FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1984 » No. 361/363
Jürgen Langenbach

Friß & stirb!

Zur Maschinisierung des Leibes • statt Festschmaus zum 30sten

Für Verena

Die Deutschen haben eine schwache Begabung für den Materialismus. Wo sie ihn haben, machen sie sofort eine Idee daraus, ein Materialist ist dann einer, der glaubt, daß die Ideen von den materiellen Zuständen kommen und nicht umgekehrt, und weiter kommt die Materie nicht vor. Man könnte meinen, es sind nur zwei Sorten von Menschen in Deutschland, Pfaffen und Pfaffengegner. Die Vertreter des Diesseits, hagere und bleiche Gestalten, die alle philosopischen Systeme kennen; die Vertreter des Jenseits, korpulente Herren, die alle Weinsorten kennen.

(Brecht)

Brechts stärkere Begabung für den Materialismus hat nach eigenem Bekunden inmitten von Paris, der Hauptstadt der rundum verfeinerten und geschärften Sinne, die Ehre der deutschen Philosophie und des deutschen Gaumens durch den genußreichen Verzehr eines Rindsbratens noch einmal gerettet. Aber jene vereinigende Wahrheit, die die abstrakten Trennungen der coupierten Materialismen bespötteln sowohl wie im eigenen Munde verzehren läßt, hatte sich schon zu Brechts Zeiten in die Restaurants der gehobenen Klassen zurückgezogen. Nur dort ließen sich die Versäumnisse des dialektischen Materialismus noch in der Pfaffenlüge spiegeln, die Wasser nur predigt; denn die materiellen Zustände können sich überhaupt nurmehr dort zu Ideen vergeistigen, wo Raum, Zeit und Sinn für jene Differenzen ist, von denen die Ideologien zehren und um deren Aufhebung die Kritik der Ideologien kämpft. Andernorts werden Differenz wie Differenzierungsvermögen statt hinaufgehoben zum Einheitsbrei eingestampft: In den Filialen der Abfütterungsindustrie ist der Materialismus schon fortgeschritten zum mechanischen, der die Vertreter beider Halbwelten nun auch noch um ihre bislang verbliebenen halben Wahrheiten beschneidet. Der industrialisierte Trog mit seiner technisch reproduzierbaren Masse läßt Ideen schon gar nicht mehr aufkommen, aber er betrügt auch die Korpulenz um die Lust am Anschwellen ihrer selbst.

Zwei Sorten

Brechts Tafel ist der Ort, an dem die Materie sich weder als roher Stoff noch als bloßes Wort in den Mund nehmen läßt. Vielmehr als jene Einheit von Geist und Natur, die durch die Kunst des Kochs Gegenstand wird und im Verzehr wiederum Leib wie Stimme gewinnt. Die Erzählung vorn opulenten Mahl weckt die Sehnsucht des Lesers nicht allein nach dem Braten, sondern auch nach dern Esprit, den er in der Runde der Speisenden entzündet; was der Mund von sich gibt, ist nicht unabhängig von dem, was und wie er es zu sich nimmt. Der Zusammenhang mag platt erscheinen, er ist auch so geworden. Daß der Mensch sei, was er esse, weil und wie er umgekehrt auch nur esse, was ihm als Menschen schmecke und bekomme — dies Credo des sinnlichen Materialismus muß den Hohn des vernünftig Gewordenen seit bald 150 Jahren mit demselben Unrecht über sich ergehen lassen. Mit wachsendem Unrecht gar. Die von Feuerbach argumentierte Bildungsfähigkeit der menschlichen Sinne erlebt ihre Wahrheit zur selben Zeit, als auch noch die letzte Hoffnung seines schärfsten Kritikers auf die Bildungsfähigkeit der Arbeit von den Produkten ebendieser Arbeit aufgefressen wird. Feuerbach behält am Ende gegen Marx recht, wenngleich nur in den Negativen, im Negativ der Mißbildungsfähigkeit der Sinne, aber auch im Negativ der Grenzen: Während die zur Großtechnik entfremdete Arbeit sich die Erde und den Menschen gleichermaßen untertan macht, bleibt der Magen verstockt; wenn Kopf und Glieder lange schon im Takt der Maschine marschieren und nach ihrer Logik rechnen, brechen seine Geschwüre auf; wie ein Stein liegt der Magen dem Fortschritt im Magen.

