FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1979 » No. 303/304
Claude Lévi-Strauss

Für Tier- und Pflanzenrechte

Wie wir als Art überleben können

Als Pazifist gescheitert

Grund- und Freiheitsrechte — das ist nichts Abstraktes, sondern jenes Konkrete, woran die Glieder einer Gesellschaft besonders hartnäckig festhalten wollen: eine bestimmte Zahl von Möglichkeiten, Handlungen, Verhaltensmustern — verwurzelt in der Vergangenheit dieser bestimmten Gesellschaft.

Daher kann man Grund- und Freiheitsrechte nicht definieren.

Man kann sie feststellen, im Rahmen dieser oder jener konkreten gesellschaftlichen Erfahrung. Also handelt es sich genaugenommen um eine ethnologische Untersuchung.

Viele Zeitgenossen sehen das anders. Ihr Ausgangspunkt ist ein fix und fertiges System. Das projizieren sie dann auf eine konkrete politische und soziale Realität. Die Methode stammt von Descartes; über Rousseaus Idee vom „Gesellschaftsvertrag“ gelangt sie in die Französische Revolution. Nichts ist gefährlicher als dieses abstrakte Systemdenken.

In der gesellschaftlichen Wirklichkeit geht es nämlich um ein historisch gewachsenes Kräftespiel von „Gewalten“, eine Balance von Gewichten und Gegengewichten. Klar herausgestellt haben das als erste Burke und Montesquieu.

Mein Beruf als Ethnologe hat mich für diese konkreten Gegebenheiten im Leben einer Gesellschaft sensibilisiert. Dazu kommt eine persönliche Erfahrung — sie liegt lang zurück. Als Student und auch schon im Lyzeum war ich Aktivist in der Sozialistischen Partei, später sogar Generalsekretär des sozialistischen Studentenverbandes. Wie alle meine Genossen in den Jahren 1930-1935 war ich Pazifist. Dann erlebte ich den Krieg und die Niederlage. Und ich begriff, daß mein Pazifismus ein großer Irrtum war. Politische Realität läßt sich nicht einsperren im Käfig schematischer Ideen.

Heute ist die Welt so komplex, so kompliziert, es gibt eine so unglaubliche Zahl von Variablen. Ich fürchte, daß diese Welt nicht mehr denkbar ist, zumindest nicht auf globale Weise.

Wie die meisten von uns reagiere auch ich weiterhin politisch auf die Weltereignisse. Aber ich bin mir bewußt, daß diese generalisierenden Reaktionen oberflächlich sind, eher emotional als analytisch.

Vorwissen ist Sklaverei

Daß ich Intellektueller bin, gibt mir keine besondere Autorität mehr. Ich habe kein Recht, meine Analysen lauthals öffentlich zu verkünden zur Aufklärung und Ergötzung meiner Zeitgenossen.

Ich glaube einfach nicht mehr, daß man das Leben der Gesellschaft — die Sehnsüchte der Männer und Frauen dieser oder jener Gesellschaft — hineinzwängen kann in einen universell anwendbaren Raster.

Man hat mich völlig mißverstanden, wenn man meinte, ich interessiere mich nicht für die Geschichte. Ich lese historische Bücher mit viel mehr Spannung als Philosophie oder Literatur. Die Lektüre historischer Bücher gibt mir das Gefühl, daß sich dabei meine ethnologischen Erfahrungen wiederholen. Wenn ich über die Geschichte einer bestimmten Epoche oder eines bestimmten Landes lese (derzeit über Japan, von wo ich gerade zurückkomme), dann merke ich: Jede historische Epoche hat etwas Originäres, Unwiederholbares, auf keine allgemeine Formel Reduzierbares. Das ist genau, was der Ethnologe vorfindet, wenn er sich mit einer entfernten Gesellschaft befaßt.

Nur: Die Geschichte, die mich interessiert, ist konkrete Geschichte, zusammengesetzt aus einer Fülle konkreter Ereignisse. Nachdem alles passiert ist, können wir begreifen, wieso und warum; aber es wäre unmöglich gewesen, vorauszusehen, warum alles so passierte und nicht anders.

