert denken, an den heiligen Antonius in der Wüste und die Abkehr von Wein, Weib und Wohlgeruch. Doch damit hat der Verzicht, von dem ich spreche, sehr wenig zu tun.

Die Epoche, in der wir leben, ist abstrakt und entkörpert. Die Selbstverständlichkeiten, auf denen sie beruht, sind weitgehend unsinnlich. Ihre weltweite Akzeptanz verleiht ihnen den Anschein der Unabhängigkeit von Geschichte und Kultur. Was ich epistemologische Askese nennen möchte, eröffnet die Möglichkeit, in gemeinsam und kritisch geübter Disziplin auf jene axiomatischen Selbstverständlichkeiten zu verzichten, auf denen das Weltbild der Gegenwart zu ruhen scheint. Der sogenannte Wert von Gesundheit und Verantwortung gehört zu diesen Selbstverständlichkeiten. Genau betrachtet sind sie tiefkränkende, desorientierende Phänomene. Daher halte ich Ihren Aufruf zu selbstverantworteter Gesundheit für sinnlos, trügerisch, unsittlich und in einem ganz besonderen Sinn — lästerlich.

Es ist sinnlos, heute von Gesundheit zu sprechen:

Weitgehend sind Gesundheit und Verantwortung technisch unmöglich gemacht worden. Dies war mir noch nicht deutlich, als ich Medical Nemesis schrieb, und vielleicht war es damals noch nicht so. Im Rückblick war es ein Fehler, Gesundheit als die Qualität des „Überlebens“ und als „intensity of coping behavior“ zu begreifen. Anpassung und Konditionierung an menschenfeindliche genetische, klimatische, chemische und kulturelle Wachstumsfolgen läßt sich nicht als Gesundheit bezeichnen. Weder die galenisch-hippokratische Vorstellung eines humoralen Gleichgewichtes, noch irgendein vedischer oder chinesischer Begriff des Wohlbefindens hat irgendetwas mit diesem Überleben im technischen System zu tun. „Gesundheit“ als Funktion, Prozeß, Kommunikationsmodus; Gesundheit als orientiertes Verhalten, das des Managements bedarf, gehört in die postindustriellen Beschwörungsformeln, die suggestiv konnotieren und nichts faßbar denotieren. Und sobald Gesundheit so besprochen wird, ist sie schon zu einem sinnzerstörenden Pathogen geworden, zum Mitglied einer Wortsippe, die Uwe Pörksen Plastikwörter nennt. Worthülsen, mit denen man wedeln und sich groß machen, aber nichts sagen oder tun kann.

Politische Betrügerei

Ähnlich liegt es mit der Verantwortung, obwohl dies einzugestehen, mir viel schwerer fällt. In einer Zeit, die der Systemontologie huldigt, ist ehtische Verantwortung auf ein legitimierendes Etikett reduziert. Die Weltvergiftung, zu der ich gestern Nacht durch meinen Flug von New York nach Frankfurt am Main meinen Beitrag geleistet habe, war nicht Resultat meiner verantwortungslosen Entscheidung, sondern meines Daseins in unverantwortbaren Zusammenhängen. Es wäre politisch trügerisch, am Beginn dieses Jahrzehntes, nachdem Gesundheit und Verantwortung technisch unmöglich gemacht worden sind, sie in einer pompösen Zeremonie widerspruchslos zur persönlichen Aufgabe hochzustilisieren. Anstelle der brutalen Selbst-Durchsetzungsparolen fordert die neue Gesundheit die reibungslose Einordnung meines Immunsystems in das sozio-ökologische Weltsystem. Was dann adrett als „Verantwortung“ gefordert wird, ist genauer gesehen ein Aufruf zur Sinn- und Selbst-Zerstörung. Und diese propagierte Selbst-Aufgabe im unerfahrenen System steht kraß im Gegensatz zum Selbstmord. Eben gerade deshalb, weil ich Toleranz auch für die eigene Selbstzerstörung in dieser amortal gewordenen Gesellschaft fordere, muß ich die Idealisierung der gesunden Selbst-Integration anprangern. Gesund kann man sich nicht fühlen, sondern nur wie über den Computer, den man bedient, sich über das eigene Funktionen freuen. Die Zumutung an unsere Kinder, sich in der Welt, die wir ihnen hinterlassen, wohlzubefinden, ist eine Kränkung ihrer Würde. Ihnen dann auch noch die Verantwortung für diese Kränkung aufzubürden, ist eine Niederträchtigkeit.

