FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1990 » No. 442/443
Ladislav Mňačko

Eurohorror

Der Oberste Sowjet der UdSSR verabschiedete einstimmig, wie es ihm der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets verordnet hatte, das Gesetz über die sofortige Abschaffung der totalitären Diktatur, verbunden mit sofortigem Übergang zur totalitären Demokratie. Ab sofort wurde, laut diesem Gesetz, die totalitäre Wahrung der Menschenrechte garantiert, die Herrschaft des KGB abgeschafft, die Zensur für ungesetzlich erklärt, die Meinungs-, Versammlungs- und Redefreiheit proklamiert. Nun durfte man inner- wie außerhalb der Sowjetunion frei sich bewegen, reisen, die Stacheldrahtverhaue und Todestürme an den Grenzen wurden niedergerissen, Grenzpolizei und Zollkontrolle abgeschafft.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer über das ganze riesige Land. Ein unbeschreiblicher Freudentaumel brach aus. Auf dem Roten Platz in Moskau versammelten sich mehr als zwei Millionen Bürger, um die fröhliche Kunde direkt aus dem berufenen Munde zu hören. Als Michail Gorbatschow von Freiheit der Ausreise sprach, wurde seine Rede für eine gute Viertelstunde durch Jubelschreie unterbrochen. Als sich dann die Ovationen gelegt hatten und der Redner weitersprechen wollte, wurde plötzlich eine Stimme laut:

„Ausreisen dürfen wir? Alle? Jedermann? Nach Westeuropa? Nach Amerika?“ Gorbatschow bestätigte es. Egal wer, kann egal wohin, ohne irgendwelche bürokratische Prozedur ausreisen.

Da unterbrach ihn die selbe Stimme: „Towarischtschi, idjom zapad posmortritj!“ (Genossen, gemma den Westen schaun!)

Der Ruf brachte die Volksversammlung zu einem jähen Ende. Niemand war bereit, sich Gorbatschows Rede bis zum Ende anzuhören, die Menschen verließen massenweise den großen Platz, selbst die Prominenz auf der Tribüne hinter dem Leninmausoleum hatte es plötzlich eilig, es verging kaum eine halbe Stunde, und der Redner stand mutterseelenallein da, so vertieft in seine Rede, daß er nicht gleich bemerkte, was sich vor ihm, hinter ihm, neben ihm abspielte.

Bereits in der Zeit des Totalitarismus liebäugelten alle Bürger der Räterepublik mit dem Traum, sich wenigstens einmal im Leben eine touristische Reise nach Westeuropa leisten zu dürfen, aber der Traum erwies sich, wegen der bürokratischen Formalitäten bei der Besorgung eines Reisepasses, als unerfüllbar. Nur den wenigsten aus der Nomenklatura war dieses Wunder gelungen. Sie hatten Unglaubliches erzählt! Im kapitalistischen Westen waren die Läden brechend voll mit Waren verschiedenster Art, was, natürlich, nicht etwa ein Zeichen von Wohlstand war, sondern von der latenten Armut der Bevölkerung zeugte. Die Geschäfte waren nur deswegen so voll, weil sich niemand die Ware leisten konnte. Und noch etwas erfuhr man in Gesprächen mit den Auslandsreisenden:

In Austria, in Wien, gibt es einen Riesenbasar, der Mexikoplatz heißt. Dort bekommt man alles, was der westliche Markt zu bieten hat, zu Schleuderpreisen! Transistorradios, Tonbandgeräte, Jeans, Shirts mit der Aufschrift „Back from Hollywood“, kurz gesagt: Alles, Alles, Alles! Und Austria, Österreich, ist ein wunderbares Land, dessen Demokratie so weit reicht, daß man überhaupt keine Visa braucht, es genügt, sich als Flüchtling zu deklarieren, und schon ist die österreichische Regierung verpflichtet, sich eines voll anzunehmen, einem Obdach zu gewähren, volle Verpflegung, Arbeit, wenn einem nach Arbeiten ist, oder Taschengeld, falls einem nicht nach Arbeiten wäre. Ein Paradies für Touristen, ein sicherer Ort für Asylanten.