Ich rebelliere gegen diese Anmaßung nicht etwa konkreter Geschichtsschreibung, sondern gewisser Geschichtsphilosophen. Jene fließende, ungreifbare, unvorhersehbar bunte Realität des historischen Werdens ersetzen sie durch ein fades System, durch eine Ideologie.

Nichts ist gefährlicher als der Versuch, alles über einen Leisten zu schlagen: die westlichen Gesellschaften und gleich auch die Gesamtheit der menschlichen Gesellschaften, einschließlich jener, welche die Ethnologen erforschen. Sie fügen sich nicht einer Definition, einem Code abstrakter Freiheitsrechte. Für viele dieser Gesellschaften würde es überhaupt nichts bedeuten; für viele andere wäre es ein Widerspruch zu ihrer eigenen, gelebten Erfahrung.

Freiheitsrechte schweben nicht im leeren Raum, sondern sind traditionell gebunden, historisch verwurzelt. Dies ist — bei uns wie anderswo — der Stoff, aus dem die Gesellschaft gemacht ist.

Geschichte ist irrational. Alle Gesellschaften sind irrational oder enthalten einen Großteil von Irrationalem. Es wäre ebenso absurd wie gefährlich, wollte man das leugnen — zugunsten papierener Richtlinien für eine total rationale Gesellschaft. Gesellschaft kann nicht rational sein, keine war es je, keine wird es je sein, damit muß man sich abfinden.

Atome ohne Liebe

Ich bin nicht der erste, der feststellt: Unsere moderne großräumige Gesellschaft hat die Tendenz, die Individuen auf auswechselbare Atome zu reduzieren, sie zu enteignen für den Profit einer zentralen und anonymen Gewalt.

Diese praktische Beobachtung führt auf eine etwas theoretischere Ebene: nämlich zu meiner These der Authentizität. Mit dieser Bezeichnung wollte ich den Forschungsgegenstand der Ethnologie definieren. Ihr geht es um das Niveau des Authentischen, zum Unterschied von Forschungen mit eher allgemeiner soziologischer Themenstellung.

Authentisches gibt es auch noch in unserer Gesellschaft überall dort, wo sich konkrete Beziehungen zwischen einzelnen abspielen.

Auf authentischem Niveau liegt z.B. das Leben in einer Gemeinde. Hier handelt es sich nicht nur und nicht vor allem um abstrakte Entscheidungen, sondern um solche, die sich auf Peter, Paul oder Hans beziehen; sie kennen einander, ihre persönlichen Schwächen, ihre Interessen, ihre Vorurteile. Ihr kollektives Leben beruht daher auf einer authentischen Wahrnehmung der Wirklichkeit: auf Wahrheit.

Ich glaube, daß es solches kommunales Leben noch gibt. Es scheint mir der größte Reichtum unsrer heutigen Gesellschaft zu sein. Bedauerlich, daß es das auf anderen Ebenen nicht mehr gibt.

In einer Gesellschaft traditioneller Art haben (oder hatten) die einzelnen das präzise Gefühl, daß jeder eine wertvolle Position innehat; jeder gehört einer Vielzahl von kleinen Körperschaften an, familiären, beruflichen, religiösen, ständischen Gliederungen. Dadurch kann er sich von den anderen unterscheiden. Dadurch kann er das Gefühl haben, eine unersetzliche Funktion auszuüben. Er hat Originalität.

Vielleicht hält auf diese Weise jeder seine Position für höher als die seines Nachbarn nicht weil er über Zwangsgewalt oder Ausbeutungsmacht verfügt, sondern einfach, weil seine Position gewisse kleine Unterschiede aufweist, die einen Wert darstellen: einen beinahe ästhetischen Wert.

Nichts tragischer als eine globale Gesellschaft aus Menschenstaub; jedes Individuum bloß ein Staubkorn. Zum Schutz des einzelnen scheinen mir Gliederungen unentbehrlich, die zwischen ihm und der Gesamtgesellschaft vermitteln.

Ich verehre Rousseau. Aber er hat sich furchtbar geirrt in seiner politischen Theorie. Vielleicht fühle ich mich deshalb ihm so nahe; er lehrt mich durch sein Beispiel: Der Intellektuelle muß auf der Hut sein vor sich selbst.

