FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1965 » No. 140-141
Bruno Kreisky

Gespräch mit dem Osten

Thesen über Österreichs Außenpolitik

In einer Zeit, da viel geredet und wenig gesagt wird, müssen Ausnahmen sorgfältig registriert werden. Nachstehend drucken wir daher die Präsentation einer österreichischen Außenpolitik, deren geistiger Hintergrund von der Donaumonarchie bis zum Gespräch mit den kommunistischen Nachbarn reicht. Die Rede wurde am 28. Mai 1965 vor der Paasikivi-Gesellschaft in Helsinki gehalten.

„Als Mitte Oktober 1918“, schrieb der große österreichische Staatsmann Karl Renner,

die Niederlage besiegelt und die Auflösung der Habsburgischen Monarchie gewiß war, als sich die Nationen Österreichs und Ungarns zu ihrer Konstituierung rüsteten, schien es nicht ausgeschlossen, obschon kaum wahrscheinlich, daß irgendein Abkommen zwischen den Nationen zur einverständlichen Liquidierung der habsburgischen Verlassenschaft gelingen und dabei die Wirtschaftsgemeinschaft der Donauvölker, die für alle ein unbestrittener Segen war, aufrechterhalten bleiben könnte.

Victor Adler, Gründer der österreichischen Sozialdemokratie, erklärte damals:

Wir erkennen das Selbstbestimmungsrecht ohne Vorbehalt und ohne Einschränkung an. Das deutsche Volk in Österreich soll seinen eigenen demokratischen Staat, seinen deutschen Volksstaat bilden, der vollkommen frei entscheiden soll, wie er seine Beziehungen zu den Nachbarvölkern, wie er seine Beziehungen zum Deutschen Reich regeln soll. Er soll sich mit den Nachbarvölkern zu einem freien Völkerbund vereinigen, wenn die Völker dies wollen. Lehnen aber die anderen Völker eine solche Gemeinschaft ab oder wollen sie ihr nur unter Bedingungen zustimmen, die den wirtschaftlichen und den nationalen Bedürfnissen des deutschen Volkes nicht entsprechen, dann wird der deutsch-österreichische Staat, der — auf sich selbst gestellt — kein wirtschaftlich entwicklungsfähiges Gebilde wäre, gezwungen sein, sich als ein Sonderbundstaat dem Deutschen Reich anzugliedern.

Karl Renner und Victor Adler — beide führende Politiker der Monarchie — haben einen freien Bund jener Völker gemeint, die bis dahin zu Österreich-Ungarn gehörten.

Unter ganz anderen Auspizien entstand die Zweite Republik. In der Eröffnungssitzung des Nationalrates am 19. Dezember 1945 sagte Staatskanzler Dr. Renner am Ende seines mit stürmischem Beifall aufgenommenen Rechenschaftsberichtes der provisorischen Staatsregierung:

Vom Burgenland bis zum fernen Vorarlberg, von der Thayagrenze im Norden bis zum Karawankenwall im Süden ein einmütiges, freudiges, vorbehaltloses Bekenntnis zu Österreich!

Am 15. Mai 1965 haben wir im Schloß Belvedere in Wien in Anwesenheit des Präsidenten der Generalversammlung der Vereinten Nationen, in Anwesenheit des Präsidenten der Beratenden Versammlung des Europarates, in Anwesenheit der Außenminister der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion die zehnjährige Wiederkehr des Tages feierlich begangen, an dem die vier Großmächte mit uns den österreichischen Staatsvertrag abgeschlossen und unterzeichnet haben.

Der Friedensvertrag von Saint-Germain vom 10. September 1919 besiegelte das Schicksal der österreichisch-ungarischen Monarchie, der Staatsvertrag von Wien hat die unabhängige und demokratische Republik Österreich wiederhergestellt.

In einem sehr wichtigen Prinzip sind der Friedensvertrag von Saint-Germain und der Staatsvertrag von Wien einander gleich. So übernahm nach dem Friedensvertrag von Saint-Germain Österreich — wie ich gezeigt habe, gegen seinen Willen — die Verpflichtung, sich jeglicher Handlung zu enthalten, die mittelbar oder unmittelbar seine Unabhängigkeit gefährden kann. Im Staatsvertrag von Wien wird im Artikel 4 Österreich auferlegt, keinerlei Vereinbarung mit Deutschland zu treffen oder irgendwelche Maßnahmen zu treffen, die geeignet wären, unmittelbar oder mittelbar eine politische oder wirtschaftliche Vereinigung mit Deutschland zu fördern oder seine territoriale Unversehrtheit oder politische oder wirtschaftliche Unabhängigkeit zu beeinträchtigen.