Unsittliche Zumutung

In vielerlei Hinsicht war die biologische, demographische und medizinische Forschung des letzten Jahrzehnts auf Gesundheit bezogen. Der Nachweis wurde erbracht, daß

  • erstens medizinische Leistungen nur einen geringen Teil zum medizinisch definierten Gesundheitszustand einer Bevölkerung beitragen;
  • zweitens, daß selbst Präventivmedizin in diesem Zusammenhang von sekundärer Bedeutung ist;
  • drittens, daß ein Großteil sogenannter medizinischer Erfolge Etikettenschwindel ist und den Leidensweg von Irren, Krüppeln, alten Trotteln und Mißgeburten ausdehnt.

Es ist mir deshalb widerlich, wenn bloßgestellte Gesundheitsexperten nun als seelsorgerliche Mahner auftreten und mit ihrem Slogan dem Kranken seine Leiden in die eigenen Schuhe schieben. Propaganda für Hypochondrie hat wohl in den letzten 15 Jahren dazu geführt, daß die Reichen jetzt weniger rauchen, buttern, mehr joggen und die USA mehr Tabak, Butter und Joggingschuhe exportieren.

Weltweit aber lief die Propaganda für medizinisch definierte Gesundheit mit einer Verelendung der meisten einher; so läßt sich doch das gestrige Referat von D. Banerji zusammenfassen. Er hat nachgewiesen, daß der Import des westlichen Gedankengutes die hygienische Sittlichkeit der Mehrzahl untergraben und den Fortschritt auf Eliten konzentriert hat.

Schon vor 20 Jahren hat Hakin Mohamat Said, der Vorsitzende der pakistanischen Unani, von der medizinischen Kränkung durch den Import eines westlichen Gesundheitsbegriffes gesprochen. Was ihm Sorgen machte, war die Unterwanderung der Praxis, der traditionell galenischen Ärzteschaft, nicht so sehr durch westliche Pharmaka, als durch einen westlichen Gesundheitsbegriff, der im Tod den Feind sieht. Diese Todfeindlichkeit (sic!), die mit der Gesundheit in eigener Verantwortung verinnerlicht werden soll, ist ein Grund, warum ich ihren Slogan für unsittlich halte.

Leben als Lästerung

Ich bin Mediävist. Die Kunst des Historikers besteht darin, die Spuren und Texte Langverstorbener zu interpretieren. Im Laufe meines Lebens als Historiker hat sich an dieser Aufgabe etwas grundlegend verändert. Vor der jeweils umbruchartigen Veränderung ist es dem Exegeten möglich, die Verben und Substantive des Textes auf Tätigkeiten und Dinge zu beziehen, die in der Reichweite seiner eigenen sinnlichen Erfahrung liegen. Nach dem Umbruch verliert sich diese Fähigkeit. Ganz besonders deutlich wird diese Wasserscheide, die den Historiker von seinem Objekt trennt, wenn der erlebte Körper das Subjekt seiner Geschichtsschreibung ist. Dies hat gestern Frau Dr. Duden im Referat zur Körpergeschichte der erlebten Schwangerschaft überzeugend dargestellt. Ich erlebe es als schwindelerregend, wie tief sich hier die Sprach- und Erlebnisweise im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte geändert hat.

In kürzester Zeit hat sich die Vorstellung vom substantivierten Begriff „Leben“ durchgesetzt. Im Vietnamkrieg gab es noch den Bodycount der Feinde, nur Amileben wurden gerettet. Aber schon kurz darauf wurde es selbstverständlich, daß wir wissen müssen, wann ein Leben beginnt und wann es endet.

Lebensqualität war um 1969 plötzlich da. Sogleich wurde vom Arzt gefordert, die Verantwortung für das Leben zu übernehmen. Biomediziner entdeckten ihre Kompetenz für das Leben.

Für den, der sich mit der Geschichte des Wohlbefindens, mit der Geschichte der Gesundheit befaßt, ist es eindeutig, daß mit dem Aufkommen des Lebens und seiner Qualität, die dann auch Gesundheit genannt wird, der Faden zerrissen ist, der das, was heute so heißt, mit dem Vergangenen verbinden könnte. Gesundheit ist zur Skala geworden, auf der die Lebensfähigkeit eines Immunsystems gemessen wird. Die Reduktion der Person auf ein Immunsystem entspricht verführerisch der Reduktion der Schöpfung auf ein Weltsystem, auf die Gaia Lovelocks. Und in diesem Zusammenhang läßt sich dann leicht Verantwortung als Selbststeuerung eines Immunsystems verstehen.

So lieb es mir wäre, das Wort Verantwortung für mein Tun und Lassen — das erst um das Jahr 1920 als philosophischer Begriff aufkommt — in die Zukunft zu retten, ich kann es aus diesem Grund nicht tun. Nicht in erster Linie deshalb, weil hier durch den Slogan von der Selbstregelung der eigenen Lebensqualität, durch den Systembezug, Sinnlichkeit gelöscht, Verwaltung als heilbringend verklärt und Politik auf Rückkopplung reduziert wird, sondern weil hier Gott gelästert wird.

