FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 132
Christian Broda

Gesellschaft und individuelle Freiheit

Die individuellen Freiheitsrechte sollen die Privatsphäre des einzelnen in der Gesellschaft schützen. Das ist die geläufige Begriffsbestimmung. Was das Bestehen oder Nichtbestehen von Freiheitsrechten in der Gesellschaft für die Menschen wirklich bedeutet, hat die Geschichte der großen europäischen Revolutionen von England 1648 bis Ungarn 1956 gezeigt.

Es hat viele ökonomische und politische Ursachen für jede einzelne dieser gesellschaftlichen Umwälzungen gegeben. Auslösendes Moment für jede dieser Revolutionen aber war der Ruf nach gesicherten Freiheitsrechten. Er war der heiße Atem der Revolution und ihre Seele.

Verweigerte Freiheitsrechte haben die Menschen immer wieder veranlaßt, ihre äußersten Kräfte zur Umgestaltung der Gesellschaft anzuspannen und ihr Höchstes einzusetzen — das Leben.

In Österreich werden die Grund- und Freiheitsrechte im wesentlichen durch das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867, gemäß Artikel 149 unserer Bundesverfassung ein Bestandteil der Verfassung, verfassungsgesetzlich geschützt. Das Staatsgrundgesetz kann als die Niederschrift der Ergebnisse der Revolution von 1848 gelten. Wie so oft in der Geschichte hatte sich der Schauplatz des Geschehens von den Barrikaden in die parlamentarischen Beratungszimmer verlagert. Aus den Revolutionären von 1848 waren die Redaktoren des Staatsgrundgesetzes von 1867 geworden.

Die Daten lassen aufhorchen. Der Grundrechtskatalog unserer Verfassung ist in seinen wesentlichen Teilen hundert Jahre alt. Er ist ein Kind der bürgerlichen Revolution des Jahres 1848. Die Formulierungen von 1867 gehen auf den Grundrechtskatalog des Reichstages von Wien bzw. Kremsier zurück, der damit seinen hervorragenden Platz in der österreichischen Verfassungsgeschichte ein für allemal bestätigt hat.

Die im Staatsgrundgesetz aufgezählten Rechte sind subjektive, persönliche Rechte. Sie sind verfassungsgesetzlich geschützt, das heißt sie können nur mit qualifizierter Mehrheit des Parlaments abgeändert oder eingeschränkt werden, soweit eine solche Einschränkung nicht überhaupt eine Gesamtänderung der Bundesverfassung bedeuten würde. Der einzelne, der sich in diesen Rechten verletzt fühlt, kann Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof erheben.

Die Anhänger des sogenannten Naturrechts glauben, daß es Rechte sind, die dem Menschen „naturrechtlich“ zustehen, unabhängig davon, ob sie durch positive Verfassungsbestimmungen festgelegt werden. Eine Diskussion darüber ist eine Diskussion über Fragen des religiösen Glaubens. Sie ist eine Diskussion über theologische Fragen, wie Kelsen überzeugend nachgewiesen hat. Es ist hier nicht der Platz, sie zu führen.

Das Staatsgrundgesetz ist positives Verfassungsrecht. Es enthält eine Zusammenfassung der individuellen Freiheitsrechte des bürgerlichen Zeitalters als Ergebnis einer langen, geschichtlichen Entwicklung. Die Zusammenstellung ist so plastisch, daß zum Vergleich auf andere Grundrechtskataloge anderer Länder gar nicht zurückgegriffen werden muß. Das gilt für ältere Vorbilder ebenso wie für modernere und perfektere Verfassungen.

Ich möchte bei Tatsachen und Schlußfolgerungen aus ihnen bleiben.

Daß es nach dem erschütternden Erleben mit den totalitären Diktaturen zwischen den Zwanziger- und den Fünfzigerjahren unseres Jahrhunderts zu jener Wiederbelebung der Grundrechtsdiskussion gekommen ist, deren Zeugen wir auch in Österreich sind, ist nur verständlich. Übereinstimmend wird von Verfassungsjuristen, Konservativen und sozialistischen Sprechern in Österreich eine Neukodifikation der Grundrechte verlangt. Das Regierungsprogramm der Bundesregierung kündigt Vorarbeiten dafür an. Die Gesellschaftsentwicklung regt dazu an, die Schwerpunkte dieser neuen Grundrechtsdiskussion aufzuspüren.