Die Nachricht von der verordneten Demokratie drang in die entlegensten Winkel der Sowjetunion, samt der Verkündigung des Gesetzes über die freie Ausreise. Da ließen die Arbeiter die Arbeit liegen, die Beamten den Aktenberg, die Sekretäre verließen ihre Sitzungen, jedermann eilte nach Hause, um zu packen, den Wagen, falls man einen besaß, vollzutanken, falls man keinen besaß, die Pferde vor den Panjewagen zu spannen, falls man keine Pferde, Kühe oder Polarhunde besaß, spannte man sich mitsamt der ganzen Familie vor den Panjewagen, falls man keinen Panjewagen besaß, machte man sich zu Fuß auf den langen, überlangen Marsch — Richtung Austria.

Alle Züge, die in östliche Richtung fuhren, wurden angehalten und nach Westen umdirigiert; alle Lastwagen von den Reiselustigen angehalten, entladen, beschlagnahmt, alle Traktoren und Bulldozer und Mähdrescher und Anhänger, ja sogar Bagger in Bewegung gesetzt, von allen Seiten behängt mit Menschentrauben.

Ein gigantischer Treck setzte sich in Bewegung. Es gab nur wenige Unentschlossene, die lieber zu Hause bleiben wollten, aber auch sie konnten dem Lockruf „Gemma Westen schaun!“ nicht auf die Dauer widerstehen. Millionen, Dutzende von Millionen Sowjetbürger setzten sich in Bewegung. Alles, was Räder, und alles, was Füße hatte. Vollbeladen und bepackt mit dem Nötigsten verstopfte der Treck alle Straßen, breitete sich über die Felder und Steppen und Wüsten aus, um, in langen und zermürbenden Tages- und Nachtmärschen schnellstmöglich die geöffnete Grenze zu erreichen.

Um Austria zu erreichen, mußten die Menschen zuerst oft tausende Kilometer ihres eignenen Landes durchqueren, dann Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn, überall die fröhliche und ansteckende Kunde verbreitend. „Gemma Westen schaun!“, hallte es über Ebenen und Gebirge, durch Felder und Wälder und Auen, jeden mitreißend, jeden zur Eile anspornend. Die Bevölkerungen der brüderlichen Volksrepubliken nahm die Kunde auf und ließ sich mitreißen. Der größte Touristentrip der Weltgeschichte erfaßte in seiner ersten Welle mehr als hundertfünfzig Millionen reiselustige Ostländler. Die Vorhut dieser Riesenbewegung erreicht die Grenze Österreichs in den späten Abendstunden. Die österreichischen Behörden und Fremdenverkehrseinrichtungen hatten keine Ahnung, was für eine Flut das Land in seiner vollen Breite und Länge heimsuchen würde. Nach anfänglichen Versuchen, ihre Pflicht zu erfüllen, resignierten die Grenzbeamten total. Es war unmöglich, die ganze Grenze unter Kontrolle zu halten, die Fremdenverkehrsgäste überschritten sie in breiter Front.

Die beim ersten Eintreffen der Hiobsbotschaft in Alarm versetzte Polizei war überfordert. Es war unmöglich, irgendwelche Verkehrs-, Verhaltens-, Anstandsregeln zu wahren, den Treck, wenn nicht aufzuhalten, so wenigstens in geordnete Bahnen zu lenken. Die übermüdeten, hungrigen, ungewaschenen Touristen achteten nicht auf Anordnungen, Verbote, Gesetze, sie zogen durch die Städte und Dörfer, drangen, um sich vor Nachtkälte zu schützen, in die Häuser, Wohnungen, Schulen und Amtsgebäude ein, streckten sich, kaum daß sie ein Dach über dem Kopf wußten, auf dem Boden aus, um neue Kräfte für die morgige Fahrt und den morgigen Marsch zu sammeln. Binnen weniger Tage war ganz Österreich von der Menschenflut überfordert, jede Stadt, jedes Dorf, aber auch die Wiesen und Felder und Wälder und Berge von der Plage dieses gigantischen Massentourismus heimgesucht.

