FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1968 » No. 179-180
Günther Nenning

Einseitiger Bombenstop

Nach Nichtauslieferung Bruno Kreiskys

Für den unkomplizierten Staats- und Parteibürger sieht die Manöverkritik einfach genug aus:

  1. Der Bürger N. fordert den Politiker K. zur Diskussion auf, er nennt ihn einen sehr guten Politiker, kritisiert ihn aber, was das Vater-Sohn-Problem in der gemeinsamen Partei betrifft: Wie stehen die führenden Sozialisten zur studentischen Jugend?
  2. Politiker K. verweigert die Diskussion, nennt statt dessen den Bürger N. ein gekauftes Subjekt und sonstige Nettigkeiten. Anschließend wird der Bürger N. parteioffiziell aufgefordert, gerichtlich zu klagen.
  3. Bürger N. tappt in die Falle. Er klagt wirklich.
  4. Der Nationalrat liefert den Abgeordneten K. nicht aus.

Der Bürger N. muß seine Lektion lernen: ein Bürger, der kritisiert und zur Diskussion auffordert, ist nicht gleich mit einem Politiker, der nicht diskutiert, sondern schimpft und ehrenbeleidigt. Alle Bürger sind gleich, aber 165 Bürger sind gleicher, nämlich immun.

Dieses ungeschriebene Staatsgrundgesetz prägt sich, mit Verlaub, tief in das Hirnchen des Bürgers N. und, mit Verlaub, tief auch in die Hirnchen der übrigen österreichischen Staatsbürger.

So. Was nun? Für den Staats- und Parteibürger N. stehen noch die folgenden Fallen offen:

  1. Der Staatsbürger N. kann nochmals zum Bezirksgericht laufen und jetzt statt des gleichen, aber immunen Bürger-Politikers K. die Stücke Papier klagen, auf denen dessen Ehrenbeleidigungen abgedruckt waren. Er kann sagen: Bitte, Herr Richter, die „Sozialistische Korrespondenz“ hat gesagt, daß der Abgeordnete K. gesagt hat, daß ich ein gekauftes Subjekt bin. Dann kann Bürger N. nacıh Auskosten sämtlicher Instanzen der Gerichtsbarkeit, während ihm die Wartezeit mit täglichen Schmutzkübelgüssen versüßt wird, die ungeheure Genugtuung erleben, daß in einem simplen Presseprozeß statt des Mannes, der ihn beleidigt hat, die Papiertüte verurteilt wird, in die der Mann hineingesprochen hat.
  2. Der Parteibürger N. kann statt des Bezirksgerichts, zu welchem zu gehen er parteioffiziell, wenngleich statutenwidrig aufgefordert worden war, den Weg zum Parteiehrengericht wählen. Der lange Marsch zum Urteil wird dort genauso lieblich mit Schmutzkübelgüssen garniert sein, aber am Ende des Prozesses wird nicht der unparteiische Richter der Republik Österreich stehen, sondern eben ein Parteigericht. Kein Parteibürger, der Parteipflichtgefühl im Parteileib hat, kann, vor einer Wahl, gegen den Parteivorsitzenden entscheiden.

Staats- und Parteibürger N. hat also zu a) wie b) nur wenig Lust. Zumal da ihm ja als dritte Möglichkeit ins Haus steht, daß er, der Waffe seiner staatsbürgerlichen Rechte beraubt, jetzt eigentlich auch noch aus seiner Partei ausgeschlossen werden könnte.

Bürger N. hat sich redlich abgestrampelt, um zu seinem Recht zu gelangen. Er hat gelernt, daß es nicht geht.

Vielleicht hat er auch nur gelernt, daß es so nicht geht. Man muß sich schließlich, wenn man nicht ex cathedra unfehlbar ist, stets die Frage vorlegen, ob man nicht etwas falsch gemacht hat und ob man es in Zukunft besser oder zumindest weniger falsch machen könnte. Bürger N. muß sein Gewissen prüfen:

Wie man in den Parteiwald ruft, so ...

Ich habe in den Parteiwald kritisch hineingerufen („Diskussio-oon!“) und habe mich gewundert, daß es so ganz anders zurückgekommen ist („Age-eent!“). Aber das hat seine lange Vorgeschichte. Ich rief ja schon seit Jahren in den Parteiwald hinein, und es kam immer anders zurück, als ich erwartete; daraufhin rief ich nochmals lauter und schärfer, daraufhin kam es nochmals anders zurück; daraufhin rief ich nochmals ... usw. usf. Ergebnis: Aus, sei’s auch scharfer, Kritik wurde nicht, sei’s auch schärfste, Diskussion, sondern persönliche Diffamierung. Wahrscheinlich habe ich einfach die Struktur des Parteiwaldes zu wenig beachtet. Es scheint dort drinnen keine moralische Apparatur zu geben, mittels derer man zwischen scharfer Diskussion und persönlicher Diffamierung unterscheiden könnte. Scharf ist scharf. Wer scharf kritisiert, wird scharf diffamiert. Das ist traurig, aber darum nicht minder real. Realitäten muß man in Rechnung stellen. Und zwar gerade dann, wenn man sich ihnen nicht beugen, sondern sie ändern will.

Ich ziehe daraus die folgenden Schlußfolgerungen für mein zukünftiges Handeln:

  1. Ich werde nicht aufhören, die eigene Partei zu kritisieren; ich werde nicht „milder“ werden, sondern eher schärfer — das heißt aber auch: differenzierter, mehr soziologische Analyse („demokratischer Stalinismus“), mehr sozialpsychologische Analyse („Mutterpartei“), weniger pauschale Proklamation. Die Pauschalierung ist ein Stilmittel der Polemik: die, stets sehr differenzierte, Wahrheit soll mit der Methode des Brennspiegels schmerzlich bewußt gemacht werden. Ich habe mich darauf verlassen, daß diese Methode als solche erkannt und begriffen wird. Das war wohl ein Fehler. Daher:
  2. Ich werde nicht aufhören zu provozieren; aber ich werde nicht einfach darauf verzichten dürfen, diese Methode, die in der modernen sozialistischen Bewegung der Studenten mit Recht eine außerordentliche Rolle spielt, meinen Parteifreunden zu erläutern. Eine gänzlich bewußtseinsinadäquate Provokation — die also niemand von denen versteht, die in der Partei prinzipiell wie ich denken — wäre keine Provokation, sondern bloße intellektuelle Hochnäsigkeit. Schließlich lesen das FORVM nunmehr nicht nur Akademiker (siehe das Ergebnis der Leseranalyse an der Spitze dieses Heftes).
  3. Ich werde nicht aufhören, meine These vom integralen Sozialismus zu vertreten und auszubauen (siehe die Texte unter dem Übertitel „Wurstelparade“ in diesem Heft). Aber ich werde den Gegnern dieser These, deren Schöpfer Otto Bauer ist (siehe oben erwähnte Dokumentation „Wurstelparade“ in diesem Heft), es viel schwerer machen müssen als bisher, diese These als pauschal „prokommunistisch“ zu verteufeln. Ich werde meinen Parteifreunden viel klarer machen müssen, daß mein eigenes Modell des integralen Sozialismus nicht nur die progresiven Kommunisten (zum Unterschied von den terroristisch-totalitären Neostalinisten) und die Neue Linke der Studenten einschließt, sondern insbesondere die gesellschaftspolitisch engagierten progressiven Christen (siehe oben erwähnte Dokumentation „Wurstelparade“ in diesem Heft). Ohne die Mitarbeit dieser Christen gibt es für mich keine Hoffnung auf echten Sozialismus. Daher:
  4. Ich werde nicht aufhören, meiner Partei zu sagen: Der Kontakt mit den Christen ist ungenügend; die Vorstellung, was Christentum sei, ist unzureichend (vgl. die Rede des Parteivorsitzenden auf dem Parteitag); an die Christen darf man nicht nur als Wähler denken; es wäre des näheren darüber zu reden, wo die radikalen Christen in den Spitzengremien der Partei sind. Aber ich werde mehr als bisher differenzierend hinzufügen müssen, daß die Partei in einem großen diesbezüglichen Wandlungsprozeß ohnehin begriffen ist; man treibt diesen Prozeß am besten voran, indem man ihn anerkennt.
  5. Ich werde nicht aufhören, als Sozialist mich insbesondere für den Sozialismus und die Sozialistische Partei zu interessieren. Den Satz „Sozialist ist, wer die ÖVP ins Hazl beißt“, halte ich für eine unzureichende Definition des Sozialismus; es wird damit unter Umständen verschleiert, daß der sozialdemokratische Haxlbeißer sich in jeder sonstigen Hinsicht in der etablierten Gesellschaftsordnung häuslich eingerichtet hat, statt nach einer radikalen Veränderung zu streben. Dies: Sozialismus nicht bloß als ÖVP-Beißen, sondern als radikale Veränderung ist das Grundthema aller meiner Schriften, und ein mächtiges, Hunderte von Druckseiten umfassendes, von Christen wie Sozialisten behandeltes Grundthema in jedem Jahrgang meiner Zeitschrift. Dennoch will ich es in Hinkunft meinen Freunden in der Partei leichter machen: ich will versuchen, daß mir zu der faden, schlicht und einfach schlechten ÖVP halt auch ab und zu etwas einfällt.

Die obigen fünf Folgerungen sind nicht als einsame Entschlüsse entstanden, sondern in Kommunikation mit einer, für mich selbst verblüffenden, Fülle von Freunden in der Partei von ganz unten bis ganz oben. Ich danke ihnen und folge ihrem Rat insbesondere im speziellen Fall K., nämlich: Obwohl mir Unrecht geschehen ist, müsse ich den ersten Schritt tun. Somit also: Ich erkläre den einseitigen Bombenstop. Mögen die NenningTöter in hellen Scharen ihr Kriegshandwerk weitertreiben. Ich gedenke nicht, mich in einen professionellen Kreisky-Töter umfunktionieren zu lassen. Es gibt Wichtigeres zu tun.

Immunität

ist die Fähigkeit von Lebewesen, trotz Infektion mit Krankheitserregern nicht zu erkranken (immun zu sein).

Großer Brockhaus S. V.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1968
, Seite 765
Autor/inn/en:

Günther Nenning:

Geboren 1921 in Wien, gestorben 2006 in Waidring. Studierte Sprachwissenschaften und Religionswissenschaften in Graz. Ab 1958 Mitherausgeber des FORVM, von 1965 bis 1986 dessen Herausgeber bzw. Chefredakteur. Betätigte sich als Kolumnist zahlreicher Tages- und Wochenzeitungen sowie als Moderator der ORF-Diskussionsreihe Club 2.

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