Ich sehe sie in folgender Richtung:

  • Die individuellen Freiheitsrechte in der modernen Industriegesellschaft sind unteilbar. Sie dürfen nicht einzelnen Klassen oder Bevölkerungsgruppen vorbehalten bleiben, wenn nicht die ganze Gesellschaft unfrei werden soll.
  • Die Bedeutung der individuellen Freiheitsrechte ändert sich mit der Gesellschaft. In der Industriegesellschaft muß der Kreis der individuellen Freiheitsrechte entsprechend der Gesellschaftsentwicklung erweitert werden, wenn der Begriff der Freiheitsrechte nicht entwertet werden soll.
  • Die Bedeutung der individuellen Freiheitsrechte für die Gesellschaft hängt von ihrer Effektivität ab. Die individuellen Freiheitsrechte stehen und fallen mit der Wirksamkeit des Rechtsschutzes, den der einzelne erhält.

Klassen in der Defensive

Wir wissen aus der Geschichte, daß „Grundrechte“ immer dann geltend gemacht werden, wenn ökonomisch und gesellschaftlich unterdrückte Klassen oder Bevölkerungsgruppen nach vorwärts drängen und Freiheit für sich und ihre Klassen- oder Gruppenangehörigen verlangen. So proklamieren diese Klassen ihre Freiheitsrechte und trachten sie zu verwirklichen.

Wenn die revolutionären Vertreter revolutionärer Ideen sich durchgesetzt haben und ihre ökonomische und gesellschaftliche Machtposition befestigt haben, verlieren sie das Interesse am weiteren Ausbau und an der Verfolgung der eben noch vertretenen Grundsätze. Glühende Begeisterung schlägt nicht selten in Teilnahmslosigkeit, ja Feindseligkeit gegenüber Programmpunkten von gestern um. Aus Angreifern gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeit und politische bzw. soziale Unterdrückung werden Verteidiger der eigenen, eben errungenen wirtschaftlichen und politischen Machtpositionen.

Im Interesse der Verteidigung dieser Machtpositionen ist man nur zu rasch bereit, die individuellen Freiheitsrechte, die jetzt von neu nachdrängenden sozialen Gruppen und Klassen als ihre Freiheitsrechte gefordert werden und deren Erweiterung den Klasseninteressen der nachdrängenden Klassen entsprechend verlangt wird, zu suspendieren, einzuschränken oder auch ganz aufzuheben.

Von der Geringschätzung der individuellen Freiheitsrechte durch die in der Gesellschaft an ihr Ziel oder ihre Ziele gekommenen Gruppen, von der Gleichgültigkeit ihnen gegenüber bis zu ihrer Beseitigung ist oft nur ein Schritt.

Die gesamte Geschichte der bürgerlichen Revolution und des bürgerlichen Zeitalters seit bald zwei Jahrhunderten — in Österreich seit hundert Jahren — ist von diesem Spannungsverhältnis zwischen Klassen, die sich siegreich in der Gesellschaft durchgesetzt und etabliert haben, und nachdrängenden Klassen, die zu gesellschaftlicher Macht streben, erfüllt. Auch, die österreichische Geschichte und Verfassungsgeschichte legt von diesem Handlungsablauf Zeugnis ab. Es war die Tinte noch nicht trocken geworden, mit der das Staatsgrundgesetz 1867 zur allgemeinen Kundmachung freigegeben worden war, und schon betraten jene Kräfte die politische Bühne, denen das Bürgertum in „Koalition“ mit dem Feudal-Adel „ihre“ Freiheitsrechte streitig machte. Dem 21. Dezember 1867 — Kundmachungsdatum des Staatsgrundgesetzes — folgte am 13. Dezember 1869 die erste große Demonstration der Wiener Arbeiter für das Koalitionsrecht vor dem Parlament.

Der Kampf um Koalitionsrecht, allgemeines Wahlrecht und Achtstundentag beginnt — gegen jene, die eben das Staatsgrundgesetz den vor ihnen herrschenden Klassen abgerungen hatten.

In allen diesen Kämpfen verhalten sich gesellschaftliche Macht und individuelle Freiheitsrechte wie kommunizierende Gefäße. Nur in umgekehrtem Sinn. Steigt die gesellschaftliche Macht einer Klasse oder Gruppe, sinkt ihr Interesse an der Erhaltung und am Ausbau der individuellen Freiheitsrechte. Die Revolution entrollt die Fahne der individuellen Freiheitsrechte, die Reaktion zieht sie ein.