Es ist gar keine Frage, daß der Artikel 88 des Vertrages von Saint-Germain und der Artikel 4 des Staatsvertrages von Wien im wesentlichen Österreich die gleiche Verpflichtung auferlegen. Doch wie verschieden haben darauf das österreichische Volk und die österreichische Regierung reagiert!

Republik der Träumer

Als 1918 im Gefolge des verlorenen Krieges die österreichisch-ungarische Monarchie auseinandergebrochen war, nachdem die Versuche, sie in einen großen Bundesstaat der Völker zu verwandeln — wie es Karl Renner seit Beginn des Jahrhunderts immer wieder gefordert hatte —, zu spät unternommen wurden und deshalb scheitern mußten, wurde die Republik gegründet, die übrigens damals durch den Willen ihrer konstituierenden Versammlung Deutsch-Österreich hieß. Die eine Hälfte unseres Volkes hat damals um ein versunkenes Imperium getrauert, die andere vom Aufgehen in einem neuen Reich geträumt. Niemand konnte sich vorstellen, wie das Leben in dem neu entstandenen kleinen Staat weitergehen sollte, der, aller seiner Hilfsquellen beraubt, solange wie möglich als Besiegter unter Siegern, die in Wirklichkeit nicht gesiegt hatten, gehalten werden sollte. So konnte die Erste Republik nicht wirklich gesunden. Neben die strukturelle Krise, die sich aus der Zerreißung eines organisch gut gegliederten wirtschaftlichen Gebietes ergab, trat die konjunkturelle Krise, die Ende der Zwanzigerjahre Österreich wirtschaftlich nahezu vernichtete.

Im Jahr 1937 gab es in Österreich 464.000 Arbeitslose, heute praktisch keine. Unser Export betrug 1937 nach heutiger Kaufkraft etwa 12 Milliarden Schilling, 1964 mehr als 40 Milliarden. Wundert man sich da, daß damals aus unserer außenpolitischen Schwäche und aus unseren wirtschaftlichen Krisen ein Zustand innerer Spannungen erwuchs, an dessen Ende der blutige Bürgerkrieg stand?

Hegel sagte einmal, daß „die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, daß die Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben“. Was Österreich betrifft, möchte ich Einspruch anmelden. Wir haben die Trauer um das große Österreich überwunden und sehen das alles in einem historischen Zusammenhang. Und wir haben den Traum vom Großdeutschen Reich ausgeträumt.

Wir sind in einem großen Reich mit Slawen und Magyaren vereinigt gewesen, und dieses große Reich ist im Ersten Weltkrieg zerfallen. Wir sind 1938 in das Großdeutsche Reich einverleibt worden, und als es im Zweiten Weltkrieg zusammenbrach, wurden wir unter seinen Trümmern nahezu begraben. Die Geschichte hat uns eine harte Lektion erteilt.

So empfinden wir die Unabhängigkeit Österreichs nicht mehr als ein uns auferlegtes Joch, wir bejahen sie nicht nur freudig, sondern wir gestalten und untermauern sie bewußt durch unsere Neutralitätspolitik.

Man kann immer wieder hören, daß uns diese Politik von außen auferlegt oder aufgezwungen worden wäre. Die Idee, daß sich Österreich zur Politik der Neutralität entschließen sollte, war aber durchaus nicht neu. Schon 1933 entstand der Gedanke einer völkerrechtlichen Neutralisierung Österreichs. Er wurde verbunden mit dem weiteren Gedanken, daß, gerade wenn wir politisch neutralisiert werden, jene wirtschaftlichen Verbindungen mit den Nachbarn erst möglich werden, deren Österreich, den politischen Machtkämpfen der Großmächte entrückt, im Interesse seiner Volkswirtschaft bedarf.

