FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 194/II
Paul Kruntorad (Übersetzung) • Ivan Sviták

Fast Prager Parabeln

Der Wert der Erkenntnis

Es war einmal ein Knabe, und der war sehr brav. Er quälte keine Katzen, warf nicht Steine nach Hunden, zerschlug keine Fenster, spießte nicht Maikäfer auf. Er war überhaupt kein Sadist und gönnte jedem seine Lebensfreude. Fast könnten wir sagen, daß er ein Liberaler war, aber wir wissen nicht, ob er es nicht als Beleidigung empfinden könnte. Er hatte also alle Tiere gern, ging sie im Zoo anschauen und füttern. Nur ein Tier konnte er nicht sehen — das Nilpferd. Man kann nicht sagen, daß das Nilpferd dem Knaben etwas getan hätte, eher ignorierte es ihn und verstand ihn nicht, aber Sie wissen — Kinder. Dem Knaben war das Nilpferd einfach abscheulich, er wußte selbst nicht, weshalb. Und als er sah, wie andere Kinder Katzen, Vögel oder Hunde totschlugen, entschloß er sich, einen Kampf mit dem Nilpferd auszutragen. Zuerst trat er an es heran und provozierte einen Streit. Er beschimpfte es, sogar ordinär. Er nannte es einen Feigling, Dummkopf und häßlichen Dickhäuter. Doch das Nilpferd reagierte nicht. Der Knabe dachte sich auch ärgere Beschimpfungen aus und spuckte das Nilpferd schließlich an. Es reagierte nicht. Der Knabe faßte also Mut und versetzte ihm von hinten tüchtige Hiebe, bis ihm die Faust weh tat. Das Nilpferd reagierte nicht. So versuchte er es von vorn, und dann ging es Schlag auf Schlag: ein Direktausleger, ein Uppercut, Fußtritte, Ohrfeigen. Doch das Nilpferd reagierte nicht, rührte sich nicht einmal. Der Knabe ermüdete durch den Kampf. Und da fiel ihm ein, daß er auf diese Weise das Nilpferd nicht besiegen könne. Er begann es also zu beobachten. Er stellte fest, womit sich das Nilpferd nährte und las alles mögliche über Dickhäuter. Er merkte sich, wann es vom Wärter gefüttert wurde und daß es Kartoffeln bekam. Dann sagte er sich, daß es dumm sei, das Nilpferd direkt anzugreifen, wenn es auf diese Weise unverwundbar war, aber daß man es von innen angreifen kann, wo es verwunderbar ist wie alle anderen. Dann war alles einfach. Der Knabe kaufte ein Kilo Rasierklingen, steckte sie in die Kartoffeln, der Wärter fütterte das Nilpferd, und es ging ein. Das ist die einzige Möglichkeit der Kritik an Dickhäutern. Aber dankt dem Knaben nicht für diese Belehrung. Er wurde inzwischen erwachsen, und es ist ein hübscher Dickhäuter aus ihm geworden. Er kontrolliert regelmäßig seine Ernährung.

Ideologische Einheit

Es war ein Herr, der hatte zwei Papageien, einen grünen und einen gelben. Der grüne konnte „Guttten Tag“ sagen und lebte in einem kleinen Käfig. Der gelbe konnte „Krrruzifix“ sagen und lebte deshalb in einem größeren Käfig. Eines Tages ging der Herr einen großen Käfig kaufen. Er setzte beide Papageien in einen großen Käfig, weil zwei kleine zuviel Platz wegnahmen. „Siehst du, wir haben einen größeren Käfig bekommen, weil ich höflich bin und nicht fluche“, sagte der grüne Papagei, „Freiheit ist doch nur die Notwendigkeit, höflich zu sein, begreifen und nicht fluchen.“ „Unsinn“, antwortete der gelbe Papagei, „ein Papagei muß rauh sein, wenn er im Leben etwas erreichen will, zum Beispiel einen größeren Käfig. Die Freiheit beruht darin, die Notwendigkeit begreifen, frech zu sein und zu fluchen, Krruzifix noch einmal.“

