FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1960 » No. 84
Alexander Lernet-Holenia

Fast eine Goethe-Anekdote

Im Jahre 1939 lernte ich eine Frau von H., eine Großnichte oder Urgroßnichte Ulrikens von Levetzow kennen, und das kam so:

Ich befand mich damals auf einer Fahrt nach Westindien, die mehrere Monate für sich in Anspruch nehmen sollte. Das Schiff war nur halb belegt, und die Passagiere sahen bescheiden und unauffällig aus. Erst nach einigen Wochen brachte ich heraus, daß es fast durchwegs, wenn schon nicht selber reiche Leute, so doch nahe Verwandte von Krösussen waren — von deutschen Krösussen, die den Annehmlichkeiten des von ihnen selbst, mit Hugenbergs Hilfe, herbeigeführten Dritten Reiches auf längere Zeit entgehen wollten; und da sie, wenngleich das Vermögen auf diesem Schiffe auf insgesamt eine oder zwei Milliarden Reichsmark einzuschätzen sein mochte, von Hitler, dem sie in den Sattel geholfen hatten, keinerlei Devisen zu Kreuzfahrten auf fremden Schiffen mehr erhielten, so entwichen sie den Vorteilen Großdeutschlands wenigstens auf einem deutschen Schiffe für eine gewisse Zeit. Ja es gab einige unter ihnen, die von diesem Schiffe tunlichst gar nicht mehr herunter und den Boden des Vaterlandes eigentlich überhaupt nicht mehr betreten wollten. Zu diesem Ende schlossen sie die eine Reise immer gleich an die andre an und fuhren von Hamburg über Ägypten nach Genua, von Genua, wieder über Ägypten, nach Japan, von Japan zurück nach Hamburg, wo sie aber den Fuß beileibe nicht ans Land setzten, sondern sofort weiter nach Chile reisten, und von Chile nach Tahiti und Gott weiß wohin sonst noch in der Welt; und es gab zweie oder dreie unter ihnen, denen es geglückt war, schon jahrelang nicht mehr in Deutschland gewesen zu sein.

Von ähnlichen Absichten erfüllt, war auch ich selbst an Bord dieses Schiffes gegangen, ja vielleicht hatte mir sogar vorgeschwebt, den Anfang des mit Gewißheit zu erwartenden Krieges nicht in Deutschland zu erleben, sondern irgendwo anders mit all dem relativen Luxus interniert zu werden, mit dem sich die Erfinder der Konzentrationslager im Burenkriege, die Engländer, eine Internierung damals noch vorstellten. Aber ein gleichfalls an Bord befindlicher Schwede sagte mir: „Machen Sie sich keine Hoffnungen! Es geht erst los, wenn wir wieder zurück sind“; und er sollte recht behalten.

Während also eben damals noch ganze Scharen deutscher und österreichischer Leutnants und Oberleutnants zu Land und zur See, die emigriert gewesen waren, jedoch nicht recht hatten weiterkommen können, zu Land und zur See schleunigst zurückeilten, um Majore und Kapitäne zu werden und an den Flammen, in die nicht nur Deutschland und Österreich, sondern die ganze Welt aufgehen sollte, ihr irrelevantes Süppchen zu kochen, hatte die nationalsozialistische Zelle oder Ortsgruppe oder wie man die bezügliche Institution, die sich auch auf unserem Schiff im Schoße der Besatzung gebildet hatte, oder hatte bilden müssen, nennen mochte, angesichts der ansonsten an Bord herrschenden Stimmung einen schweren Stand; und ich erinnere mich, daß wir, als uns unsere Lautsprecher im Hafen von La Guaira bei einbrechender Nacht eine Führerrede vermittelten, zuerst mit großem Getöse in den Swimming-Pools an Deck badeten und dann, als die Rede auch während des Abendessens noch weiterging, mit Schüsseln, Tellern, Gabeln und Messern dermaßen klirrten, daß die NS-Vertrauensleute eine Unterbrechung der Mahlzeit anordnen mußten.

Immerhin kamen wir schließlich, ohne weitere Zwischenfälle, auch nach New York. Wir wollten dort zwar nur zwei Tage bleiben, aber es war nicht ganz leicht, von Bord zu gehen, denn sonderbarerweise machten uns die Behörden einen ganzen Nachmittag lang Schwierigkeiten vielleicht um die Infiltration der Stadt mit unserm „Gedankengute“ zu verhindern, vielleicht auch um keinem von uns, die wir, zufolge der damaligen öffentlichen Meinung, Amerika vor dem Zugriff des Bolschewismus schützen sollten, Gelegenheit zu geben, sich in Sicherheit zu bringen und seine soldatische Pflicht zu versäumen. Aber am Ende durften wir dann doch an Land, und nach zwei Tagen, ohne daß wir desertiert wären oder die Scharen alter Freunde, die wir, statt wie einst auf dem Kurfürstendamm und in der Kärntnerstraße, nunmehr auf dem Broadway antrafen, propagandistisch verseucht hätten, reisten wir wieder ab; so daß ich mich, wenn ich schon nicht einer der ersten Emigranten gewesen bin, wenigstens rühmen darf, einer der ersten Remigranten gewesen zu sein; und auf der Heimreise sodann, die bei reichlich schlechtem Wetter stattfand, wodurch sich gleichsam schon die unerquicklichen Verhältnisse ankündigten, in die wir zurückkehrten, erzählte mir Frau von H. die Geschichte von ihrer Groß- oder Urgroßtante, von der ich, eigentlich, berichten will.