So wurden wir neutral

Bundespräsident Dr. Renner schrieb in der „Wiener Zeitung“ vom 19. Jänner 1947: „Wiederholt ist darauf hingewiesen worden, daß die Republik Österreich für die Zukunft eine ähnliche Rolle und Bestimmung beansprucht, wie die Schweizer Eidgenossenschaft.“ Bundespräsident Körner gab im „Journal de Genève“ seiner Auffassung Ausdruck, daß die Schweiz einem „endgültig befreiten Österreich auch ein Vorbild der politischen Weisheit sein wird, überall gute Freunde zu haben, aber nach keiner Richtung hin sich einseitig zu binden“.

Die Neutralität als außenpolitische Maxime eines befreiten Österreich ist in der einen oder anderen Form immer wieder zur Diskussion gestanden. Der ehemalige Außenminister Dr. Gruber ersuchte über Wunsch der Bundesregierung Ministerpräsident Nehru, zu sondieren, ob man in Moskau zum Abschluß des Staatsvertrages bereit wäre, falls sich Österreich zu einer Politik der Neutralität entschließen würde. Außenminister Molotow hatte dem bei ihm vorfühlenden indischen Botschafter Menon eine eindeutige Absage mit der Bemerkung erteilt, daß Österreichs Bekenntnis zur Neutralität für den Abschluß des Staatsvertrages nicht genüge. Das war im Sommer 1953. Knapp zwei Jahre später schreibt der in Österreich akkreditierte schwedische Botschafter, Sven Allard, der elf Jahre lang die Ereignisse aus nächster Nähe beobachten konnte, in seinen Erinnerungen:

Bei einem Mittagessen des ehemaligen Staatssekretärs Dr. Kreisky — das dieser am 17. März 1955, also ungefähr eine Woche vor Abgang jener sowjetischen Note, die einen entscheidenden Wendepunkt darstellte, in seiner Wohnung gab — war die Frage der Neutralität Gegenstand eines Gespräches. An diesem Mittagessen nahmen neben dem sowjetischen Gesandten Koudriawzew der damalige Vizekanzler Dr. Schärf, der Chef der Politischen Abteilung im Außenministerium, Minister Dr. Schöner, und einige Diplomaten und Beamte teil. Nach Beendigung des Mittagessens warf Kreisky in einem engeren Kreis der Gäste die Frage des Staatsvertrages auf und versuchte, Herrn Koudriawzew dazu zu bringen, etwas deutlicher zu präzisieren, was Außenminister Molotow in seiner Rede vom 8. Februar 1955 unter ‚Garantien gegen einen neuen Anschluß‘ verstanden habe. Koudriawzew versuchte, diesen Fragen Kreiskys auszuweichen und kritisierte die Haltung der österreichischen Regierung ... Im weiteren Verlauf des Gespräches kam Kreisky wieder auf die Frage der verlangten Garantien zum Schutz der österreichischen Unabhängigkeit zurück ... Herr Koudriawzew erwiderte, daß es in erster Linie auf die österreichische Regierung ankäme, hier konkret formulierte Vorschläge an die Sowjetunion zu erstatten. Kreisky faßte diese Äußerung als eine klare Einladung zu einer Initiative auf, ging zu seinem Bücherschrank und holte den Text des Vertrages heraus, der im Zusammenhang mit dem Wiener Kongreß 1815 abgeschlossen wurde. Mit deutlicher Stimme las er hierauf die Bestimmungen vor, die damals zum Schutz der schweizerischen Neutralität vereinbart wurden. Indem er sich zu Koudriawzew wandte, stellte er die Frage, inwieweit die Sowjetunion bereit wäre, ähnliche Bestimmungen — d.h. eine Neutralität nach schweizerischem Vorbild — als befriedigende Garantie für Österreichs Unabhängigkeit anzusehen. Herr Koudriawzew, der mit Interesse zuhörte, reagierte besonders stark, als die Worte ‚die ständige Neutralität der Schweiz‘ erwähnt wurden. Er erklärte zur größten Überraschung von uns allen, daß er sich seinerseits vorstellen könnte, daß dieser Vorschlag die Grundlage von Verhandlungen sein könnte.