Der Prozeß der Produktion

Deshalb ist vom Essen zu reden, und vom gestörten Verdauen. Ist ersterem ablesbar, wie weit die Maschinisierung den menschlichen Körper bereits durchdrungen hat, so meldet die Rebellion des letzteren den Widerstand an, der die restlose Angleichung des Menschen an seine Maschine nur über seine Blähungen duldet. Noch fließen die Nährwerte nicht so glatt durch den Körper hindurch wie die Warenwerte in der taylorisierten Produktion an ihm vorbeifließen. Der Fortschritt freilich will solchen Widerspruch so wenig dulden wie jeden anderen, er macht sich seine Gedanken und kann in seinem Feldzug zur „Rationalisierung der Maschine Mensch“ wenigstens über die Aufnahmeorgange einen totalen Sieg verbuchen. Die Unterjochung der äußeren Sinne ist geglückt.

T.W. Adorno, nicht nur in Fragen der Eßkultur ein guter (wenngleich verschwiegener) Feuerbachianer und nicht nur in derselben Frage ein Stück geschmäcklerischer noch als Brecht, hat offenbar andere Braten zur riechen bekommen als dieser und deshalb beklagt, daß und wie in dem zur „Kalten Herberge“ heruntergekommenen vormaligen Gasthaus dem vormaligen Gast der Appetit verschlagen wird: „Die Arbeitsteilung, das System automatisierter Verrichtungen, bewirkt, daß keinem am Behagen des Kunden gelegen ist.“ Inzwischen nicht einmal mehr dem Kunden selbst, betritt er doch durch die Drehtür am Eingang eben jenes automatisierte System noch einmal, dem er gerade den Rücken gewandt hat; und verrichtet er doch in der einen wie der anderen Abteilung dieselbe leere Tätigkeit, unter deren Sinnlosigkeit er in Arbeit und Freizeit gleichermaßen zwangsintegriert wird. Ob ihm die verarbeitete Welt als unverständlicher Zeichenbrei aus dem Computer selbst entgegenquillt oder als ebenso ungenießbarer Materiebrei aus den von diesem gesteuerten Töpfen, macht schon gar keinen Unterschied mehr, es will geschluckt werden.

Vor & nach der Produktion · Simultanbild

Und es wird auch geschluckt. Das Einerlei des Ganzen bringt sich unabweisbar zwar nicht auf den Begriff, wohl aber auf den Plastikteller dort, wo nicht nur metaphorisch ausgelöffelt werden muß, was hineingebröckelt ist. Mag der Bildschirm am Arbeitsplatz der Pfaffen und ihrer Gegner immerhin noch schwarz oder rot umrandet sein, beim Essen verflüchtigt sich schließlich die letzte der Differenzen. Brechts Spottgestalten sind dort nicht mehr. Die Halbweltler treffen sich vielmehr in jener Mittelwelt, die eine andere Welt weder vor sich (in der Natur) noch hinter sich (in den diversen Ideenhimmeln) kennt und zuläßt. Die Mitte der Mittel macht sich auch in der Futtermittelindustrie nach beiden Seiten hin breit, sie rückt dem Eingangsmateriai wie dem Abnehmer auf den Leib und richtet beide nach ihrem Bilde zu. Der Reihe nach, den einen nach dem anderen und vermittelst des anderen.

Verwandlung und Veredelung der äußeren Natur hat zwar immer schon dem Züchter Profit, aber früher einmal dem Konsumenten auch Geschmack gebracht. Seit der Industrialisierung dessen, was immer noch Landwirtschaft heißt, sind beide Prioritäten in den Hintergrund getreten, die Natur wird inzwischen nach den Imperativen der Maschinen um und neu geschaffen: Was nicht ganz so widerstandslos zum Dauereierlegeautomaten denaturiert werden kann wie die Lemuren im Zwielicht der Futterbatterien, muß wenigstens seine Form anpassen; der maschinelle Zugriff der mechanischen Pflückgreifer gibt das Kriterium dafür, wie eckig und wie dick die Tomatenhaut werden muß und wie hoch der Getreidehalm wachsen darf; die in Formation fahrenden Erntetanks bestimmen durch ihren Aktionsradius, wie weit die Erde zur Beute ihrer Blitzkriege mit jenem Mono besät werden muß, an dem zum Hohn auch noch die Kultur an- und aufgehängt wird.