Zuerst versuchten die Müden, die Hungrigen und von Durst Geplagten auf ordentliche Weise zu etwas Eßbarem, Trinkbarem, Genießbarem zu kommen. Hatte es nicht geheißen, man könne für eine Dose Kaviar im Westen monatelang leben? Und die Matruschka hatte bereits in Moskau zu den begehrtesten Souvenirs gehört. Und Bucharateppiche hatten im Westen märchenhafte Preise erzielt. Und sibirische Diamanten genossen Weltruf. Sie kamen nicht etwa als Bettler, sie haben was anzubieten, etwas für egal was, Krimsekt, Chatkakrabben, Wodka, Lachskonserven, armenischen Cognac, Blaufuchspelze. Zuerst ging es einigermaßen ordentlich zu, etwas für egal was. Nur waren die mitgebrachten und mitgeschleppten Vorräte bald alle, da stürmte man die Läden, Lebensmittelläden zuerst, Supermärkte; aus den Möbelgeschäften schleppte man die Matratzen, um in einer ruhigen Ecke das weinende Kind daraufzubetten.

Die Vorräte schwanden, es half nichts, sie an sicherem Ort verstecken zu wollen, um wenigstens etwas für sich selbst zu behalten. Als die Regierung den Einsatz der Armee beschloß, war es zu spät. Die Soldaten, besorgt um das Wohl und die Sicherheit ihrer Nächsten, hatten die Kasernen längst verlassen.

Und es gab kein Zurück, auch nicht für jene, die, enttäuscht durch den dürftigen Empfang, sich zurück sehnten. Es gab nur eine Einbahn-Bewegung, in voller Breite des Gastlandes.

So hörte denn, binnen weniger Wochen, Österreich, das ehemals blühende Fremdenverkehrsparadies, auf, als Staat, als geordnete Gesellschaft zu existieren. Verwüstete Häuser, geplünderte Supermärkte, überforderte Krankenhäuser, leere Tankstellen; die Dome zu Notdurftstätten umfunktioniert, die Bücher, aus den Buchhandlungen herausgeworfen, wurden zum Brennmaterial für kalte Nächte im Freien; die Weinkeller voll von Trunkenen, die Fässer zerschlugen, um schneller zu Schlucke zu kommen.

Eine solche Heimsuchung hat die Welt noch nie erlebt. Und immer noch kamen neue, die einen weiteren Weg durchzuhalten hatten, in dem Sprachengemisch kannte sich niemand mehr aus, die Kommunikationslust sank auf ein Minimum, nicht die Sprache der Zungen, die Sprache der Fäuste war die einzige, die es zu verstehen gab.

Die Schweizer, die Deutschen, die Italiener bekamen rechtzeitig Kunde von dem sich nähernden Unheil, um gewisse Vorbereitungen zu treffen. In einer Rekordzeit, die die Rekordzeit des Baus der Berliner Mauer weit übertraf, versuchten Armeeeinheiten, unterstützt von Freiwilligen aus der Zivilbevölkerung, unüberwindbare Verhaue aufzustellen, aus Beton, Mauerwerk, Stacheldraht, Baumstämmen. Alles vergeblich, auch der Schießbefehl vergeblich, die Mauern aus Toten wuchsen und wuchsen, um von weiteren von hinten Gedrängten überklettert zu werden. So kann man eine Million Menschen aufhalten, zwei Millionen ... — aber bei dutzenden Millionen ist die bestausgerüstete Armee überfordert, der Munitionsvorrat verbraucht, das Massakrieren strapaziert die Nerven, auch der beste Soldat dreht bei einem solchen Gemetzel durch, bekommt es mit der Angst, fällt in Panik.

Was in Wien geschah, wiederholte sich in Bayern, dann im Rheinland, dann in Belgien und den Niederlanden. Erst der unendliche Ozean stoppte die Menschenflut, den Lemmingszug, die Heuschreckenplage.

Da erinnerten sich überlebende Menschenrechtsbewahrer des erhabenen Stalin.

Unter seiner begnadeten Diktatur war so etwas undenkbar.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1990
, Seite 4
Autor/inn/en:

Ladislav Mňačko:

Geboren 1919 in Valašské Klobouky, gestorben 1994 in Bratislava. Nach der deutschen Besetzung der damaligen Tschechoslowakei wurde er als Zwangsarbeiter in ein Essener Bergwerk „dienstverpflichtet“. Bekannt geworden durch Reportagen aus der Welt der Arbeit, wurde er in den 60-er Jahren zunehmend kritisch gegenüber der Sowjetunion und der tschechoslowakischen KP. Emigirerte 1967 nach Israel, kehrte während des Prager Frühlings in die Tschechoslowakei zurück, emigierte nach dessen Niederschlagung nach Österreich und kehrte 1991 in die Slowakei zurück.

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