Im April 1955 begab sich die österreichische Regierungsdelegation, der neben Bundeskanzler Ing. Raab, Vizekanzler Dr. Schärf und Außenminister Ing. Figl auch ich angehörte, nach Moskau. Am 12. April 1955 fand eine erste Besprechung im Kreml statt, in der Molotow feststellte, daß nach Meinung der Sowjetunion die Frage des Abschlusses des Staatsvertrages genügend vorbereitet sei, um jetzt zu einer Lösung zu kommen. In einer späteren Sitzung, nachdem verschiedene Gespräche zwischen uns und den sowjetischen Vertretern stattgefunden hatten, kam Molotow abermals auf die Frage der Sicherung der österreichischen Unabhängigkeit zu sprechen. Er erinnerte an die Erklärung des österreichischen Bundespräsidenten vom Jahre 1952 und bemerkte, daß die Schweiz als Beispiel für die Sowjetunion sehr interessant wäre. Außerdem habe der amerikanische Außenminister Dulles im Jahr 1954 erklärt, daß der Status der Neutralität ein Ehrenstatus für einen Staat dann sei, wenn er von diesem freiwillig gewählt wurde. Die Republik Österreich hätte nach dem Staatsvertragsentwurf die Möglichkeit, die Neutralität so wie die Schweiz zu wählen. Die Sowjetregierung hoffe, daß die österreichische Regierung diesen Vorschlag positiv aufnehmen und eine Deklaration abgeben wird, in welcher ausdrücklich festgestellt wird, daß für Österreich künftig das Prinzip der Neutralität Geltung haben soll.

Nach Wiederaufnahme der Sitzung, die zwecks interner Beratung der Österreichischen Delegation unterbrochen worden war, schlug die österreichische Delegation folgenden Passus vor, der dann auch im Moskauer Memorandum Aufnahme gefunden hat:

Im Sinne der von Österreich bereits auf der Konferenz von Berlin im Jahr 1954 abgegebenen Erklärung, keinen militärischen Bündnissen beizutreten und militärische Stützpunkte auf seinem Gebiet nicht zuzulassen, wird die österreichische Bundesregierung eine Deklaration in einer Form abgeben, die Österreich international dazu verpflichtet, immerwährend eine Neutralität der Art zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird.

Die österreichische Neutralität ist völkerrechtlich jener der Schweiz ähnlich. In dem Umstand aber, daß Österreich Mitglied der Vereinten Nationen ist, besteht eine Parallele zu allianzfreien und neutralen Staaten, wie Finnland, Schweden und Irland. Wir nehmen daher wie diese Staaten an friedensbewahrenden Aktionen — im Rahmen unserer gesetzlichen Möglichkeiten — teil.

Die österreichische Bundesregierung hat — wie auch die schweizerische Regierung — von allem Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, daß durch die neutrale Stellung Österreichs keines der Grund- und Freiheitsrechte seiner Staatsbürger berührt wird.

Die Neutralität ist uns also nicht aufgezwungen worden, sie hat sich in einer bestimmten weltpolitischen Konstellation von selber angeboten. Darüber hinaus halte ich die Neutralität für die unserer historischen, geographischen und wirtschaftlichen Lage adäquate außenpolitische Maxime. Je uneingeschränkter wir uns zu ihr bekennen, desto stärker wird die Stellung Österreichs in Europa sein, desto größer unsere Unabhängigkeit und desto gesicherter unsere Freiheit.

Die österreichische Bundesregierung hält die Charta der Vereinten Nationen für den grundlegenden Kodex des Wohlverhaltens der Völker und die Institution der Vereinten Nationen für den geeigneten Rahmen aller Bemühungen um eine friedliche Weltordnung. Auch der Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser geht auf die Initiative der Vereinten Nationen zurück; die österreichische Regierung hofft, daß dieser Vertrag allmählich ausgeweitet und in ein allgemein verbindliches Instrument der Vereinten Nationen für alle Staaten verwandelt werden wird.

Österreich hat an der Konferenz der blockfreien Staaten in Kairo nicht teilgenommen. Wir haben uns dabei von der Erwägung leiten lassen, daß Österreich sich seine Handlungsfreiheit gegenüber jeder Art von Gruppenbildung also auch gegenüber einer solchen von blockfreien Staaten bewahren will. Die Bundesregierung hat es sich zur Gewohnheit gemacht, zu den großen internationalen Problemen im allgemeinen nur im weltweiten Rahmen der Vereinten Nationen Stellung zu beziehen.

Die bündnisfreien Staaten der Welt können heute im wesentlichen in zwei Hauptgruppen zusammengefaßt werden: in Neutrale und Neutralisten. Beiden ist gemeinsam, daß sie frei von militärischen Bündnissen mit den Supermächten sind. Die allianzfreien Staaten in Europa — Jugoslawien ausgenommen — bekennen sich zur Demokratie und zum politischen Pluralismus. Sie unterscheiden sich dadurch in ihrer politischen und ideologischen Haltung grundlegend von den allianzfreien Staaten, insbesondere in Afrika und Asien.