Das Ergebnis ist dann auch danach. Besser: Es ist gerade nicht danach, irgendwelche Differenzierungen seiner selbst preiszugeben und die Sinne dadurch zu Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit anzuregen. Denn am anderen Ende des Futterfließbandes wird dem Mund ein Etwas hineingeschoben, das zwar nicht Nichts ist, aber doch dessen Bestimmungslosigkeit teilt und zumindest mit dem Sensorium der von der Evolution bislang hervorgebrachten menschlichen Sinne nicht identifiziert werden kann: Der Grund liegt nicht allein im fehlenden Ausgangsmaterial, dessen fehlende Natur wird vielmehr erst noch mit dem fehlenden Geist der Maschinenköche verrührt. Weil solche Melange zwar ungenießbar ist, aber doch nicht so aussehen darf, eilt die Kunststoffindustrie sich selbst zu Hilfe und putzt den einen synthetischen Brei mit der Farbe des anderen Ketchups zur wenigsten optischen Differenz auf; auf das Signal dieser Tupfer haben dann die Reflexe der Masse vor dem Teller einzurasten.

Ganz allerdings hat sich der menschliche Geist aus diesem Geschehen denn doch nicht zurückgezogen; je weniger er sich in der Speise findet, desto aufdringlicher ruft er zu Tisch. Die Phantasie der Werbetexter treibt die von Brecht herausgestellte Dialektik auf ihre letzte Pointe: Das Wort wird wahrhaftig Fleisch und man muß es als solches in den Mund nehmen; daran wird man zwar nach wie vor nicht satt, wohl aber voll. Vielleicht auch irre, wenn nach Fischmehl riecht und nach Fischmehl schmeckt und Fischmehl ist, was da aus dem Altöl kreucht — und doch unnachgiebig darauf beharrt, es sei und heiße Huhn. Und es sei Huhn, weil es „Huhn“ heiße.

Wem der Zauber solcher Wandlung zwar den Magen, aber noch nicht das Hirn umdreht, erhält Gelegenheit, die göttliche Kraft der Namengebung zu bestaunen. Der nackten Kunstmaterie verleiht das beliebige Kunstwort eine Qualität, die beide nicht haben. Aus nichts und wieder nichts wird die zweite Schöpfung gekocht, die bessere Schöpfung. Mag der exotische Klang die Nähe jenes Paradieses gleich mitsuggerieren, in dem die Früchte weder mit dem Schweiß der Ausbeutung noch mit den Säften der Chemie getränkt sind (wenngleich das Land, in dem die Paradiesbäume wachsen, schon so entlegen ist, daß niemand mehr nachsehen kann, ob die Früchte auch wahr sind und nicht vielmehr aus der vollsynthetisierenden Retorte hinter der nächsten Fabrikwand herausgeclont werden); oder mag die neue Welt ihre Schönheit einsilbiger, aber dafür nicht leiser, als die Technik aussprechen, die sie ist, und nurmehr Chips und Flips und Mäcs auswerfen.

Beides darf es sein, das Dritte nicht. Die alte Natur muß draußen bleiben, denn inzwischen fürchtet nicht nur der Fleischer die Probe des Hundes; wie das Futter hat auch der Gefütterte den Adam abgelegt und als Ersatz die Urangst des Produzenten gleich mitgegessen: Der von der Verheißung des Ewiggleichen Angelockte erstarrt gemeinsam mit dem McDonald-Management vor der Drohung, der aufgehalste Papp möge am Ende doch nicht rein künstlich, sondern aus Regenwürmern zusammengekleistert sein. Der Bissen bleibt im Halse stecken, nicht nur, weil der Profit des einen und die Wohlfeile der Fülle des anderen in Gefahr geraten. Die Drohung geht tiefer, unter die Haut. Die Erinnerung an ein anderes Äußeres rührt an die Gewalt der Tabuisierung des eigenen Inneren, der schlafende Hund Es könnte aus der Wiege springen.