Nicht lange darauf kaufte sich der Herr einen roten Papagei, der gerade aus den Tropen importiert worden war. Der Papagei war sehr schön, konnte jedoch nicht sprechen. Der Herr trug ihn heim und setzte ihn in den Käfig. Der gelbe kam mit dem grünen überein, aus dem neuen Bewohner des Käfigs einen kultivierten Vogel zu machen, und lehrten ihn sprechen. Damit er jedoch nicht weiser sei als sie, lehrten sie ihn nur die Hälfte dessen, was sie selbst kannten. Der rote Papagei lernte also nur „Krrruzitag“ und „Guttt“ zu sagen, womit er sogar seinen Herrn überraschte. Er hat Entwicklungsperspektiven, sagten sich die Papageien. Sobald sie den Gast mit ihrer Lebensweise vertraut gemacht hatten, ließen sich sich aus Langeweile auf die Metaphysik ein. „Sag uns, was Freiheit ist, wenn du aus den Tropen geflogen gekommen bist“, forderten sie den roten Papagei auf. Der antwortete ihnen: „Das weiß ich nicht, aber ich flog, wohin ich wollte.“ „Erlaube, da warst du doch nicht frei, wie war da das Verstehen der Notwendigkeit?“ verwunderte sich der gelbe Papagei. „Das wär’ eine schöne Anarchie“, sagte der grüne hinzu, „das würde man bei uns nicht dulden. Und wie groß war dein Käfig?“ „Ich weiß es nicht, was ein Käfig ist“, antwortete der rote Papagei, „aber wenn es das ist, worin ihr lebt und was mich bei meinen Flügen einschränkt, dann gibt es in den Tropen keinen Käfig.“ „Halte uns gefälligst nicht zum Narren, roter Papagei“, sagte der gelbe, „wenn du sagen willst, daß du keinen Käfig gesehen hast. Das beweist nur deine Unzivilisiertheit. Das Wesen muß sich mit dem Schein decken, ha!“ Und der grüne fügte hinzu: „Können denn Papageien anders als in einem Käfig leben? Der Käfig ist ein wesentlicher Bestandteil der Papageienexistenz. Für den Papagei bedeutet existieren: im Käfig sein. Ohne Papageien gäbe es keine Käfige, und ohne Käfige keine Papageien. Man sieht, daß du nicht die Theorie des geschlossenen Universums kennst.“ Aber der rote Papagei beharrte auf seiner Behauptung. „In den Tropen gibt es wirklich keinen Käfig. Aber es gibt Tiere dort, die fressen Papageien, Raubtiere.“ „So was, der glaubt noch an Raubtiere“, lachte der grüne Papagei. „Was für widerliche Reste der Vergangenheit. Hast du denn wirklich einmal Raubtiere gesehen?“ „Ja“, antwortete der rote, „es sind schrecklich große Ungeheuer, die Papageien bei lebendigem Leib fressen, zum Beispiel Katzen.“ „Das sind nur Trugbilder der subjektiven Psyche, wir haben so etwas nie gesehen und leben schon hübsch lange hier, nicht wahr, Gelber?“ behauptete der grüne. „Selbstverständlich“, antwortete der gelbe, „Raubtiere sind Reste der vergangenen sozialökonomischen Formation ähnlich wie Götter und Geister. Wer an sie glaubt, hält bloß die Irrtümer seiner Psyche für objektive Realität.“ „Das ist möglich“, gab der rote Papagei zu, „ich habe mich an die Freiheit des Käfigs noch nicht gewöhnt, ebensowenig wie an eure kultivierte Denkweise. Ich flog in den Tropen, wohin ich wollte, und wich den Raubtieren aus. Wenn ich Hunger hatte, pickte ich Korn, wenn ich durstig war, trank ich Wasser aus dem Bach.“ „Siehst du“, sagte der gelbe, „jetzt hast du die Freiheit, im Käfig zu leben, und hast demokratische, gleiche Rechte auf den Futternapf, auf das Springen von Sprosse zü Sprosse und Recht auf Kanarienfutter. Das sind verfassungsmäßig garantierte Rechte.“ „Aber was, wenn der Herr vergißt, den Futternapf zu füllen? Oder wenn er stirbt?“ fragte der Vogel aus den Tropen. „Du hast kein Vertrauen in unsere Institutionen“, antwortete der grüne Papagei, „und außerdem ist der Herr unsterblich.“ „Aha, ich kann also auch hier machen, was ich will“, rief der rote Papagei fröhlich aus und sprang auf die gegenüberliegende Sprosse zwischen den grünen und den gelben Papagei, daß beide fast hinunterfielen. „Was machst du für Dummheiten, Krruzifix gutttten Tag“, begannen beide zu schreien. „Ich nutze meine demokratischen, gleichen, verfassungsmäßig garantierten Rechte aus“, antwortete der Tropenbewohner, „Aber du siehst doch, daß du nicht springen kannst, wenn wir auf der Sprosse sitzen.“ „Darüber steht nichts in der Verfassung, was ist dann mein Recht?“ widersprach ihm der rote und sprang von neuem auf die Sprosse. „Das geht wiederum uns nichts an“, antwortete der gelbe mit dem grünen, „doch wir haben das Recht, dich in den Kopf zu picken, damit du dir deine wilden Gewohnheiten abgewöhnst. An solche Freiheiten sind wir nicht gewöhnt. Die Freiheit herumzuspringen haben nur wir, deine Freiheit folgt aus unserer Zustimmung. Und weil wir kultiviert sind, dulden wir keine Störung der Freiheit.“ Und sie pickten den roten Papagei in den Kopf, so gründlich, daß er die demokratische Verfassung des Käfigs begriff und starb. Als der Herr den toten Papagei sah, sagte er: „Armer Vogel, er starb aus Sehnsucht nach Freiheit.“ Und er entschloß sich, auch den restlichen beiden die Freiheit zu geben. Er warf sie aus dem Fenster und seufzte: „Was für ein Humanist. bin ich doch.“ Der gelbe Papagei flog unentwegt weiter, weil er wissen wollte, wo der Käfig endet und wo sich die Sprosse befindet. Er war müde und sehnte sich nach dem Käfig, um sich auszuruhen. Er konnte weder Sprosse noch Papageienfutter finden und starb in Erinnerung an die Freiheit seines Käfigs. Den grünen Papagei fraß die Katze, als er ihr erklären wollte, daß Raubtiere Reste der Vergangenheit seien. Als der Herr vom Tod der Papageien erfuhr, kroch er in den Käfig, sprang von Sprosse zu Sprosse und sagte: „Krruzitag“ und wenn er nicht gestorben ist, dann sitzt er, liebe Kinder, noch heute dort.