Diese Staaten haben ihre nationale Unabhängigkeit in jahrzehntelangen Kämpfen und schweren Auseinandersetzungen mit westlich-demokratischen Ländern, den früheren Kolonialmächten, errungen, was Ressentiments entstehen ließ, die zu überwinden einer Generation kaum möglich sein wird. Sie sehen daher in der Regel in unseren demokratischen Einrichtungen nichts, was für sie besondere Attraktion hätte. Jedenfalls messen sie unseren politischen Lebensformen keine so grundlegende Bedeutung bei, wie wir es tun.

Ich glaube, daß den neutralen und neutralistischen Staaten eine immer größere Bedeutung zukommt. In der gegenwärtigen Epoche der Weltpolitik werden die Reibungszonen immer zahlreicher, definitive Lösungen immer schwieriger. Wir müssen zufrieden sein, wenn wir eine Ruhigstellung dieser Gefahrenherde erreichen. Hier haben die neutralen und die neutralistischen Staaten eine echte, immer stärker anerkannte Funktion auszuüben, da sich die einen und die anderen jeweils des Vertrauens der rivalisierenden Mächte erfreuen.

Integration laut Adam Smith

Zu den großen Fragen der österreichischen Außen- wie Innenpolitik gehört die Frage der Beteiligung Österreichs an der europäischen Integration. Ich glaube, daß man die historische Bedeutung der sich gegenwärtig in Europa vollziehenden Entwicklung nicht entsprechend würdigt.

Ihre wirtschaftliche Bedeutung liegt einfach in der Tatsache begründet, daß sich die Ergiebigkeit der Arbeit aus dem Maß an möglicher Arbeitsleistung ergibt. Die berühmte These Adam Smiths „The division of labour is limited by the extent of the market“ gilt heute mehr denn je. Ich betrachte die Entwicklung zum europäischen Großmarkt — zur europäischen Integration — als einen Prozeß, der im Kausalzusammenhang mit der wirtschaftlichen, technologischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Europa überhaupt steht.

Darüber hinaus hat die europäische Integration einen großen und durchaus friedlichen politischen Sinn: die dauernde Überwindung der Gegensätze zwischen den europäischen Völkern, jener Gegensätze, die in der Geschichte bis 1945 die Ursache von schweren kriegerischen Auseinandersetzungen waren.

Übersehen wir auch nicht den kulturellen Aspekt der Integration. Der europäischen Kulturkonferenz in Basel im Oktober 1964 wurde eine Reihe neuer Projekte unterbreitet: Schaffung eines Zentrums für Höhere Studien auf dem Gebiet der europäischen Koordination und Integration; engerer Zusammenschluß der europäischen Universitäten zwecks Erleichterung der Freizügigkeit von Studenten und Professoren; Förderung der Mehrsprachigkeit an den europäischen Instituten; Gründung eines internationalen Ausbildungszentrums für höheres Verwaltungspersonal; Herausgabe eines europäischen Handbuches der Geschichte; Schaffung eines europäischen Dissertationszentrums. Die wissenschaftliche Forschung soll überall dort besser koordiniert werden, wo die nationalstaatliche Basis zu schmal ist oder wo solche Koordinationen im Interesse der europäischen Bewußtseinsbildung liegen: Arbeit auf dem Gebiet der Demokratie und Landesplanung; Forschungszentrum für Molekularbiologie; Untersuchung des Zusammenhanges von Geistes- und Naturwissenschaften; Schaffung eines gemeinsamen Sekretariats, um die Arbeit der verschiedenen europäischen Stiftungen effektiver zu gestalten; Schaffung einer ständigen Konferenz der europäischen Kultur, mit der Aufgabe, den Kontakt und die Arbeitsteilung zwischen den Institutionen mit europäischem Tätigkeitsbereich zu gewährleisten.