In all diesen Jahrzehnten war es die „Rechte“, deren Programm und noch mehr deren Praxis die Beschränkung und Durchlöcherung der individuellen Freiheitsrechte in der Gesellschaft zum Inhalt hatte.

Das ist die geschichtliche Wahrheit, die einem so beredten Sprecher des zeitgenössischen Konservativismus, wie dem früheren Unterrichtsminister Dr. Drimmel so viel zu schaffen macht. Wir haben es jüngst in seiner Polemik gegen die „Linke“ in der Wiener Tageszeitung „Die Presse“ [1] lesen können.

Wenn die Auseinandersetzungen zwischen den Klassen, die angreifen, und jenen, die sich verteidigen, einen gewissen Punkt erreicht haben, setzt die Umkehr ein. Solange die bisher herrschenden Klassen ihre Machtpositionen noch verteidigen, wollen sie nicht viel von den Freiheitsrechten wissen. Sobald sie aber aus ihren Machtpositionen verdrängt worden sind oder von anderen Klassenkräften abgelöst worden sind, entdeckten sie ihr Herz für die individuellen Freiheitsrechte. Dieser klassische geschichtliche Handlungsablauf hat auch in unserer Zeit seine Gültigkeit. Allerdings ist er heute nicht immer so leicht zu erkennen. Die Auflösung traditioneller, althergekommener Klassengrenzen, das Fluktuieren der Klassenscheidungen und Gruppierungen in einer Gesellschaft, die nicht zu jener Polarität von Bourgeoisie und Proletariat geführt hat, die Marx voraussagte, komplizieren den Handlungsablauf und verhüllen seine früher einmal klaren Konturen vor dem Beschauer.

Konservative werden zu beredten Verfechtern der individuellen Freiheitsrechte des einzelnen in einer Gesellschaft, die ihnen viel von ihrer früheren ökonomischen und gesellschaftlichen Machtposition genommen hat. Das ist die soziologische Wurzel des konservativen Interesses an den individuellen Freiheitsrechten, die wir heute — unter naturrechtlichen Losungen — beobachten.

Aber nicht nur die Angehörigen geschichtlich vormarschierender Klassen verlangen individuelle Freiheitsrechte. Das Verlangen nach dem Schutz des einzelnen durch Freiheitsrechte soll auch den Rückzug geschlagener Klassen aus der Geschichte abdecken helfen.

Man sollte also in der Grundrechtsdiskussion der Gegenwart bei aller zeitweiligen Weggemeinschaft mit Konservativen — meist sind es Vertreter des Naturrechts — keine Illusionen darüber haben, daß die konservativen Verfechter der Neufassung der individuellen Freiheitsrechte vielfach eine andere Interessenrichtung in ihrer Beziehung zu den individuellen Freiheitsrechten in der Gesellschaft haben müssen als etwa die Sozialisten. So verschieben sich manche Vorzeichen. Die Gesellschaft ähnelt einer Drehbühne, die dem Zuschauer einmal diese Seite der Bühne, einmal jene Seite der Bühne mit manchem Geschehen, das einander entgegengesetzt ist, zeigt.

Renaissance des Naturrechts

Die Renaissance des Naturrechts in der Grundrechtsdiskussion ist in erster Linie dadurch zu erklären, daß konservative Gruppen, deren gesellschaftliche Machtposition eingeschränkt oder reduziert wird, zur Verteidigung ihrer Position aktiv in die Grundrechtsdiskussion eingreifen. Ihre Sprecher sind verständlicherweise mit allen Ideologien, die sich naturrechtlicher Anschauungen und Argumente bedienen, eng verbunden. Theologen, Anhänger des Naturrechts waren ihre Lehrer. Mit naturrechtlichen Gedankengängen von Jugend an, in allen Stadien der Erziehung und des Studiums auf das engste verbunden, vertreten die Konservativen ganz selbstverständlich, wenn sie zur Verteidigung ihrer Grundrechte antreten, naturrechtliche Auffassungen.

Die Erfahrungen mit dem totalen Staat taten ein übriges, um viele Zeitgenossen zu veranlassen, nach Sicherheit und Gewißheit gegen eine Wiederkehr des totalitären Regimes, wenn auch unter neuen Vorzeichen, zu suchen. Sie glaubten, sie im „Naturrecht“ gefunden zu haben. Der jüngst verstorbene katholische Soziologe A. M. Knoll [2] hat dem gegenüber in seiner letzten Schrift darauf hingewiesen, welche Verwirrungen gesellschaftlicher und politischer Systeme in der Geschichte der Neuzeit „naturrechtlich“ gerechtfertigt worden sind.