Deshalb droht nicht nur der Inhalt, vielmehr auch und mehr noch die Schrecksekunde selbst: Mit Stillstand. Das Innehalten aber ist der Feind schlechthin, es ließe zur Besinnung kommen und seinen Schwindel durchschauen, was in den Maelström des Fortschritts eingesogen ist und dessen Kreisen um nichts auf seine Wachstumsfahne heftet. Wie die Produktion duldet der Konsum keine Unterbrechung. Das Wunderbrot fährt ohne Ende aus der vollautomatisierten Backstraße vor, und wer auf es abgerichtet ist, hat ebenso ohne Ende daran zu kauen. An dieser Bewegung und als diese Bewegung läßt sich die Leere des Fortschritts deutlicher noch ablesen als an dem verschwundenen Inhalt selbst. Seit dem Kauen Inhalt und Ziel abhanden gekommen sind, hat es sich automatisiert; die Unterkiefer mahlen, auch wenn die Bäuche längst gestopft sind; das Metronom, das am Fließband den Takt schlägt, ist in die Kaumuskulatur eingewandert. Und zwingt dort den Körper in eine groteske Alternative. Brechts großes Essen kann sich zu Ferrers Großem Fressen überfressen und den Leib in höchstmöglicher Geschwindigkeit zu Tode füllen. Oder, harmloser und billiger zugleich, die Leere kann selbst Gestalt gewinnen und dem kauenden Muskel das Widerspiel des kauenden Gummis bieten.

Auch das Wiederkauen erinnert jedoch nicht so sehr an den Frieden der Kühe als an das gar nicht so langsame, dafür umso stetigere Mahlen der Mühlen des neuen Gottes: An den Lauf der Maschinen, der alles, was in seine Räder gerät, ebenfalls in Bewegung bringt. Mehr muß es werden und dies so schnell, daß man dem Östrogenkalb und dem Hybridweizen beim Wachsen schon zusehen kann. Oder doch wenigstens könnte, wenn dem Beobachter ein Standort der Ruhe bliebe, wenn ihm von den sich selbst loslassenden Mitteln nicht ebenso mitgespielt würde wie dem Material. Das fließende Band zwingt zum Tanz und das fließende Futterband will den Reigen in den Körper hineinführen.

Aber einer verdirbt das Spiel. Während der Mund sich schon mit unterschiedlich eingefärbter und aromatisierter Unkenntlichkeit stopfen läßt, hält der Magen stand. Er läßt sich nicht mit Eindimensionalität abspeisen, mag sie sich aufputzen, wie immer sie will; er reiht sich auf noch so viele Kommandos hin in die Reihen des Fortschritts nicht ein. Der Magen verweigert beides, den Inhalt und die Form (Bewegung), in die dieser sich aufgelöst hat; solche Widerborstigkeit erinnert unerschütterlich daran, daß es Inhalte und mit ihnen eine Differenz zur Form überhaupt einmal gegeben hat. Der Magen bewahrt deshalb die Würde des letzten Dialektikers. Gerade dann, wenn er sich krümmt.

Je tiefer aber die Sinnlichkeit in den Leib hineinflüchtet, um so verbissener setzt ihr die Körperregulierungsindustrie nach. Im Interesse der ganzen, der Großen Industrie. Deren geschichtlich beispielloser Angriff auf die Natur will auch dem Körper noch jene Reste von Körper austreiben, die den vorherigen Attacken standgehalten und die Ethik der Protestantischen Prediger wie den Drill der Preußischen Exerziermeister überlebt haben.

Sucht man Ursprung und Wesen der Großen Industrie in der Verwissenschaftlichung der Arbeitsteilung, dann findet sich eben dort, in den Hallen der Ford Company, auch jener Imperialismus begründet, der den Körper insgesamt und auf Dauer unter Kuratel stellen will. Zunächst einmal in der Arbeit. Henry Fords „Leben und Werk“ greift den Imperativ der Maschinen auf und gibt ihm Gestalt: im Fließband. Der Imperativ heißt Mehr und Schneller und unter seinem Druck teilt sich der Arbeitsprozeß in immer kleinere Schritte — ganz so, wie es der einzige, dafür umso beredtere Vorläufer des industriellen Fließbandes an seinem Material schon verführt: Die „Schiebebahnen, deren sich die Chicagoer Fleischpacker beim Zerlegen der Rinder bedienen.“ Mundgerecht werden die Happen zerlegt, aber der Mund ist nicht der des Menschen, vielmehr der einer Maschine in der Mitte zwischen bearbeitetem Gegenstand und arbeitendem Subjekt. Beider Körper werden zerteilt. der am fließenden Haken aufgehängte und der auf den vorgeschriebenen Handgriff geschmmpfte; der letztere sieht nur noch nicht so aus wie der erstere, wenigstens so lange nicht, wie es ihm gelingt, mit der Steigerung der Bandgeschwindigkeit Schritt zu halten.