Für Österreich stellt sich die Frage nach dem Maß der Beteiligung an der europäischen Integration. Wir sind nach reiflichen Überlegungen zu der Auffassung gelangt, daß die Mitgliedschaft bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit der österreichischen Neutralität und mit den staatsvertraglichen Verpflichtungen nicht vereinbar wäre. Und wir suchen gegenwärtig durch Verhandlungen mit der EWG, über deren Resultat und Zeitdauer ich heute wenig zu sagen vermag, ein Arrangement zu finden, das mit unserer Neutralität und dem Staatsvertrag vereinbar ist. Diese Frage ist ohne Zweifel für die österreichische Wirtschaft von, großer Bedeutung, denn der Anteil der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an unserem Export beträgt ungefähr 50%, der der Europäischen Freihandelsassoziation nähert sich 20% und der Anteil der europäischen Oststaaten — Jugoslawien inbegriffen — beträgt ungefähr 17-18%.

Auf einer Konferenz der EFTA in Wien [1] wurde ein neuerlicher Versuch unternommen, mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Kontakt zu treten. Wir müssen uns darüber klar sein, daß es Ende 1967 im demokratischen Europa zwei Handelssysteme, zwei große gemeinsame Märkte geben wird, die voneinander getrennt sein werden. Ich glaube, daß in dieser Tatsache eine ernste Krisen-Ursache erblickt werden muß, die ernsteste seit dem Ende des Krieges. Wir haben in Europa in den letzten Jahren ein Wirtschaftswachstum erlebt, das einzigartig in der Wirtschaftsgeschichte dieses Kontinents ist. Das heißt, in einer etwas vereinfachten Sprache, daß wir ununterbrochen neue Produktionsstätten errichtet haben und daß wir uns, so fürchte ich, einer Euphorie der immerwährenden Prosperität hingeben. Es besteht nun die Gefahr, daß es zu beträchtlichen Überkapazitäten in verschiedenen wichtigen Industriezweigen kommt und daß dies besonders deutlich zu Ende dieses Jahrzehnts in Erscheinung treten wird. Wenn es uns nicht gelingt, in einer durchaus pragmatischen Weise in Europa Großmärkte zu schaffen, wobei man sich viele Wege, die dorthin führen, denken kann, dann müßte man nur zu einer sehr pessimistischen Prognose kommen.

Die EFTA-Konferenz in Wien hat beschlossen, diese Probleme zum Gegenstand gemeinsamer Beratungen der EWG- und EFTA-Staaten auf Ministerebene zu machen. Das wäre, wenn diese Einladung angenommen wird, ein, wie ich glaube, sehr taugliches Mittel, die einmal gescheiterten Verhandlungen über eine große Freihandelsassoziation in Europa wieder aufzunehmen, allerdings in einer Situation, die wesentlich verschieden von der ist, die seinerzeit bestand. Ich kann mir nicht vorstellen, daß verantwortungsbewußte Staatsmänner eine solche Einladung blank zurückweisen könnten. Das müßte zwangsläufig auch auf politischem Gebiet einen Desintegrationsprozeß herbeiführen, der nicht weniger gefährlich wäre als der wirtschaftliche.

Was den Handel Österreichs mit den kommunistischen Ländern betrifft, sind wir an einer Entwicklung des Wirtschaftsverkehrs mit diesen Staatshandelsländern sehr interessiert. Aber es gibt natürlich Grenzen einer solchen Entwicklung. Sie liegen in der Aufnahmefähigkeit unseres Marktes für Waren aus diesen Staaten.

Unser größter Nachbar ist die Bundesrepublik Deutschland. Die Beziehungen entwickeln sich auf der Basis zweier befreundeter unabhängiger Nachbarstaaten. Ich will gerne betonen, daß die Bundesrepublik nicht nur offiziell, sondern auch in ihrer Öffentlichen Meinung dieser Tatsache in einer Weise Rechnung trägt, der ich vollste Anerkennung zollen muß. So sind die Beziehungen zwischen Österreich und der Bundesrepublik frei von Ressentiments und frei von Reminiszenzen. Es ist selbstverständlich, daß Österreich der friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands, also dem deutschen Problem schlechthin, große Aufmerksamkeit schenkt.