Ein einprägsames Beispiel dafür, wie eine Gruppe, die zu einem guten Teil ihren Kampf um gesellschaftliche Macht unter der Fahne der Grund- und Freiheitsrechte geführt hat, selbst an die Macht gekommen, Jahr für Jahr den Freiheitsrechten gegenüber gleichgültiger wird, um sie schließlich in ihr Gegenteil zu verkehren, bildete der Bolschewismus.

In der Desintegration des Leninismus zum Stalinismus wurde in einem weltgeschichtlichen Prozeß von dramatischer Eindringlichkeit gezeigt, daß die individuellen Freiheitsrechte unteilbar sind. Man kann sie nicht suspendieren, einschränken oder für bestimmte Klassen oder Gruppen der Bevölkerung aufheben, ohne die Freiheit in der Gesellschaft selbst aufzuheben. Die Hoffnung Lenins, Rede- und Meinungsfreiheit in der Partei aufrechterhalten zu können, während sie außerhalb der Partei suspendiert wurden, hat sich als Irrtum von weltgeschichtlichen Ausmaßen und Folgen erwiesen. Schon am 27. Februar 1921, wenig mehr als drei Jahre nach der Oktoberrevolution und noch zur Zeit der vollen Gesundheit und Arbeitsfähigkeit Lenins, forderten die Kronstädter Matrosen — die Vorhut der Revolution — während ihres heroischen Aufstandes gegen die kommunistische Regierung auf Flugblättern und Plakaten in Leningrad: [3]

Genossen, haltet die revolutionäre Ordnung aufrecht. Fordert in entschlossener und in organisierter Weise: Freilassung aller Sozialisten und parteilosen Arbeiter, die sich in den Gefängnissen befinden! Aufhebung des Belagerungszustandes, Herstellung der Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit für alle Arbeitenden! Freie Wahl der Betriebsräte, der Gewerkschaftsvertreter und der Sowjets!

Ich glaube, daß es dieses Dokument, das ein einziger Aufschrei nach Gewährung von individuellen Freiheitsrechten ist, verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden. Nur in einem irrten die revolutionären Matrosen von Kronstadt vor mehr als 40 Jahren: es genügt nicht, die individuellen Freiheitsrechte „für alle Arbeitenden“ zu fordern. Die individuellen Freiheitsrechte sind unteilbar. Auch die Geschichte des bolschewistischen Rußland sollte es beweisen.

Die „Diktatur des Proletariats“ wird zur Diktatur über das Proletariat; die Diktatur der Partei wird zur Diktatur über die Partei; die Diktatur des Zentralkomitees wird zur Diktatur über das Zentralkomitee; immer weniger üben immer mehr Macht aus; alle Fesseln der Willkür, die die individuellen Freiheitsrechte darstellen, werden abgestreift, am Ende steht die totalitäre Macht des einen Mannes, die so unbeschränkt ist, daß er in der Lage ist, alle anderen in ihr Unglück zu stürzen.

Was es bedeutet, wenn es in der Gesellschaft keine individuellen Freiheitsrechte mehr gibt, darüber gibt ein Dokument Aufschluß, von dessen Bedeutung wir alle wissen und aus dem ich hier einiges zitieren möchte. Ich meine die Rede Chruschtschews auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Frühjahr 1956. Chruschtschew [4] sagte dort:

In diesen Jahren wurden Unterdrückungsmaßnahmen in größtem Maßstab durchgeführt, denen nichts Greifbares zugrunde lag und die schwere Verluste an Parteikadern zur Folge hatten. Dem NKWD wurde die niederträchtige Praxis gestattet, Listen von Personen zusammenzustellen, für deren Fälle das Oberste Militärgericht zuständig war und bei denen die Urteile im voraus feststanden. Jeshow pflegte diese Listen zur Bestätigung der vorgeschlagenen Strafen an Stalin persönlich zu übermitteln. In den Jahren 1937 und 1938 wurden 38 solcher Listen mit den Namen vieler Tausender von Partei-, Komsomol-, Armee- und Wirtschaftsfunktionären Stalin zugesandt, und diese Listen wurden von ihm gebilligt. Ein großer Teil dieser Urteile wird gegenwärtig überprüft, und ein großer Teil von ihnen wird annulliert, da sie unbegründet sind und auf Fälschungen beruhen. Ich brauche hier nur zu erwähnen, daß seit 1954 der Militärsenat des Obersten Gerichts 7679 Personen rehabilitiert hat, zum großen Teil erst nach ihrem Tode.