Aber der Kopf der Maschine denkt weiter und weit über die Fabrik hinaus. Um das „persönliche Element so weit als möglich zu eliminieren“, fragen Fords Personalbureaus „niemals nach der Vorgeschichte des Arbeitssuchers“ und zahlen Fords Lohnbureaus über die höchsten Löhne im ganzen Land hinaus gar Prämien, die unmittelbar überhaupt nichts mit der Arbeitsleistung zu tun haben. Dafür umso vermittelter, denn so wenig das vorige erfragt wird, so unentrinnbar wird das neue Leben in den Griff genommen. Die Bureaus des Menschenfreundes haben noch eine dritte Abteilung: Die „Abteilung für soziale Fürsorge“ überwacht das „häusliche Leben der Arbeiter“ auf „einen gewissen Standard von Sauberkeit und Staatsbürgertum“ und entscheidet aufgrund dieses Examens erst, ob der Prüfling der „Lebensführungsprämie“ auch würdig ist.

Ob und wie tief Fords lange Nase den Arbeiter bis hinein in den Kochtopf seiner Frau verfolgt, wird zwar nicht überliefert, darf aber mit einiger Wahrscheinlichkeit unterstellt werden; denn solche Schnüffelei rundet nur das Bild dessen, der sich mit aller Glaubwürdigkeit als ersten Diener seines einzigen Herrn darstellt: Des technischen Fortschritts (und nicht etwa des Profits, der sich im Gefolge des Fortschritts schon ganz von alleine einstellt). Hilfstruppen, gleich welcher Couleur, sind herzlich willkommen: „Ich bin kein Gegner irgenwelcher Organisationen, deren Ziel der Fortschritt ist.“

Sie lassen sich dann auch nicht lange bitten und drängen von allen Seiten herbei. Vermutlich hat Ford in Detroit zwar weder Interesse noch Muße gefunden, die Druckwerke der österreichischen Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit zu studieren; gleichwohl hätte er freudig den Geist von seinem Geist in jener Begrüßungsrede wiedererkannt, die ein Vertreter des Proletariats einer ganz besonderen Maschine gewidmet hat: Im Roten Wien ist die erste Öffentliche Küche im Stil der neuen Zeit eröffnet: „Das Ganze hat mit unseren gewohnten Wirtshäusern nichts mehr zu tun. Das ist bei allen Heiligen der Kochkunst eine große Eßmaschine ... Maschinen arbeiten fehlerlos, verläßlich. Und der Mensch der Großstadt hat keine Zeit ... Tempo, Tempo — es ist Zeit auch für uns!“

Aber die internationalen Sozialisten mögen essen, so schnell sie können, die nationalen sind längst da; der Lauf des Fortschritts wird von jener Bewegung erst auf Touren gebracht, die sich auch so genannt hat. Die Handvoll Ford’scher Sozialingenieure kann das große Werk so wenig vollenden wie die eine Eßmaschine in Wien; die auch in Fragen des Essens und seiner sozialen Folgen gerisseneren Fortschrittler haben deshalb ihre Gulaschkanonen in der Öffentlichkeit aufgestellt und dort mit ihrem Eintopf das Volk zur Gemeinschaft zusammengeschossen.

Daß die Rechnung wieder ohne den Wirt, den Magen, gemacht war, konnten die Nazis sich leisten, hatten sie doch für die Leiden des Körpers ihre eigene Medizin. Die zuständige Wissenschaft wiederum kuriert zwar nicht ganz so total wie der Krieg, aber ihr Beitrag zur „radikalen Lösung der Arbeitslosenfrage“ zerrt nicht weniger an der Wurzel.