Bande zu Italien

Zwischen Österreich und Italien bestehen jahrtausendealte kulturelle Bande. Aus Italien kamen die großen Impulse im Reich der Musik und der darstellenden Kunst. Italien ist unser zweitgrößter Handelspartner. Umso schmerzlicher ist es für uns — und für viele einsichtige Italiener —, daß es bis heute nicht möglich war, das Südtirol-Problem einer beide Teile befriedigenden Lösung zuzuführen. Ohne Frage hätte die Grenze im Jahr 1918 an der Salurner Klause gezogen werden sollen, so wie es auch viele gute Italiener verlangten. [2] Dazu kam es weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 1946 wurde das Pariser Abkommen über Südtirol abgeschlossen, in dem der Südtiroler Bevölkerung volle Gleichberechtigung mit den Einwohnern italienischer Sprache im Rahmen besonderer Maßnahmen zum Schutz des Volkscharakters, der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung des deutschsprachigen Bevölkerungsteiles zugesichert und die Ausübung der autonomen regionalen Gesetzgebung und Vollzugsgewalt zugesagt wurde. Zwischen der österreichischen und der italienischen Regierung ist nun über die Erfüllung dieses Abkommens ein Streit entstanden, der schließlich vor die Vereinten Nationen getragen wurde und zu einer Resolution führte, die von der Generalversammlung am 31. Oktober 1960 einstimmig angenommen wurde.

In dieser Resolution wird den beiden Parteien aufgetragen, Verhandlungen mit dem Ziel zu führen, eine Lösung aller Differenzen hinsichtlich der Durchführung des Pariser Abkommens zu finden. Falls diese Verhandlungen nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraumes zu befriedigenden Ergebnissen führen, soll eine Lösung der Differenzen durch eines der in der Charta der Vereinten Nationen vorgesehenen Mittel gesucht werden. Diese UNO-Resolution ist für uns von besonderer Bedeutung, weil sie uns eine eindeutige Verhandlungslegitimation, die bis dahin von Italien bestritten wurde, gegeben hat.

Was wir wollen, ist die Erfüllung des Pariser Abkommens, d.h. ein hohes Maß von Selbstverwaltung für die Viertelmillion Südtiroler, die wir als eine österreichische Minderheit in Italien betrachten. Darüber hinaus wollen wir, daß alle Meinungsverschiedenheiten, die sich in Zukunft im Zusammenhang mit dieser Frage ergeben, einer unparteiischen Schieds- und Vergleichsinstanz zur Austragung übergeben werden. Darum gehen die Verhandlungen, und ich kann nur der Hoffnung Ausdruck geben, daß es möglich sein wird, diese Frage bald einer für die Südtiroler annehmbaren Lösung zuzuführen.

Was nun die Beziehungen zu den kommunistischen Staaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa anbelangt, möchte ich dazu einige grundsätzliche Bemerkungen machen. Wir in Österreich haben die Gewohnheit, nicht nur jene Staaten als unsere Nachbarn zu betrachten, mit denen wir gemeinsame Grenzen haben. Für uns sind die Staaten des ganzen Donauraumes unmittelbare Nachbarn, ebenso jene, mit denen uns jahrhundertealte enge Beziehungen verbinden, z.B. Polen. Mit all diesen Staaten beginnen sich die Beziehungen rasch zu verbessern. Jugoslawien war der erste Staat, mit dem es zu Vereinbarungen über offene Fragen gekommen ist, so daß praktisch heute das Verhältnis vollkommen friktionsfrei und freundschaftlich ist. Mit Bulgarien und Rumänien sind die Beziehungen vollkommen normalisiert, das Gleiche gilt für Polen. Mit Ungarn haben wir unsere Beziehungen nun auf eine neue, durchaus positive Grundlage gestellt. Gegenüber der Tschechoslowakei gibt es noch das große und schwierige Problem der Kompensation für jene Vermögenschaften, die Österreichern nach dem Kriege entzogen wurden.

Voraussetzung einer realistischen Politik gegenüber den Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas scheint mir zu sein, daß wir deren gegenwärtige Entwicklung, die Auflockerung, die sich vollzieht, nicht als eine Entwicklung weg vom Kommunismus, sondern innerhalb des Kommunismus betrachten. Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir kommunistische Staaten vor uns haben, Staaten, die auch in Zukunft unter einer kommunistischen Regierung stehen werden. Wir müssen uns aber gleichzeitig davor hüten, diese Länder über einen Leisten zu schlagen. Wir müssen vielmehr verstehen, daß es Unterschiede gibt zwischen Ungarn, Tschechen, Südslawen und Ostslawen, Kroaten und Polen. Es gilt der Geschichte jedes einzelnen dieser Staaten aufmerksam Rechnung zu tragen, vor allem der historischen Tatsache ihrer jahrhundertelangen Bedrückung, Unfreiheit und nationalen Unselbständigkeit.