Kann man besser darstellen, warum die individuellen Freiheitsrechte unteilbar sind, warum man sie weder suspendieren noch einschränken noch aufheben kann, ohne die Freiheit in der Gesellschaft aufzuheben? Die Hoffnung, daß man allen anderen die Freiheit nehmen kann, während man sie gleichzeitig einer ausgewählten „Elite“ erhält, ist trügerisch. Auch dazu leistete Chruschtschew in seiner berühmten Rede [5] einen Beitrag, an den ich erinnern möchte:

Es wurde festgestellt, daß von den auf dem XVII. Parteitag (1934) gewählten 139 Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees der Partei 98 Personen, das sind 70 Prozent, in den Jahren 1937 bis 1938 verhaftet und liquidiert wurden. (Das Protokoll verzeichnet Entrüstung im Saale!)

So wird auch verständlich, warum in der modernen Gesellschaft der Diktaturen des Ostens der Ruf nach mehr Rechtssicherheit und wirksamer geschützten individuellen Freiheitsrechten solchen Widerhall gefunden hat und so tiefgreifende revolutionäre Prozesse auslösen konnte. Je besser die wirtschaftlichen Verhältnisse werden, je solider die Grundlagen der modernen Industriegesellschaft gelegt werden, desto weniger sind jene, die in der totalitären Diktatur bereits auf wichtigen Kommandostellen von Wirtschaft und Gesellschaft stehen, bereit, auf jenes Minimum an wirksam geschützten — effektiven — individuellen Freiheitsrechten zu verzichten, welches das Leben überhaupt erst lebenswert werden läßt.

Wir stehen wieder auf jener Drehbühne, von der wir vorhin sprachen: Direktoren von Industriekombinaten, führende Techniker und Wissenschafter, Künstler, Schriftsteller, hohe Offiziere, sie alle wollen wissen, ob sie in Ruhe in der Position bleiben können, die sie sich geschaffen haben und die ihnen auch große materielle Vorteile bietet. Sie treten wie ihre Großväter für Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Redefreiheit ein. Morgen werden ihre Losungen Pressefreiheit und Koalitionsfreiheit sein, so wie es vor hundert Jahren in Österreich und vor fast 50 Jahren in Kronstadt der Fall gewesen ist.

Die veränderten Produktivkräfte und die mit ihnen veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse haben neuen Klassen und Gruppen gesellschaftliche Macht eingeräumt. Die moderne Industriegesellschaft ist eine Welt des Übergangs, des Abtretens alter herrschender und des Aufstiegs neuer herrschender Klassen. Die moderne Gesellschaft ist eine Welt sich auflösender, verwischender und fluktuierender Klassengrenzen. In dieser Welt des Übergangs erhält die nie still stehende Auseinandersetzung um die individuellen Freiheitsrechte neue Bedeutung. Keine Klasse vermag allein und keine Klasse vermag wirklich selbst zu regieren — auch die Arbeiter können nicht regieren, ohne aufzuhören, Arbeiter zu sein. Die gesellschaftliche Bedeutung der individuellen Freiheitsrechte als unentbehrliches Instrumentarium zur Ausübung von gesellschaftlicher Kontrolle über jene, denen gesellschaftliche Macht anvertraut ist, ist daher nur größer geworden.

[1Heinrich Drimmel: „Was ist heute links und was ist rechts.“ Eine Inventur des politischen Begriffshaushalts in polemischer Sicht. („Die Presse“, 29./30. August 1964.)

[2August Maria Knoll: „Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht.“ — Zur Frage der Freiheit. — Wien 1962, Europa-Verlag.

[3Zitiert nach Georg Scheuer: „Von Lenin bis ...“ Die Geschichte einer Konterrevolution, Wien 1957, S. 211.

[4Zitiert nach „Gericht über Stalin“, Chruschtschews historische Rede auf einer Sitzung der KPdSU am 25.2.1956, S. 13.

[5a.a.O., S. 7.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1964
, Seite 587
Autor/inn/en:

Christian Broda:

Dr. jur., Mitglied des Parteivorstandes der SPÖ, Bundesminister für Justiz.

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