Methodologie

Einer hatte eine Füllfeder und weißes Papier. Der zweite schrieb mit Bleistift auf einen Notizblock. Der dritte benützte eine Schreibmaschine und ein rosa Durchschlagpapier. Der vierte war originell und ritzte mit dem Fingernagel in die Tischfläche. Der fünfte dachte nach und schrieb nichts. Die anderen sagten, er sei ein Bohèmien. Alle waren glücklich, weil sie die Mittel zum Schreiben hatten. Sie teilten sie in die Mittel ein, mit denen man schrieb (Feder, Blei, Schreibmaschine, eventuell Fingernagel), und die Mittel, auf die man schrieb (verschiedenfarbiges Papier, Wachstafeln, eventuell der Tisch). Der Bohèmien war mit dieser Klassifizierung nicht einverstanden und sagte, daß man unter die Produktionsmittel auch den Kopf einreihen müßte. Darauf erwiderte der erste, es sei selbstverständlich, daß Menschen ohne Kopf nicht schreiben, genauer nicht Buchstaben und Sätze zu Papier bringen könnten. Der zweite warf dem Bohèmien die irrtümliche Vorstellung vor, daß man nicht mit dem Kopf schreibe. Der Kopf sei zwar am Prozeß des Schreibens beteiligt, doch seine Beteiligung sei geringfügig. Der dritte sagte, daß vom Standpunkt der Logik aus der Kopf gegenüber den Schreibmitteln keine Tertium comparationis habe, und das war die Wahrheit. Der vierte gab zu, daß er in der Regel mit dem Fingernagel ziemlich gedankenlos über die Schreibplatte fahre. Der fünfte sagte laut nichts mehr über den Kopf.