Der schamlose Humanismus

Natürlich ist eine Gesellschaft von der Größenordnung einer Gemeinde nicht dasselbe wie unsre riesigen gegenwärtigen Gesellschaften. Das ist die Tragik unsres politischen Denkens: Wir zehren von einem ideologischen Fundus aus ganz anderen, längst hinfälligen Voraussetzungen. Die heute noch fortwirkende politische Ideologie hatte als Ausgangspunkt entweder rein theoretische Modelle, Gesellschaften, wie es sie überhaupt nie gab — oder aber zwar wirkliche Gesellschaften, dann aber zeitgenössische, die nach Größe und Komplexheit mit den unsern völlig unvergleichbar sind.

Überdies sind die Freiheitsrechte, die man dem Menschen zuerkennt, bloß ein Sonderfall der Rechte, die wir der schöpferischen Kraft des Lebens überhaupt zuerkennen müssen. Das Freiheitsrecht des Menschen, sich individuell zu entfalten, gebührt ihm nur, wenn und soweit er anerkennt, daß es das Recht der übrigen lebendigen Natur gibt, sich desgleichen zu entfalten, in all den Arten der Tier- und Pflanzenwelt.

Das ist seltsam in unsrer Gesellschaft: Wir verehren bestimmte Synthesen von hoher Komplexität, namlich die Werke der großen Künstler. Wir bauen für sie Museen, vergleichbar etwa den Tempeln andrer Gesellschaften. Es schiene uns eine Katastrophe, wenn etwa das Werk Rembrandts zugrunde ginge. Und doch: Wenn dies einträte — ein andrer Maler könnte und würde, auf andre Weise, Werke schaffen, die diese Lücke füllten.

Hingegen ist es völlig ausgeschlossen — metaphysisch unmöglich, würde ich sagen —, daß eine ausgerottete Tier- und Pflanzenart ersetzt wird durch eine andre, ihr entsprechende. Während der Dauer des Lebens der Menschheit auf Erden ist dies undenkbar. Die lebendigen Arten der Pflanzen und Tiere sind ungleich komplexere Synthesen als jedes menschliche Kunstwerk. Aber wir behandeln sie mit totaler Gleichgültigkeit, totaler Verantwortungslosigkeit.

Man hat mir oft vorgeworfen, ich sei Anti-Humanist. Ich bin es nicht. Aber ich rebelliere gegen jenen schamlosen Humanismus, einerseits jüdisch-christlicher Herkunft, andrerseits Produkt der Renaissance und des Cartesianismus: der Mensch als absoluter Herr der ganzen Schöpfung. Das ist ein unmenschlicher Humanismus.

Alle Tragödien unserer Geschichte — Kolonialismus, Faschismus, Vernichtungslager — sind kein Widerspruch zu jenem Humanismus, den wir da seit Jahrhunderten praktizieren, sondern seine logische Verlängerung. Das ist doch ein und dasselbe: Der Mensch markiert eine unmenschliche Grenze zwischen sich und den übrigen Lebewesen — und landet bei unmenschlichen Grenzen innerhalb des Menschengeschlechts. Er separiert bestimmte, allein menschliche Menschenarten von anderen, untermenschlichen Menschenarten. Diese unterwirft er dann derselben Herabwürdigung, die er längst zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Lebensformen praktiziert.

Das ist die wirkliche Erbsünde. Sie treibt die Menschheit zur Selbstzerstörung.

Wer Tier & Pflanze nicht ehrt ...

Die Ehrfurcht des Menschen vor dem Menschen kann sich nicht auf eine spezielle Würde gründen, die nur ihm zukommt und die er sich selbst zuschreibt. Dann kann immer ein Teil der Menschen behaupten, daß sie die Menschenwürde verkörpern, und andre nicht.

Wir müssen von einer Art prinzipieller Demut ausgehen:

Nur eine Menschheit, die damit anfängt, auch alle Formen des Lebens außerhalb des ihren zu achten, kann sich davor bewahren, daß nicht alle Formen menschlichen Lebens die gehörige Achtung finden.

Demut vor dem Leben, denn es bietet uns die seltensten, erstaunlichsten Schöpfungen im ganzen uns bekannten Universum!