Ich bitte Sie, hier genau auf meinen Ausdruck zu achten. Ich bin Christ, doch wenn ich hier über Gotteslästerung spreche, so möchte ich als Historiker und nicht als Theologe verstanden werden. Nur wenn Sie mir als Historiker folgen, kann ich für mein Argument Tragfähigkeit fordern. Respektvoll, aber ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, habe ich mir erlaubt, Ihre Einladung anzunehmen, um Ihrer Absicht zu widersprechen. Sie wußten, daß ich dies tun würde.

Meine Gründe habe ich nun erklärt: Sehnsucht nach dem, was Gesundheit und Verantwortung in der vor kurzem erst zerbröselten Moderne sein konnten, überlasse ich Romantikern und Aussteigern. Ich halte es für eine Perversion, die Namen von gewichtigen Scheinbarkeiten, die nicht in die Computer- und Medienwelt passen, zur Verinnerlichung und zur Verkörperung system- und informationstheoretischer Vorstellungen zu verwenden. Ich halte den Verzicht auf diese Scheinbarkeiten für eine wirkliche Möglichkeit. Die Übung in diesem Verzicht nenne ich eine epistemische Askese. Aus dieser Askese kann eine der Gegenwart entsprechende Praxis der Leidenskunst erwachsen.

Worauf es jetzt ankommt, ist zu verstehen, daß alle zentralen Begriffe, mit denen ich hier umgehe, zutiefst westlichen Ursprungs sind: Gesundheit wie Verantwortung, das Leben wie die Askese — und Gott. Sie sind durch einen Jahrhunderte währenden Glauben in die Welt gesetzt und weltlich mächtig geworden. Nur wenn wir die Geschichte der Gesundheit und des Lebens in ihrem historischen Zusammenhang verstehen, begründet sich die Leidenschaftlichkeit, mit der ich vom Verzicht auf das Leben sprechen kann. Ich gebe Dirk von Bötticher vollkommen recht, wenn er dazu T. S. Eliot zitiert:

Where is the Life we have lost in living?
Where is the wisdom we have lost in knowledge?
Where is the knowledge we have lost in information?
The cycles of Heaven in twenty centuries
Bring us farther from God and nearer to the Dust.

Eliot fragt hier nach dem Leben von Gott her. Nach dem Leben, von dem Christus in Johannes 11 sagt: „Ich bin das Leben“. Das kannte Aristoteles nicht. Aristoteles kennt lebende Wesen, die sich dadurch von allen anderen unterscheiden, weil sie eine „psyche“ haben, nicht das Leben. Dem Leben kommt erst im 18. Jahrhundert — als einer weltlichen Erscheinung — jene dominante und ausschließliche Bedeutung zu, die ihm den Charakter einer eigenen Antwort verleiht. Nicht von Gott her, sondern aus der Welt. Lamarck und Treviranus, die in bewußter Abkehr von den naturgeschichtlichen Klassifikationen die Biologie als „die Wissenschaft vom Leben“ begründeten, waren sich damals — 1801 — des grundsätzlich Neuen ihres Gegenstandes wohl bewußt. Dieses Leben, das seine Entstehung den Bedingungen der Welt verdankt, ist zutiefst westlich-christlich bestimmt und nur als Perversion zu verstehen, in der der fleischgewordene Gott sich als das Leben bezeichnet und jeden zu diesem Leben ruft.

Das ist Mysterium. Jeder Mensch, der sich ernst mit fast zweitausend Jahren Geschichte beschäftigt, kann einfach nicht leugnen, daß nicht nur einzelne Mystiker, sondern große Kulturen zwischen Nowgorod und Santiago de Compostela, zwischen Upsalla und Mon Reale diesem Mysterium gehuldigt haben. Das ist historische Tatsache, auch für den Historiker, der keinen Sinn und keinen Begriff hat, worum es sich da handelt. Und ebenso eindeutig und unzweifelhaft ist für ihn die Ableitung des biologischen Lebensbegriffes aus diesem christlichen Mysterium. So gesehen ist die Vorstellung vom Leben, das sich auf die Erhaltungsphase eines Immunsystems reduzieren läßt, nicht nur Idol, nicht nur Fratze, sondern Lästerung. Und so gesehen ist der Wunsch zur Verantwortung für die Qualität dieses Lebens nicht einfach dumm oder frech, sondern sündhaft.

[*Ort und Identität der Einlader wissen wir nicht und wollen wir auch nicht wissen. -Red.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1992
, Seite 50
Autor/inn/en:

Ivan Illich:

Ivan Illich, geboren in Wien, lebte abwechselnd in Mexico City, Guernavaca, Berlin, Göttingen, ab und zu in Salzburg, selten in seiner Heimatstadt. Er war Professor an allen möglichen Universitäten und gilt als der bedeutendste Kulturphilosoph ökologischer Observanz.

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Begriffsinventar