Unsere Politik muß eine der demokratischen Präsenz sein. Wir müssen uns deutlich als demokratischer Staat erweisen. Ein Beispiel dafür: Als sich Österreich zu einer Politik der Zusammenarbeit mit Polen entschloß, machte ich dem polnischen Außenminister einen Vorschlag: „Sprechen Sie bei uns über den Rapacki-Plan, und ich spreche bei Ihnen über das, was wir über die Voraussetzungen der Koexistenz zu sagen haben.“ Tatsächlich wurde mir Gelegenheit gegeben, im Institut für auswärtige Beziehungen in Warschau meine Auffassungen über dieses Thema darzulegen. [3] Mein Auditorium bestand aus Universitätsprofessoren und Dozenten, hohen Staatsfunktionären, Journalisten — immerhin Leute, die in Polen das geistige Leben wesentlich beeinflussen. Meine Rede wurde ungekürzt in der Zeitschrift des polnischen Institutes für internationale Angelegenheiten abgedruckt. Dasselbe habe ich dann in Bukarest und Budapest getan und werde es in Sofia tun. Selbstverständlich haben der bulgarische, der ungarische und der rumänische Außenminister Gelegenheit bekommen, bei uns in Wien zu sprechen.

Weil wir uns stark fühlen ...

Diese Politik wird von beiden Regierungsparteien vertreten. Bundeskanzler Dr. Klaus, der gleichzeitig auch Bundesparteiobmann der Österreichischen Volkspartei ist, hat dazu voriges Jahr erklärt:

Wenn wir in letzter Zeit wiederholt zu erkennen gegeben haben, daß wir eine besondere Rolle, die Österreich in der Weltpolitik erfüllen kann, auch darin sehen, die Politik nach dem Osten hin zu aktivieren, so nicht, weil wir ideologisch aufgeweicht oder bereit sind, stückweise in einer Annäherungspolitik an kommunistische Regime unsere Substanz zu opfern, sondern im Gegenteil, weil wir uns ideologisch stark genug fühlen, weil wir von der Richtigkeit unserer Ideen, unseres Gesellschaftsbildes überzeugt sind, ist es uns möglich, Gesprächssituationen mit unseren östlichen Nachbarn zu akzeptieren.

Österreich und seine Hauptstadt Wien sind das Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses der Integration von Völkern und Kulturen. In diesem Teil Europas hat sich Germanisches und Romanisches mit Magyarischem und Slawischem tausendfach verbunden, kam es seit Jahrhunderten zur Konfrontation der großen Religionen, des Katholizismus und Protestantismus, der Orthodoxie und des Judentums. Das alles hat uns ein kulturelles Erbe hinterlassen, das unauflösbar ist. Die Verantwortung, die sich daraus für Österreich ergibt, wird von uns in steigendem Maße empfunden. Ich bin weit davon entfernt, daraus allzuweitgehende Schlüsse auf eine besondere Rolle Österreichs zwischen Ost und West zu ziehen.

Österreich und die Schweiz, die beiden neutralen Alpenrepubliken, stellen von der pannonischen Tiefebene bis zu den Bergen des Jura eine Zone des weltpolitischen Disengagement dar, die geographisch präzisiert ungefähr 810 km in der Länge und in der Breite zwischen 40 und 290 km umfaßt. In den letzten Jahren sind die Schweiz und Österreich in steigendem Maße klassische Begegnungsplätze geworden, und ich will nicht leugnen, daß ich darin einen Sicherheitsfaktor erster Ordnung für Österreich erblicke.

Das entscheidende Ziel der österreichischen Außenpolitik ist es, Zentraleuropa zu einer Region echter Entspannung zu machen, frei von Einflußnahme der Großmächte. So sehr Ambitionen im Leben des Einzelnen ihre Bedeutung haben mögen, so sehr haben wir in Österreich aus der Geschichte gelernt, daß sich in der Beschränkung außenpolitischer Ambitionen der Meister zeigt.

[1Vgl. Economicus: ... daß man kunnt’ hinüberrücken, FORVM XII/ 138-139.

[2Vgl. Claus Gatterer: Der Freund stand links, FORVM IX/101 und 102.

[3Bruno Kreisky: Voraussetzungen der Koexistenz, FORVM VII/76.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
August
1965
, Seite 349
Autor/inn/en:

Bruno Kreisky:

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