Vor & nach der Kur

Ein Eisenbart namens Franz Xaver Mayr geht zu Beginn der 30er Jahre die „Rationalisierung der Maschine Mensch“ vom Standpunkt des Arztes aus an, das heißt für ihn: vom Standpunkt des „Betriebsingenieurs dieser Maschine“. Und weil der Rationalisierungsingenius nicht nur Facharzt für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten in Karlsbad ist, sondern auch noch „volkswirtschaftlich und sozialpolitisch“ denkt und obendrein die Theorie der angebotsorientierten Marktwirtschaft vertritt, trifft sich in seiner Person die eine Schlichtheit mit der anderen zur Lösung der Welträtsel. Der Mensch ist demnach ein „Unternehmen zwecks Förderung und Speicherung von Kaufkraft“, aber verbohrt, wie der Mensch auch ist, hat er diese seine Bestimmung noch nicht bemerkt und will nicht kaufen, was und wieviel er „kaufen sollte“. Deshalb überzieht ihn seine Konsumträgheit zusehends mit Verfettung und kostet ihn überdies noch seinen Arbeitsplatz. Die Lösung des Teufelskreises liegt nach dieser Problemstellung nahe, sie “liegt auf dem leeren Teller: Ausgehungert muß die Festung werden, damit sie sich darauf besinnt, welche Art von Unternehmen sie zu sein hat. Ein „mehrwöchiges absolutes Fasten“ ist „nicht nur sehr leicht durchführbar“, sondern „auch vollkommen ungefährlich, ja sogar nützlich“. Und dies für alle Beteiligten. Das Nichts kostet nicht nur nichts, es hebt sogar die Produktivität, weil es nach des Wunderdoktors Rezeptur „leicht möglich wäre, jede Essenspause ausfallen zu lassen“. Bei fortschreitender Kur verkürzt sich der Darm und der Körper wird schlanker und schlanker. Mag selbst ein Gerippe an der Praxistür klopfen, der Medicus wird ihm allenfalls den Weg zu den Karlsbader Brunnen weisen und ihm im übrigen die Weisheit seiner Wissenschaft zu löffeln geben, wonach „diese Rationalisierungsweise für alle Fälle, auch für die elendesten, herabgekommensten nicht nur geeignet, sondern die geeignetste ist.“

Version für Spießbürger: „Du ißt was du bist“

Der Fortschritt hat des Dr. Mayr Mühen nicht gelohnt und seine „Rationalisierung der Maschine Mensch“ in den Staub der Antiquariate verbannt. Nicht etwa deshalb, weil die wissenschaftliche Medizin inzwischen menschlich geworden und den Markt und die Maschine als ihr Maß, nach dem der Mensch auszurichten ist, preisgegeben hätte. Er war nur etwas grobschlächtig, der Vorläufer, und hat etwas zu kurzsichtig in seiner Kalkulation übersehen, daß seine Hungerleider auf Dauer weder die Maschinen in Bewegung halten noch die Dividenden ins Klettern bringen können.

Das Angriffsziel hat sich nicht geändert, lediglich die Strategie hat sich verfeinert. Man rückt dem Magen heutzutage nicht mehr mit dem groben Hammer der Physik zu Leibe sondern mit dem differenzierten Arsenal der chemischen Waffen: Mit Appetizern wird er geöffnet, auf diverse Ordres abgeführt oder zugestopft, und zwischendurch wird mit Füllstoffen, die auch so heißen, neuer Platz für die anderen Füllstoffe geschaffen, die nicht so, sondern Essen heißen.

Und er bewegt sich doch nicht. Wenigstens nicht so, wie er soll. Gerade der Aufwand an Geschützen, die aufgefahren werden müssen, bezeugt die ungebrochene Widerstandskraft des Magens.

P.S.

für Nichtwiener und abstrakte Materialisten, falls sie doch noch existieren: Der Titel „Friß & stirb!“ ist (in leichter Abwandlung) einem New Wave Lokal in Wien entlehnt, in dem die No Future Generation der Unwirtlichkeit des Neons draußen durch dieselbe drinnen zu begegnen und in der Mimikry ihr Überleben sucht. Das Interieur erinnert an eine Bedürfnisanstalt, auch an eine Reparaturwerkstatt für Mensch oder Maschine. Ob die List der Vernunft gelingt, ob sich in der Kälte überwintern läßt, das weiß ich nicht, es scheint mir eher zweifelhaft; bislang jedenfalls herrscht die Überkühlung zum Glück nicht ungebrochen und muß sich von der Küche wie von der Freundlichkeit des Personals widersprechen lassen (ja, natürlich will ich dort auch in Zukunft ein Bier trinken dürfen — J.L.).

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1984
, Seite 54
Autor/inn/en:

Jürgen Langenbach:

Geboren 1950 in Lahr (Deutschland). Studierte Philosophie und Sozialwissenschaften in Freiburg im Breisgau und schloss 1980 seine Dissertation an der Uni Wien ab. Als Wissenschaftsjournalist arbeitete er u.a. für „Falter“ und „Standard“. Seit 2002 schreibt Langenbach für „Die Presse“ und ist auch als Buchautor tätig, unter anderem über den Philosophen Günther Anders.

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