Das Leben ging weiter. Die Mitglieder des wissenschaftlichen Instituts schrieben und schrieben. Einer hatte eine Füllfeder und ein weißes Papier. Der zweite schrieb mit einem Blei auf einen Notizblock. Der dritte benützte eine Schreibmaschine und rosa Durchschlagpapier. Der vierte hörte auf, mit dem Nagel auf die Tischplatte zu schreiben. Die anderen sagten, er trinke. Aber alle vier gaben auf den Bohèmien acht. Man weiß nie.

Der Ursprung der Dialektik

Der Königssohn Herakleitos langweilte sich, oft und gründlich. Die Verzückungen der Liebe hatten für ihn einen bestimmten Reiz, doch weil er in den Pausen dazwischen etwas tun mußte, langweilte er sich.

Morgens nahm er die Badehose und ging im Fluß hinter dem Tor von Ephesos baden. Er hoffte, daß sich dort die Flötenspielerinnen aus dem Gesangsverein für Lieder und Tänze aus Ephesos aufhalten würden, die schon gestern dort gewesen waren. Als er in den Fluß stieg, sah er, wie sie in der Biegung nackt badeten, und sie stießen Schreie aus, als er zu ihnen schwamm. Die mit den großen Kuhaugen gefiel ihm.

Herakleitos trieb sich eine Weile am Fluß herum und ging dann nach Hause. Er kehrte auf dem Heimweg in ein Wirtshaus ein, um einen Wermut zu trinken. „Wissen Sie nicht, wohin die Flötenspielerinnen gegangen sind?“ fragte er den Gastwirt, als er zahlte. „Ich habe sie zum Meer hinuntergehen sehen“, sagte der Gastwirt. Herakleitos brach sofort dorthin auf. Als er hinunterlief, gingen die Flötenspielerinnen weg. Herakleitos hatte durch den Wermut Mut gefaßt und bat die Kuhschönheit, eine Weile bei ihm zu bleiben. Sie war ganz glücklich, weil sie Herakleitos’ Intellekt reizte, wie jede dumme Frau. Sie senkte selbstverständlich die Augen und sagte nein, um Herakleitos noch mehr in Glut zu bringen. Doch als sie sah, daß er es ernst nahm, blieb sie und tat, als hätte sie sich den Knöchel verstaucht. Herakleitos nutzte das aus, und es gefiel ihm ziemlich. Abends schrieb er ins Tagebuch: „Alles ändert sich. Niemals steigst du in denselben Fluß. Die Flötenspielerinnen gehen ins Meer baden.“

Dem Band „Hajaja-Philosoph“ entnommen, der im S. Fischer-Verlag erscheinen wird und kleinere Prosa des bekannten Prager Philosophen enthält. Aus dem Tschechischen von Paul Kruntorad.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1970
, Seite 143
Autor/inn/en:

Paul Kruntorad: 1935 in Böhmisch-Budweis geboren, gab 1957/58 gemeinsam mit Humbert Fink „Die österreichischen Blätter“ heraus und ist seit 1959 alleiniger Harausgeber der „Hefte für Literatur und Kritik“.

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