Unser großes Modell ist die Welt und die Natur. Das ist nicht nur ein repräsentatives Modell, sondern auch ein ästhetisches und moralisches.

Dieses Modell gehört an die Stelle des Konzepts der „Menschenrechte“, westlichen und sehr jungen Ursprungs! Man muß sich mit dem befassen, was andre Zivilisationen hervorgebracht haben. Als Ethnologe kann ich nicht übersehen: Die großen Zivilisationen des Ostens und Fernen Ostens, der Buddhismus z.B., sind die Quelle der großen Idee, daß alles Leben gleichen Wert hat.

Auch und gerade die sogenannten „primitiven“ Völker haben tiefe Achtung vor tierischem und pflanzlichem Leben. Diese Achtung drückt sich bei ihnen in Formen aus, die wir für Aberglauben halten. Aber das sind sehr wirksame Bremsen zur Erhaltung des natürlichen Gleichgewichts zwischen Menschen und ausgebeuteter Umwelt.

Mit solchen Auffassungen müssen wir zu einem philosophischen Konsens gelangen. Das ist besser als die naive Illusion, mit der wir uns das Monopol der Wahrheit anmaßen. Als ob es uns zukäme, den anderen „Menschenrechte“ zu oktroyieren, die wir aus unsrer engen westlichen Anschauung destilliert haben.

Nach einem solchen Wechsel der Perspektive wären wir viel stärker, viel besser imstande, anderen Völkern zu helfen im Kampf gegen den Despotismus.

Sorge um den Menschen ohne gleichzeitige solidarische Sorge um alle anderen Formen des Lebens — das führt die Menschen dazu, sich selbst zu unterdrücken, sich selbst auszubeuten.

Der Mensch Herr und Eigentümer der ganzen Natur — diese Idee beherrscht die modernen Diktaturen wie die westlichen liberalen Gesellschaften, gleichermaßen oder noch stärker. Ich glaube nämlich, daß die marxistisch-kommunistische totalitäre Ideologie nichts weiter ist als eine List der Geschichte, um die Verwestlichung der restlichen Völker voranzutreiben.

Poussin, Rembrandt, Rousseau, Kant sind ebensoviel wert wie eine Tier- oder Pflanzenart, aber nicht mehr. Die Grund- und Freiheitsrechte des Menschen — aller Menschen! — finden ihre Grenze genau in dem Moment, wo ihre Ausübung dazu führt oder zu führen droht, daß eine Tier- oder Pflanzenart ausgerottet wird.

Heiterer Pessimist

Ich weiß schon, daß wir Ochsen schlachten und Getreide schneiden — ich meine die unwiederbringliche Vernichtung einer ganzen Art.

Wir dürfen nicht — im Namen der „Menschenrechte“ — die Existenz einer Art bedrohen, die sub specie naturae genau so viel wert ist wie sub specie culturae eine menschliche Person.

Ich halte die These, die ich hier anbiete, für ein Mittel der Kommunikation und des Kompromisses zwischen verschiedenen Zivilisationen — ein wirksameres Mittel als unsere traditionellen westlichen „Menschenrechte“.

Ich glaube, daß ich damit kein zu großer Optimist bin. Aber ich akzeptiere lieber den Vorwurf des Pessimismus. Es muß nur ein Adjektiv dabei sein: heiterer Pessimismus.

Den Optimisten — die’s ja auch gibt — sage ich: Eure Chance ist der bescheidene Optimismus, nicht der fiebrige, wildgewordene! Wir leben noch immer in Umständen, die es gestatten, daß die Menschheit einen neuen Start versucht — ohne übertriebene Hoffnung, daß er gelingt.

© Le Monde, Paris

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1979
, Seite 36
Autor/inn/en:

Claude Lévi-Strauss:

Geboren am 28. November 1908 in Brüssel. Als er 1939 von ethnologischen Expeditionen in Zentralbrasilien nach Frankreich zurückkehrte, musste er aufgrund seiner jüdischen Abstammung 1941 aus der von den Deutschen besetzten Heimat fliehen. Bis zum Kriegsende ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der New York School for Social Research. Ab 1949 Professur für Anthropologie und Religionswissenschaften am Collége de France. Begründer des Strukturalismus.

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