Diese Ulrike von Levetzow (sprich Leffzo) war bekanntlich siebzehn, als Goethe sie heiraten wollte, und Goethe war damals siebzig, wenn nicht sogar schon älter. Zudem war er bereits im Übergang von jener bürgerlichen Fülligkeit, die er der Vulpius zu verdanken hatte, zur schlechterdings schon greisenhaften Magerkeit der letzten Zeit seines Lebens begriffen. Man pflegt ihn, in jenem Jahrzehnt, schon stark idealisiert zu sehen. Denn in einem gewissen Sinne war er bereits zum Mythos geworden — etwa wie Bismarck in Friedrichsruh, den man sich, in der Zwölftonmusik des ewig vor sich hin rauschenden Sachsenwaldes, nur mit breitkrempigem Hut wie Hagen oder Odhin, und beschützt von seinen beiden Doggen, wie von den Wölfen Geri und Freki, vor sich hinsinnend vorzustellen pflegt. In Wirklichkeit war Friedrichsruh ein ehemaliges Bahnhofshotel, Tag und Nacht donnerten die Züge der Strecke Berlin—Hamburg vorüber, bei der ihr eigenen Nachlässigkeit hatte die Familie Bismarck die Nummern der Hotelzimmer über den Türen noch immer nicht entfernen lassen, und als ein Journalist eines schönen Tages Besuch machte, fand er im Zimmer Mariechen Rantzaus, der Tochter Bismarcks, angebissene Tortenstücke auf den Atlasmöbeln herumliegen ... Ähnlich war auch Goethe, mager, vergeistigt, mit weißer Reitkrawatte aus Flor und dem Diamantstern des Ministers, ins Ideale überhöht worden. De facto hatte er, wie aus einem noch vorhandenen Gipsabguß ersichtlich, reichlich derbe Hände — vielleicht noch die Hände seines Urgroßvaters, der, zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, Hufschmied gewesen war —, seine olympische Haltung ging vor allem darauf zurück, daß er an argem Rheumatismus litt und sich, indem er die Arme hinterm Rücken verschränkte, einigen Halt zu geben versuchte, und seit zehn Jahren waren seine Vorderzähne, die ihm zeitlebens die ärgsten Schmerzen verursacht hatten, fort — wir erwähnen dies nicht zum Zwecke der Herabminderung seines Anschens, sondern aus andern Gründen, die wir alsbald erfahren werden. Kurzum, wenngleich er durch seinen Gnädigsten Herrn, den Herzog persönlich, um Ulrikens Hand anhalten ließ, wies sie ihn, vielleicht auch über Veranlassung ihrer Mutter, ab. Denn alles in allem war er ihr, obwohl mutmaßlich schon unsterblich, zu alt, viel zu alt; und daß er noch die „Löwennovelle“ und den fünften Akt des zweiten Teils seines „Faust“ schreiben, kurzum erst wirklich unsterblich werden sollte, fiel bei der Siebzehnjährigen nicht ins Gewicht. Ja sie ahnte nicht einmal, daß sie selbst es war, die ihn durch den Schmerz, den sie ihm bereitete, recht eigentlich in die Unsterblichkeit treiben sollte.

Doch so oder anders: man sollte annehmen, daß Ulrike, geradezu der Inbegriff jugendlicher Mädchenhaftigkeit, niemals gealtert, ja daß sie, vielleicht schon mit achtzehn oder neunzehn, äußerstenfalls mit einundzwanzig, verstorben wäre — am besten an Schwindsucht oder an etwas Ähnlichem. Weit gefehlt! Denn gerade sie, die Goethen seines Alters wegen abgewiesen hatte, heiratete zwar auch später nicht, wurde aber sehr alt, uralt, viel älter als der Abgewiesene werden sollte; und wenn er am Ende keine Zähne mehr hatte, so hatte sie schließlich auch keine mehr — das heißt, sie hatte dann falsche Zähne, denn dieser Fortschritt war, seit Goethes Tagen, immerhin gemacht worden; und ihre Großnichten oder Urgroßnichten, worunter auch die spätere Frau von H., pflegten, als Kinder, zu sagen: „Wir möchten auch Zähne, die beim Essen immer so schön knacken wie Tante Ulrike ihre!“

Denn so vollkommen wie heutzutage, wo sie nicht einmal mehr knacken, waren die falschen Zähne damals denn doch noch nicht.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1960
, Seite 460
Autor/inn/en:

Alexander Lernet-Holenia:

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen