FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1960 » No. 84
Günther Nenning

Die vierte industrielle Revolution

Zu einigen Neuerscheinungen über die Struktur der technisierten Gesellschaft

Wer über die technisierte Gesellschaft schreibt, befindet sich in zahlreicher Gesellschaft. Vormittags schreiben darüber die Gymnasiasten („Fluch und Segen der Technik“), nachmittags die Leitartikler („Der Vormarsch des Kollektivismus“), nachts die gehobenen Essayisten („Die Entfremdung des Menschen in der Maschinenwelt“). Wer über die technisierte Gesellschaft schreibt, hat sich ein Thema gewählt, das ihm die Deutschprofessoren aufgegeben und die Zeitungen verekelt haben und worüber in jeder besseren Taschenbuchreihe im besten Intellektuellen-Volapük geschrieben wurde. Und er kann der Aufsatz-Thematik, den Zeitungs-Phrasen und dem Intellektuellen-Volapük schon deshalb nicht entgehen, weil alles, was in der Schule, in der Presse, in den Taschenbüchern über die technisierte Gesellschaft geschrieben wird, unter anderem tatsächlich stimmt. Gesellschaftskritik ist, was ein Gesellschaftskritiker vom andern abschreibt.

Die günstigste Position ergibt sich unter solchen Umständen für denjenigen, der durch zeitlichen und räumlichen Abstand den Zentren der technisierten Gesellschaft so weit entrückt ist, daß er, statt Augenzeuge zu sein, zum Seismographen wird. Denn Seismographen funktionieren am besten auf mittlere Distanz, dem Bebenherd weder zu nah noch zu fern.

Beben-Aufzeichnungen von geradezu kalligraphischer Klarheit bieten die bei Langen-Müller erschienenen Tagebücher des deutschen Publizisten K. A. Varnhagen von Ense und des österreichischen Offiziers Friedrich Fürst Schwarzenberg aus den Jahren 1835 bis 1860 (ausgewählt und eingeleitet von Joachim Schondorff). Die „Feinfühligkeit eines Seismographen für den Untergang der Ritterlichkeit, für den Substanzverlust der christlich-abendländischen Humanität“ wird vom Herausgeber vor allem dem Fürsten Schwarzenberg nachgerühmt, dem Sohn des Feldmarschalls der Befreiungskriege. Gewiß hat Schwarzenberg gegenüber dem verarmten preußischen Adeligen und späteren radikal-liberalen Republikaner Varnhagen den Vorteil der noch größeren Distanz von den Ereignissen vor und nach dem Jahre 1848. Und was den Nachteil der Einseitigkeit anlangt — schließlich ging damals nicht nur die „Ritterlichkeit“ unter, sondern es stieg auch eine neue, faszinierende Welt auf, eben jene der technisierten Gesellschaft —, so ist unterdessen die nötige Korrektur von der Zeit selbst angebracht worden. Wer heutzutage („im Zeitalter der Atombombe“, wie der Leitartikel unfehlbar hinzufügen würde) dem technischen Fortschritt mißtraut, braucht kein Reaktionär zu sein. Er darf sich getrost auf den Scharfblick berufen, mit dem der Österreicher Schwarzenberg das Heraufkommen der „neuen Zeit“ ins Auge faßt:

Ich flanierte heute auf der Gasse. Vor einem Bücherladen fand ich ein Buch, betitelt: Sammlung aller gemeinnützigen Erfindungen der neueren Zeit, für die Jugend. Das Titelkupfer stellt die Guillotine vor.

Die Tagebuch-Notiz steht über dem Eingang in das Zeitalter der technisierten Gesellschaft.

Anders als im Westen vollzieht sich in Rußland der Hereinbruch des technischen Zeitalters. Hier werden von vornherein die politische Macht und die Macht der Technik unheilvoll und unteilbar miteinander verschmolzen. Man hat darauf hingewiesen, daß zwischen der amerikanischen und der russischen Maschinen-Anbetung bedeutsame Parallelen bestehen. Aber die Wurzeln dessen, was man religionshistorisch als „Technolatrie“ bezeichnen könnte, sind in Amerika und Rußland verschiedenen Ursprungs. Was die Amerikaner an der Technik fasziniert, ist im Grunde die Vorliebe für das „gadget“, das „praktische Spielzeug“. Technik bedeutet ihnen in erster Linie die Möglichkeit, sich durch Betätigung einiger Knöpfe das Leben leichter zu machen. Für die herrschende Klasse der Sowjetunion hingegen bedeutet Technik nicht Bequemlichkeit sondern Macht — und zwar vom Augenblick der Machtergreifung an:

Das Automobil ist ein viel echteres Zeichen der modernen Macht als Zepter und Krone. Während des Regimes der Doppelherrschaft waren die Automobile unter Regierung, Zentral-Exekutivkomitee und Privatbesitzern verteilt. Jetzt konzentrierten sich alle beschlagnahmten Kraftwagen im Lager des Aufstandes. Der Smolny-Bezirk ähnelte einer gigantischen Feldgarage. Das Smolny schien Fabrik, Bahnhof und Kraftzentrale der Umwälzung ... Einige Panzerwagen ratterten im Hofe mit angestellten Motoren. Niemand wollte stillstehen, weder Maschinen noch Menschen ... Das bürgerliche Publikum und die verängstigten Droschkenkutscher machten um den Smolny-Bezirk einen großen Bogen.

Keinem Amerikaner würde es einfallen, das Automobil als Symbol der Macht statt als praktisches Fortbewegungsmittel zu betrachten. Der Gegensatz, den Leo Trotzki hier in seiner „Geschichte der russischen Revolution“ (neu aufgelegt bei S. Fischer) darstellt, ist ein beweiskräftiges Stück russischer „Technolatrie“: auf der einen Seite „das bürgerliche Publikum und die verängstigten Droschkenkutscher“, auf der andern die Automobile, konzentriert im kommunistischen Lager, welches eine „gigantische Feldgarage ... Fabrik, Bahnhof und Kraftzentrale“ darstellt. Der geniale Pamphletist Trotzki hat hier im flüchtig hingeworfenen Bild vom nächtlichen, staatsstreich-gelähmten Petrograd die künftige Entwicklung vorweggenommen: den Marsch der „Maschinen und Menschen“ — die Reihenfolge ist charakteristisch in eine Zukunft, in der sie, angetrieben von der perfekten Einheit aus politischer Diktatur und Technokratie, niemals stillstehen dürfen.

Die Kraft, von der sich die russische Technokratie nährt, ist eine geborgte. Es läßt sich zeigen, daß der gesamte wissenschaftliche und technologische Fortschritt, der die heutige sowjetische Gesellschaft trägt, das Produkt westlichen Denkens ist. Den Nachweis unternimmt Werner Keller in dem umfänglichen Band „Ost minus West = null — Der Aufbau Rußlands durch den Westen“ (Droemer’sche Verlagsanstalt). Die detaillierte, reich illustrierte Beweisführung — von der Ankunft Ruriks bis zum Abschuß des Sputniks — stellt eine imposante Arbeitsleistung dar. Leider geht der Autor in der begreiflichen und berechtigten Wichtignahme seines Themas zu weit. Er verfällt in Übertreibungen. Den Russen vorzuwerfen, daß der Kreml von Italienern erbaut wurde, ist ungefähr so relevant wie die sowjetischen Behauptungen, daß so ziemlich alles, von der Taschenuhr über das Fahrrad bis zum Radio, dem Erfindungsgeist bislang unbekannter russischer Menschen zu danken sei. Gewiß: jenes trifft zu und dieses nicht. Aber die Gesetze der historischen Perspektive werden in beiden Fällen verletzt. Das Übergreifen kultureller und technischer Fortschritte von einer Nation auf die andere ist ein normaler geschichtlicher Vorgang, aus dem sich keinerlei Kriterien für die Höherwertigkeit der gebenden und die Minderwertigkeit der empfangenden Nation ableiten lassen. Und eine Aussage wie die folgende, die gewissermaßen das Fazit des Keller’schen Werkes enthält, ist einfach unzulässig:

Was der Westen ist, was er in Kultur, Technik und Wirtschaft geschaffen hat und noch immer schafft, das ist entstanden, ohne daß die Russen auch nur einen einzigen entscheidenden Beitrag dazu geleistet hätten. Gäbe es sie nicht, so würde am Bild, das die westlichen Völker heute bieten, würde an den Fortschritten der Menschheit kaum ein Tüpfelchen fehlen.

„Kaum ein Tüpfelchen“ scheint uns doch eine gar zu dürftige Umschreibung für ein großes, begabtes Volk, das seit Jahrhunderten auf den Gebieten der Malerei, der Architektur, der Dichtkunst und der Musik sehr Wesentliches hervorgebracht hat und neuerdings auf den Gebieten der Medizin, der Biologie, der Astronautik und der Raketentechnik sehr Wesentliches hervorbringt. Und was soll denn überhaupt das kindische Gedankenexperiment mit der Existenz oder Nichtexistenz eines Millionenvolkes (das gleich darauf im Landser-Jargon des Zweiten Weltkrieges als „der Russe“ tituliert wird)? Die Formel „Ost minus West = null“ stimmt nicht. Sie widerspricht dem ethischen wie empirischen Grundsatz von der Gleichartigkeit des menschlichen Intellekts unter gleichartigen Umständen, sie vernachlässigt die stete historische Wechselwirkung zwischen den Nationen. Keller ist ganz offenbar einem Trugschluß aufgesessen: er verwechselt das russische Volk mit der kommunistischen Diktatur, die es zu ertragen hat. Als Abwehr gegen die nationalistische Propaganda dieser Diktatur liefert Kellers Buch eine Fülle nützlicher Kenntnisse und aufschlußreichen Materials. Dennoch bleibt zu fragen, ob und inwieweit uns der Nachweis, daß die russischen Fortschritte westlichen Ursprungs sind, gegen die russischen Fortschritte helfen kann.

Womit uns zu helfen wäre, geht viel eher aus dem Buch des angesehenen Schweizer Publizisten Lorenz Stucki hervor, das unter dem Titel „Gebändigte Macht — gezügelte Freiheit“ im Schünemann-Verlag erschienen ist. Der Untertitel verspricht einen „Leitfaden durch die Demokratien“. Als solcher ist der handliche Band für Nachschlagezwecke sehr wertvoll, und hinter der bescheidenen Beifügung „Mit einer Entwicklungsgeschichte“ verbirgt sich überdies ein ausgewachsener Essay über Wurzeln und Wesen der westlichen Demokratie. In dieser klugen Arbeit wird fühlbar, wie weit die Integration der historischen Bestandteile der westlichen Gesellschaft bereits fortgeschritten ist. Christentum, Liberalismus, Konservativismus, Arbeiterbewegung formen eine verwirrende Balance von konträren, konkurrierenden, komplementären Ideologien, denen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ein gleichermaßen verwirrendes Gefüge von privaten, genossenschaftlichen und staatlichen Wirtschaftsformen, föderalistischen und zentralistischen politischen Formen entspricht.

Die Sicherung der Demokratie gegen ihren Mißbrauch und ihre inneren Feinde ist deshalb erstes Erfordernis. Da jener Reflex der demokratischen Verteidigung beim Staatsbürger, der sich erst nach längerem Vertrautwerden mit dem Wesen der Demokratie einstellt, zunächst unweigerlich fehlt, ist eine Verteidigung der Demokratie nur von der Regierung, den Behörden, den staatlichen Machtmitteln (Polizei) zu erwarten. Nur eine sehr alte Demokratie könnte sich eine schwache Führung und Staatsautorität leisten, und auch sie kann es im Grunde heute nicht, weil einerseits eine weltweite und mächtige Kampforganisation, der Apparat des Weltkommunismus, mit allen Mitteln die Demokratie überall von innen heraus zu zerstören sucht und anderseits Wille und Fähigkeit der Staatsbürger, den Staat aktiv und in Kenntnis der ungemein komplexen Probleme zu tragen, überall nachläßt ... Als Gegengewicht zur starken Macht ist eine starke und scharfe Kontrolle nötig, da nicht nur die Freiheit, sondern auch die Macht mißbraucht werden kann ... Die Kunst, als Regierungspartei-Abgeordneter der Regierung nicht blind zu folgen, sondern sie wirklich zu kontrollieren, ist ebenso schwierig wie die Kunst konstruktiver Opposition: deshalb genügt gewöhnlich die parlamentarische Kontrolle allein nicht. Nur das Bewußtsein, daß die Wähler zuschauen, und daß, was sie sehen, wenigstens teilweise den Ausgang der nächsten Wahl bestimmt, hindert die Regierung an einem offenen Mißbrauch der Macht und „ihre“ Parlamentarier am Zudrücken beider Augen. Damit der Wähler wirklich „zuschauen“ kann, ist die völlige Freiheit der Information unerläßlich ... In einer Zeit und in Staaten, wo der Stand von Industrie und Technik die unkontrollierte Macht mit früher undenkbaren Terrormitteln ausstatten kann, wie George Orwell sie geschildert hat, und die ungezügelte Freiheit zum Chaos menschlichen Selbstmordes führen kann, wird die Demokratie zum einzigen Garanten eines menschenwürdigen Lebens.

Dies ist in der Tat das Grundthema des politischen und soziologischen Denkens in der westlichen Welt von heute. Wie verhindert man die von der Technik ermöglichte Machtzusammenballung in der industriellen Gesellschaft? Wie behebt man das von der Technik — durch die Verführungen der Konsumgüter- und Vergnügungsindustrie — begünstigte Desinteressement der Staatsbürger-Masse?

In der ersten industriellen Revolution wurden die Maschinen von den Menschen erzeugt. In der zweiten industriellen Revolution werden die Maschinen von den Maschinen erzeugt. Aber die dritte und vierte sind längst im Gang. In der dritten werden die Menschen von den Maschinen erzeugt, und in der vierten stellt sich heraus, daß dies nicht wahr ist. Hier wird der Mensch nochmals zum Maschinenstürmer. Er entdeckt, daß die technisierte Welt ihm in seinem Grunde nichts anhaben kann. Und das könnte dazu führen, daß er die ihm entglittene Herrschaft über die von ihm geschaffenen Dinge wieder an sich reißt.

„Das große Unbehagen“ betitelt der führende österreichische Gewerkschafter Fritz Klenner einen stattlichen Band, der sich mit eben diesem Grundthema befaßt. Der Titel ist gewiß nicht originell, und der Inhalt ist es auch nicht. Doch erwächst daraus im speziellen Fall dem Werk eher ein Vorteil. Denn es ist nicht deswegen bedeutsam, weil es umfassend neue Gedankenarbeit enthält, sondern weil es anzeigt, wieviel von dem originalen Gedankengut der westeuropäischen Soziologie und Politologie nunmehr dort aufgenommen wird, wo bis vor kurzem fast ausschließlich die orthodox-marxistische Theorie herrschte. Die sehr gereifte und verantwortungsbewußte Art, mit der ein modern gesinnter sozialistischer Theoretiker dieses Gedankengut verarbeitet, gereicht nicht nur ihm, sondern dem Gewerkschaftsbund und der Partei, in welchen er tätig ist, zur Ehre. Das Buch ist ein überaus schätzbares und lesenswertes Dokument des endgültigen Hineinwachsens der ehemals marxistischen Arbeiterbewegung in die Demokratie westlichen Stils. Es bekundet die Befreiung von einer Ideologie, die sich aus einer Entwicklungsform in eine Fessel der Arbeiterbewegung verwandelt hat. Was im Bereiche dieser Ideologie niemals zugestanden werden durfte — daß sie nämlich der Fülle des Neuen, mit dem die industrielle Gesellschaft aufwartet, einfach hilflos gegenübersteht —, gerade das rückt nun in den Mittelpunkt:

Konflikte zwischen den Jungen und den Alten hat es immer gegeben. Wahrscheinlich ist aber selten eine Generation von Älteren und Alten der Jugend mit so viel Hilflosigkeit gegenübergestanden wie heute. Die Alten von vorgestern erhoben unbedingten Anspruch auf Autorität, die Väter von gestern gefielen sich in der Rolle älterer Kameraden mit gleichen ideellen Zielen. Heute stehen aber die Alten und Älteren einer Generation gegenüber, die nichts von alldem gelten lassen will, weder Autorität noch Kameradschaft.

Die Hilflosigkeit gegenüber dem Neuen in einer Generation, die nichts vom Alten gelten lassen will, bedeutet nichts weiter als: Hilflosigkeit gegenüber dem Neuen in einer sich rapide umwälzenden industriellen Gesellschaft. Hilflosigkeit sieht nach Kapitulation aus, vergleicht man sie mit der verflossenen sozialistischen Ideologie, die auf alles und jedes ihre Antworten parat hatte. Doch ist damit in Wahrheit nur ein Gebäude von sinnentleerten Schein-Antworten eingerissen worden. Nun ist zumindest der Ausblick frei.

Der freie, von doktrinären Systembauten unbehinderte Ausblick, die Verständigung zwischen Vertretern des rechten und des linken Flügels der Demokratie westlichen Stils kennzeichnen jene Gespräche, die der „Kongreß für die Freiheit der Kultur“ in Rheinfelden, Berlin und Wien über Grundfragen der industriellen Gesellschaft veranstaltet hat. Hierüber liegen nun drei Publikationen vor: die von Raymond Aron, George Kennan, Robert Oppenheimer und anderen bestrittenen „Colloques de Rheinfelden“ sowie „Colloques de Berlin — La Démocratie a l’épreuve du XXe siècle“ (Calmann-Lévy, Paris) und „A New Approach to Industrial Democracy“ von H. A. C!egg (Basil Blackwell, Oxford). Prominenz und Divergenz der Gesprächsteilnehmer eröffnen Perspektiven, die ansonst selbst dann verschlossen bleiben, wenn ein so authentischer Überblick dargeboten wird wie in den vorerwähnten Werken von Stucki und Klenner. Vor allem wird durch die Beiträge der afro-asiatischen Teilnehmer die weitere Sphäre der jungen, dem Kolonialstatus entwachsenen Nationen sichtbar, welche sich rund um die westliche Industriegesellschaft gruppieren und im dialektischen Wechselspiel deren Formen sowohl gutheißen wie in Frage stellen. Auch ohne leichtfertige Verallgemeinerung ergibt sich auf diese Weise eine weltumspannende Ideen-Kommunikation, bei der die westliche Welt ein Teilnehmer ohne Anspruch auf ein verbrieftes Wertmonopol ist. Im wohltuenden Gegensatz zu der bei Keller herrschenden Konfusion formuliert Raymond Aron:

Ich glaube keineswegs, daß der Westen eine homogene und absolute Einheit darstellt; er ist dies ebensowenig wie der Osten oder die sowjetische Welt. Anderseits entspringt die Organisation der Arbeit und ihre Rationalisierung durch die Wissenschaft — beides Lebensformen, die zu übernehmen die gesamte Menschheit im Begriffe ist — tatsächlich jener spezifischen Gesellschaftsordnung, die man, grob gesprochen, als europäisch oder westlich bezeichnen kann. Wenn man sich diese Tatsache in Erinnerung ruft und wenn man hinzufügt, daß die nichtwestlichen Nationen sich verwestlichen, so bedeutet dies, daß man eine historische Tatsache als solche vermerkt. Sie ist unbestreitbar, aber sie kann auf völlig neutrale Weise dargestellt werden, ohne zu implizieren, daß den westlichen Nationen auf Grund dieser Tatsache irgendwelche Überlegenheit zukomme oder daß ihre technisierte Gesellschaft etwa zum Glück der Menschheit führe. Möglicherweise führt sie stattdessen zu einer Katastrophe von apokalyptischem Ausmaß.

Die grundsätzliche Wert-Neutralität, deren sich die westliche Welt gegenüber ihren afro-asiatischen Partnern befleißigen soll, erwächst aus der grundsätzlichen Offenheit ihres Denk- und Gesellschaftssystems. Daß sie keine Bereitschaft zur Preisgabe der Eigenständigkeit bedeutet, ergibt sich schon aus der erfolgreichen Dynamik, mit der sich diese Gesellschaftsform über immer weitere Gebiete ausbreitet. Die Diskussion über die Zukunft der Industriegesellschaft ist daher ein Symptom ihres Wachstums, nicht ihrer Krise. Sie hat vor allem dadurch neue Impulse erhalten, daß erstmals der westliche Sozialismus fast ohne Einschränkung an ihr teilnimmt. Er hat sein Jahrzehnte altes Konzept des völligen Niederreißens der bestehenden und des völligen Neubaus einer zukünftigen Gesellschaft, wo nicht in der Theorie, so doch in der Praxis endgültig aufgegeben. Er ist nun Partner innerhalb des pluralistischen Gleichgewichtssystems der Industriegesellschaft. Das Gegensatzpaar in seinem politischen Denken lautet nun nicht mehr „Unterdrücker und Unterdrückte“, sondern „Regierung und Opposition“. Die Sozialisten haben damit, wie H. A. Clegg es formuliert, so etwas wie die Reifeprüfung der Demokratie bestanden:

Es ist ein Grundprinzip der modernen Demokratie, daß die Gefährlichkeit der Machtkonzentration durch die Begünstigung der Opposition vermindert werden muß. Wir begrüßen daher jenes Mehr-Parteien-System, das sich auf Grund der demokratischen Wahlmethode entwickelt hat, und zwar ohne Rücksicht auf unsere persönliche Stellung zu den einzelnen Parteien. Wahrscheinlich mißfällt uns die Politik dieser oder jener Partei, möglicherweise mißfällt uns sogar die Politik aller Parteien, aber in einem Punkt schätzen wir sie dennoch: Wenn es nur noch eine gäbe, würde es mit der Demokratie vorbei sein. Auch wenn ihr Ende nicht sofort käme, würde die Garantie ihrer Fortdauer fehlen. Daß sich die westlichen sozialistischen Parteien zu dieser Auffassung bekehrt haben, ist eines der Anzeichen für ihre Reife. In ihren jungen Jahren wollten sie eine Gesellschaftsordnung, in der politische Differenzen bedeutungslos werden und daher kein Raum für Parteien wäre. Meinungsverschiedenheiten über Fragen von grundsätzlicher Bedeutung hätten sich dann durch die allgemeine Akzeptierung des Sozialismus erledigt, und die übrigen Differenzen administrativer oder persönlicher Art wären ohne den schwerfälligen Mechanismus des Parteiensystems zu lösen gewesen. Heute bekennen sich fast nur noch die Marxisten zu dieser Ansicht. Die meisten anderen Sozialisten verwerfen sie und sind statt dessen der Meinung, daß die Opposition auch unter einer sozialistischen Regierung unentbehrlich sein wird und daß eine sozialistische Regierung ohne Opposition eine solche schaffen müßte, um die Korrumpierung des Sozialismus hintanzuhalten.

Der Korrumpierung des Sozialismus ohne ein Maß bürgerlicher Demokratie entspricht die Korrumpierung der bürgerlichen Demokratie ohne ein Maß des Sozialismus. Die Todfeinde von einst leben heute in einer Symbiose, in der jedes das notwendige Korrektiv des andern ist. Raymond Aron versichert in den „Colloques de Berlin“:

Gerade in den traditionellen Demokratien ist die Einmischung des Staates in die Wirtschaft weit gediehen, ohne daß die Stabilität ihrer politischen Institutionen im geringsten gefährdet worden wäre. Durch partielle Planung und partielle Verstaatlichung des Eigentums wurden die Demokratien eher gestärkt als geschwächt, denn dies hat dazu beigetragen, die Arbeitermassen für das demokratische Regime zu gewinnen.

Damit erscheint das Inventarium der Probleme, vor denen die westliche Industriegesellschaft steht, mit einiger Vollständigkeit aufgeführt. Es geht längst nicht mehr um die Industrialisierung an sich, ja nicht einmal um die von ihr geschaffene allgemeine Wohlstandsfülle — die ja erst die Voraussetzung ist für das eigentliche Mensch-Sein, für den Luxus der Freiheit, wie er sich im Widerstreit der Meinungen, im Spiel von Regierung und Opposition, von Machtfunktion und Kontrollfunktion entfaltet. Es geht auch nicht mehr darum, daß die Industrialisierung bis zur Automation fortgeschritten ist, bei der die Maschinen in den Fabrikshallen weitgehend unter sich bleiben; dies schafft nur eine Vermehrung der Wohlstandsfülle und damit eine (zumindest potentielle) Erweiterung des Freiheitsraumes. Vielmehr geht es darum, daß die Technisierung, welche den Grund zu immer größerer Freiheit legt, zugleich die Möglichkeit — und im Osten die Realität — immer größerer Sklaverei nach sich zieht.

Aber es hat sich gezeigt, daß die Umschaffung des Menschen durch die von ihm geschaffenen Maschinen nur die Schale und nicht den Kern des Mensch-Seins verändert. Selbst die perfekte Technokratie des Ostens hat nicht ausgereicht, den Freiheitsfunken in den menschlichen Herzen zu ersticken. Es gäbe nur eine einzige Maschine, die das könnte: jene Guillotine, die der Fürst Schwarzenberg als den Inbegriff der Maschinenwelt ansah. Und ganze Völker kann man nicht guillotinieren.

Bibliographie

  • K. A. Varnhagen von Ense/Friedrich Fürst Schwarzenberg: Europäische Zeitenwende, Tagebücher 1835-1860 (Langen-Müller, München)
  • Leo Trotzki: Geschichte der russischen Revolution (S. Fischer, Berlin)
  • Werner Keller: Ost minus West = null (Droemer’sche Verlagsanstalt, München)
  • Lorenz Stucki: Gebändigte Macht — gezügelte Freiheit (Schünemann Verlag, Bremen)
  • Fritz Klenner: Das große Unbehagen (Europa-Verlag, Wien)
  • Raymond Aron, George Kennan, Robert Oppenheimer etc.: Colloques de Rheinfelden (Calmann-Lévy, Paris)
  • Raymond Aron, François Bondy, George Kennan, Herbert Lüthy, Jayaprakash Narayan, Arthur Schlesinger jr., Carlo Schmid usw.: Colloques de Berlin — La Démocratie a l’épreuve du XXe siècle (Calmann-Lévy, Paris)
  • H. A. Clegg: A New Approach to Industrial Democracy (Basil Blackwell, Oxford)

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1960
, Seite 447
Autor/inn/en:

Günther Nenning:

Geboren 1921 in Wien, gestorben 2006 in Waidring. Studierte Sprachwissenschaften und Religionswissenschaften in Graz. Ab 1958 Mitherausgeber des FORVM, von 1965 bis 1986 dessen Herausgeber bzw. Chefredakteur. Betätigte sich als Kolumnist zahlreicher Tages- und Wochenzeitungen sowie als Moderator der ORF-Diskussionsreihe Club 2.

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